: Weg aus der Stille
In der nordjapanischen Provinz Akita, einst von der Suizidkrise geprägt, brechen Aktivist:innen das jahrzehntelange Schweigen und stoßen mit ihrer Präventionsarbeit einen Wandel an
Aus Akita Martin Fritz
Dumpfe Trommeln, helle Flöten – ihre Klänge füllen zum viertägigen Kanto-Fest die Hauptstraße von Akita, einer Stadt mit 300.000 Einwohnern in der gleichnamigen Region hoch im Norden Japans. Kanto heißt „Stange mit Laternen“. Rund 200 Träger balancieren Bambusstangen mit bis zu 46 leuchtenden Laternen – auf Händen, Schultern, Stirn. Die abendlichen Umzüge ziehen jedes Jahr über eine Million Besucherinnen und Besucher an.
Die dunkle Seite von Akita kennen heute nur noch wenige: Nach der Jahrtausendwende nahmen sich dort jährlich über 500 Menschen das Leben – mehr als in jeder anderen Region Japans. Eine stille Epidemie hinter verschlossenen Türen. Hinterbliebene schwiegen, hielten Fälle geheim. Suizid galt als Schwäche, nicht als ehrenhaft wie der rituelle Tod der Samurai.
Einer der ersten, die dem lautlosen Sterben nicht länger zusehen konnte, war Hisao Sato. Mit stämmiger Statur, einem verschmitzten Lächeln und dem melodischen Akita-Dialekt strahlt er sofort Zugänglichkeit aus, als er in seinem Büro sitzt – nur einen Steinwurf entfernt von der Festumzugsstraße. Als seine Immobilienfirma mit drei Angestellten im Jahr 2000 pleiteging, dachte er an Suizid – wer in Japan scheitert, trägt einen schweren sozialen Makel davon.
Dann schlug seine Depression in Zorn um – ein befreundeter Unternehmer hatte sich nach seiner Insolvenz verzweifelt ins Meer gestürzt: Sato suchte den Gouverneur von Akita auf, erzählt der 82-Jährige mit schlohweißem Haar. „Die Bürger in Akita sterben. Darum müssen Sie sich kümmern“, verlangte er. Die Antwort war ernüchternd: „Das ist schwer zu leisten, wir können das nicht“, erinnert sich Sato an die Worte des Politikers. Sato ließ nicht locker. „Wenn niemand es tut, dann mache ich es“, sagte er sich. Er gründete einen Verein. Den Zweck „Suizidprävention“ gab es noch nicht, also meldete er ihn unter „gesellschaftlicher Beitrag“ an. Den Namen wählte er aus einer Fabel: „Kumonoito“, Spinnenfaden. Darin lässt der Buddha einen silbernen Faden in die Hölle hinab, um einen Verbrecher zu retten, der einst eine Spinne verschonte. Doch der will den Faden nicht mit anderen Verdammten teilen – er reißt, alle bleiben verloren.
Die Lehre: Wer nur an sich denkt, verhindert am Ende die eigene Rettung. Danach handelte Sato. Der Anfang war zäh. „Suizid war ein völliges Tabu“, sagt er. Selbst seine Frau war gegen sein Engagement. „Suizid ist Sache der Ärzte – was willst du da tun?! “ Sato diskutierte nicht. Er fing an, in einem gemieteten Zimmer Menschen mit Suizidgedanken zuzuhören – erst Kleinunternehmern in der Krise wie er, dann anderen. Intuitiv tat Sato das Richtige. „Der suizidale Mensch, der lange mit sich ringt, sucht ein Gegenüber, das ihn hört, versteht und hält“, schreibt der Therapeut Claudius Stein.
Zur gleichen Zeit stiegen die Suizidzahlen in Akita und auch japanweit innerhalb weniger Jahre um mehr als die Hälfte. Ein wesentlicher Grund waren Jobverluste und Pleiten, die durch hohe Schulden während der Spekulationsblase Ende der 1980er Jahre ausgelöst wurden.
Politik und Gesellschaft konnten nicht mehr wegsehen. Kinder und Jugendliche, die ein Elternteil durch Suizid verloren hatten, meldeten sich öffentlich zu Wort. Bürger sammelten Unterschriften und schrieben Politiker an. Nach einer Anhörung verabschiedete das Parlament 2006 parteiübergreifend ein Präventionsgesetz. Es leitete einen grundsätzlichen Wandel ein.
