Wegweisender G20-Prozess in Hamburg: Dabei gewesen sein ist alles
Reicht das Marschieren mit Gewaltbereiten, um für deren Taten verurteilt zu werden? Ein G20-Prozess in Hamburg klärt diese Frage.
Gegen Halil K., Can N. und die gerade erst volljährig gewordenen Roni S. und Khashajar H. beginnt an diesem Dienstag vor der Jugendkammer des Hamburger Landgerichts ein Strafverfahren aus dem G20-Komplex, das – egal wie es ausgeht – Rechtsgeschichte schreiben dürfte. Die Anklageschrift, die Staatsanwalt Tim Paschkowski vorträgt, offenbart warum.
Den vier Angeklagten wirft er vor, am 7. Juli 2017 während des Hamburger G20-Gipfels an einem Aufmarsch von 220 größtenteils vermummten und dunkel gekleideten Personen teilgenommen zu haben, aus dem heraus zahlreiche Straftaten begangen wurden. Obwohl die zahlreichen Videoaufnahmen, die als Beweismittel vorliegen, keinen Hinweis darauf liefern, dass einer der vier jungen Männer eigenhändig Schaufensterscheiben eingeworfen, Autos in Brand gesetzt oder Steine geschleudert habe. Allein durch ihr Mitmarschieren hätten sie den Gewalttätern „psychische Beihilfe“ geleistet. Somit sei ihnen jede einzelne aus der Menge begangene Straftat – die insgesamt mehr als eine Million Euro Schaden verursacht haben sollen – rechtlich zuzuordnen.
Für die Staatsanwaltschaft ist der Aufmarsch eindeutig keine Demonstration, deren TeilnehmerInnen unter dem Schutz des Versammlungsrechts stehen. Vielmehr habe es bei allen rund 220 TeilnehmerInnen „einen gemeinsamen Tatentschluss“ gegeben, zu zerstören, also die Verabredung zu Straftaten. Diese seien durch „gewollt arbeitsteiliges Zusammenwirken“ verübt worden. Mit dieser Rechtsauslegung ordnen die Ankläger den Angeschuldigten nicht nur alle Straftaten zu, die während ihrer physischen Teilnahme an dem Umzug verübt wurden, sondern auch die, die geschahen, nachdem die vier den Aufmarsch wohl bereits verlassen hatten.
„Dimension der Taten“
Was das nach ihrer Rechtsauslegung bedeutet, hat die Staatsanwaltschaft bereits im Vorfeld deutlich gemacht: Als im Rahmen einer Entscheidung über die Haftverschonung für die zwei älteren Beschuldigten die Jugendkammer die vorläufige Rechtseinschätzung äußerte, die Angeklagten hätten mit Haftstrafen von höchstens drei Jahren zu rechnen, reichte das den Anklägern, die Ablehnung des Gerichts wegen Befangenheit zu beantragen.
Die Kammer habe, so die Ankläger, „die Dimension der Taten“ vollständig aus den Augen verloren; angemessen sei bei vorläufiger Beweiswürdigung vielmehr eine Strafe von sechs bis zehn Jahren Haft. Ohnehin kämpft die Staatsanwaltschaft mit harten Bandagen: Sie lehnte nicht nur – erfolglos – die Kammer ab, sondern beantragte auch – diesmal erfolgreich – die Aufhebung der vom Gericht wegen der Komplexität und voraussichtlichen Verfahrensdauer angeordneten Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers pro Angeklagtem.
Die stark abweichende Rechtsauffassung der verbliebenen VerteidigerInnen erläuterte in einem „open statement“ Anwältin Gabriele Heinecke. Die Anklageschrift spreche selber von „mehreren gewaltbereiten Beteiligten“, also nicht davon, dass alle Marschierer militant waren. Keinem der vier hessischen Angeklagten werde „vorgeworfen, eigenhändig Straftaten begangen zu haben“, vorliegende Videosequenzen gäben keinen Hinweis darauf, dass sie die „Straftaten auch nur gebilligt“ hätten.
Zudem liefere das Videomaterial Hinweise darauf, dass sie die Demo schon nach wenigen Minuten wieder verlassen hätten. Der Aufmarsch an der Elbchaussee erfülle zudem – vom Transparent bis hin zur Formation – „alle Attribute einer Demonstration“, stehe somit unter dem Schutz des Versammlungsrechts, dass friedliche und unfriedliche TeilnehmerInnen genau voneinander unterscheidet.
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