Weibliche Arbeitswelt in der Ukraine: Frauen auf den Traktor
Tausende Ukrainer sind an der Front und fehlen im zivilen Leben. Darum arbeiten jetzt verstärkt Frauen in einstigen „Männerberufen“.
Julia Nevidjuk, 16 Jahre
In der westukrainischen Stadt Kolki (Region Wolhynien) werden gerade 50 Mädchen und Frauen im Umgang mit Traktoren geschult, weil ihre Ehemänner oder Väter zum Militärdienst eingezogen wurden, sie aber zu Hause Ausrüstung und Land haben, das bewirtschaftet werden muss. Im örtlichen Berufsbildungszentrum ist auch Julia Nevidjuk anzutreffen. Sie ist 16 Jahre alt und lernt bereits im zweiten Jahr, einen Traktor zu fahren. Sie sagt, das sei ein Kindheitstraum.
„Jetzt in Kriegszeiten werden die Jungs mobilisiert. Da gibt es im Frühjahr niemanden für die Aussaat, und die Ernte wird im Herbst eingebracht. Wir jungen Frauen werden die Männer ersetzen, egal wie man das findet“, sagt Julia.
Wer, wenn nicht sie?
Darya, Auszubildende im zweiten Lehrjahr, wollte Schneiderin werden. Doch mit dem Beginn des Krieges hat sie sich umentschieden. „Manchmal werde ich gefragt: Warum hast du dir das ausgesucht? Vielleicht hättest du lieber Köchin werden sollen. Das passt besser zu einer jungen Frau als der Beruf Traktoristin. Aber wer, wenn nicht wir Frauen, muss jetzt anpacken? Meine Verwandten haben mich sehr unterstützt. Ich werde hier sein, um unser Land zu bearbeiten und Getreide für Brot anzubauen“, sagt Darya.
Manchmal kommen auch die Töchter von Wehrpflichtigen, um Traktor fahren zu lernen – sie ersetzen ihre Väter.
„Mädchen lernen leichter“, ist Juri Matwitschuk, rechte Hand des Meister, überzeugt. Er erinnert sich, dass es Frauen zu Sowjetzeiten aufgrund schädlicher Arbeitsbedingungen verboten war, eine Ausbildung zur Traktoristin zu absolvieren. Starke Vibrationen würden sich schädlich auf den weiblichen Körper auswirken, hieß es. Doch die Technik und die Anforderungen hätten sich seitdem verändert.
Berufsausbildung für alle Altersgruppen
Das Berufsbildungszentrum in Kolki verfügt über 36 Traktoren und ein Übungsgelände. Hier findet der praktische Unterricht statt. Jedes Jahr bilden ähnliche Einrichtungen in der Region bis zu 800 Fachkräfte aus. Doch der Bedarf an Menschen in diesem Beruf wächst ständig, da Wolhynien eine landwirtschaftlich geprägte Region ist.
Die Direktorin des Zentrums, Ljudmila Panasjuk, ist ebenfalls ausgebildete Traktoristin. Sie sagt, dass nicht nur Mädchen nach der Schule kämen, um Männerberufe zu erlernen, sondern auch ältere Frauen, deren Männer jetzt im Krieg seien.
„Viele Landwirte aus meiner Region sind bereits im Krieg: 300 Menschen aus 13 Dörfern. „Das sind Besitzer landwirtschaftlicher Betriebe und ihre Arbeiter“, sagt Ruslan Chomytsch, Vorsitzender des Bauernverbandes der Region Wolhynien.
Er erinnert an den sogenannten Witwenpflug – eine alte Tradition in der Ukraine, bei der im Frühjahr die Menschen im Dorf denjenigen Frauen bei der Bestellung ihrer Felder halfen, die auf ihre Ehemänner aus der Armee warteten. Oder Witwen, die im Krieg ihre Männer verloren hatten.
Männermangel in Landwirtschaft, Baugewerbe und Industrie
Aufgrund der Mobilisierung von Männern gebe es nicht nur im Agrarsektor, sondern auch im Baugewerbe und in der Industrie Personalmangel, sagt Ewgenia Kuzenkowa, Herausgeberin des Jobportals Work.ua, in einem Interview mit Liga. In diesem staatlichen Infoportal sind statistische Daten zu verschiedenen Bereichen zu finden.
Für einen Geschäftsmann ist es sehr schwierig, Elektro- und Gasschweißer, Mechaniker, Elektriker oder Fahrer zu finden. Daher beschäftigen Arbeitgeber Frauen zunehmend in Positionen, die für sie bisher untypisch waren – auch unter Tage oder als Elektrikerin. Um den Fachkräftemangel zu überwinden, investieren Unternehmen in die Umschulung von Frauen, aber auch der Staat ist an der Finanzierung von Ausbildungen beteiligt.
Früher gab es in der Ukraine etwa 450 Berufe, in denen Frauen aufgrund schwieriger und schädlicher Arbeitsbedingungen nicht tätig sein durften, insbesondere in der Metallverarbeitung, im Baugewerbe und im Eisenbahnverkehr. Seit 2017 ist in der Ukraine die Geschlechtertrennung für Berufe abgeschafft, Klischees über rein „weibliche“ und „männliche“ Berufe bestehen jedoch weiter.
Der Krieg räumt mit diesen Stereotypen nach und nach auf. Die Wirtschaftsministerin, Julia Sviridenko, sagte, dass seit 2023 immer mehr Frauen in der Industrie, im Baugewerbe und im Bergbau arbeiteten. Sie prognostiziert, dass die meisten Frauen in der Ukraine nach dem Krieg im Energiesektor, im Transportwesen und in der Waffenproduktion tätig sein werden.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“