„Die Werteinstellungen änderten sich allmählich“, erinnert sich Sato. Beamte, Fachleute, Bürger betrachteten Suizide nicht mehr als privates Schicksal. Prävention wurde zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. „Diese Einschätzung gab meinem Verein Rückhalt. Was ich machte, war nun staatlich anerkannt.“ Die Regierung brach nun das Schweigetabu, veröffentlichte jährlich ein Weißbuch, erklärte den März zum nationalen Aktionsmonat – mit Veranstaltungen zur Aufklärung und Prävention.
Rund 200.000 Menschen qualifizieren sich jährlich als „Gatekeeper“, eine zentrale Säule der Prävention. Die Behörden übernahmen das englische Wort „Türwächter“ ins Japanische. Lehrkräfte, Ärzt:innen, Sozialarbeiter:innen und andere Fachkräfte lernen in staatlich organisierten Seminaren, gefährdete Personen zu erkennen, zuzuhören, sie weiterzuleiten und zu begleiten. Auch Bürger:innen können zu Gatekeepern werden, um Anzeichen von Depression und Warnsignalen in ihrem Umfeld besser wahrzunehmen. Mehrere Millionen Japaner:innen haben diese Kurzausbildung bereits absolviert.
Die Anstrengungen von Staat und Gesellschaft wirkten. Gegenüber dem Höhepunkt von 2003 sank die Zahl der Selbsttötungen in Japan um über 40 Prozent auf rund 20.000 – stärker als der globale Abwärtstrend, in der Nordprovinz Akita sogar um fast 60 Prozent auf rund 200.
Hisao Sato hat mit seinem „Spinnenfaden“ ein Hilfsnetz gesponnen. Wer sich bei seinem Verein meldet, trifft nicht nur auf ehrenamtliche Zuhörer, sondern auch auf Mediziner, Psychologen, Juristen und andere Fachleute. „Die Gründe für einen Suizid unterscheiden sich nach Geschlecht, Alter, Beruf“, sagt Sato. „Eine einzige Organisation kann das nicht bewältigen, Kooperation ist das Schlüsselwort. “ So entstand das „Akita-Modell“ der Prävention. Es wurde zum Vorbild für andere Regionen.
Während der Weg der Suizidprävention in Akita verschiedene Facetten hatte, begann auch der Orden des Tentoku-Ji, eines 300 Jahre alten buddhistischen Tempels im Norden der Stadt, sich mit dieser drängenden Thematik auseinanderzusetzen. Unter dem, kürzlich erneuerten Strohdach ruft ein Metallgong die Zen-Mönche der Soto-Schule zum Essen. Vor mehr als zwei Jahrzehnten befasste sich der Orden mit der Palliativmedizin und der Pflege von Sterbenden. Als man die Häufigkeit von Suiziden in Akita erkannte, gründete Mönch Shunei Hakamada den „Verein zum Nachdenken über Herz und Leben“.
Der 67-Jährige trägt eine braune Tempelrobe, die Glatze ist rasiert, er spricht freundlich und präzise. Damit Verzweifelte durch Reden aus ihrer Isolation finden, eröffnete er den Kaffeesalon „Yottetamore“ („Bleiben Sie bei uns“) – einen gemütlichen Ort der Begegnung. „Hier trinkt man nicht einfach Kaffee und liest sein Lieblingsbuch“, betont Hakamada. „Man unterhält sich, erzählt, lacht zusammen.“ Die einzige Regel: Man muss miteinander sprechen.
Das Angebot zielt besonders auf Männer – sie begehen bis heute den Großteil der Suizide. „Vermutlich spielt der gesellschaftliche Stolz der Männer eine große Rolle“, sagt der Mönch. Die Angst, sich in den Augen anderer womöglich lächerlich zu machen und vermeintlich Schwäche zu zeigen, lässt viele ihre Probleme in sich hineinfressen. Um sie aus der Reserve zu locken, um sie zum Reden zu bringen, betrieb er neben dem Salon bis zur Pandemie auch eine Kneipe.
Anfangs stieß Hakamadas Idee im Orden auf Skepsis. Man fürchtete den Werther-Effekt – benannt nach Goethes „Leiden des jungen Werther“. Die Romanfigur erschießt sich aus unglücklicher Liebe; nach der Veröffentlichung des Werks Ende des 18. Jahrhunderts soll es Nachahmer gegeben haben. Also sprach man lieber nicht offen über Suizid. Diese Haltung gilt heute als überholt. „Der Bruch des Tabus und das gemeinsame Nachdenken haben dazu beigetragen, Suizide zu verhindern. Die Zahl derer, die einsam leiden, ist gesunken, weil mehr Menschen bereit sind, ihnen die Hand zu reichen“, sagt der Mönch.
Einige Expert:innen führen die hohe Suizidrate in Akita auf die höchste Alterung im Land und die starke Landflucht zurück. Auch das raue Klima mit langen, schneereichen Wintern und die wortkarge Mentalität der ländlichen Bewohner:innen könnten eine Rolle spielen. Hakamada sieht jedoch die Veränderung der menschlichen Beziehungen als Ursache: Früher waren die Dorfbewohner:innen aufgrund des gemeinsamen Reisanbaus aufeinander angewiesen, doch heute könne jeder für sich allein leben.
„Damals war die Haltung stark, niemandem zur Last zu fallen, damit die Dorfgemeinschaft funktionierte. Daher töteten Leute sich lieber selbst, als andere mit ihren Problemen zu belasten“, erklärt der Mönch. Heute sei es andersherum – trotz vieler Gatekeeper. „Viele Menschen wollen nicht, dass ihnen jemand zur Last fällt und suchen sich nur nützliche Kontakte.“ Diese Mentalität will er ändern. „Ziel meiner Aktivitäten ist, die menschlichen Beziehungen neu zu denken: dass es in Ordnung ist, anderen auch einmal zur Last zu fallen, dass wir in einem gegenseitigen ‚Zur-Last-Fallen‘ leben“, sagt Hakamada. „In einer solchen Gemeinschaft kann man eher aussprechen, was man mit sich herumträgt. Wir wollen das Klima, die seelische Kultur eines Ortes, verändern. Und in diesem Prozess sind wir noch mittendrin. “
Das Vorbild wirkte: Heute gibt es in allen 25 Städten und Gemeinden der Provinz Akita dank freiwilliger Helfer solche Treffpunkte zur Suizidprävention. Auch das Ende der damaligen Wirtschaftskrise trug sicher zur sinkenden Zahl der Selbsttötungen in Japan bei; die ökonomische Stabilisierung weckte neue Hoffnungen. In absoluten Zahlen gibt es in Japan jährlich 14.000 Selbsttötungen weniger als auf dem Höhepunkt vor 22 Jahren – 14.000 gerettete Leben jedes Jahr.
Shunei Hakamada, Mönch
Sprachlosigkeit überwinden, einander stützen: Auch Hinterbliebene stehen nach Suiziden vor diesen Aufgaben. Sie leiden an Trauer und Schuldgefühlen. Taeko Watanabe kniet vor ihrem Hausaltar in einem Einfamilienhaus am östlichen Rand von Akita. Sie schlägt die Klangschale, dann eine kleine Trommel. Der Besucher kniet neben ihr, zündet ein Räucherstäbchen an. „Es ist jemand gekommen“, sagt die 78-Jährige wie zu sich selbst. Die Worte gelten ihrem toten Sohn, der sich mit 29 Jahren das Leben nahm. Sein Foto steht auf dem Altar.
„Es war am 3. März, dem Tag von Hina Matsuri, dem Mädchenfest. Im Flur fand ich Blutspuren, die zum Zimmer von meinem Sohn führten. Ich klopfte an und fragte: Geht es dir nicht gut? Aber das Zimmer war leer. Auf dem Bett lagen ein blutverschmiertes Küchenmesser und ein Abschiedsbrief. Mir wurde ganz schwarz vor Augen. “
Jeden Vormittag kocht Watanabe sieben, acht kleine Gerichte, abends Fisch oder Fleisch, und stellt sie in kleinen Tellern auf den Altar. „Und dann lasse ich ihn und die anderen Ahnen essen“, sagt sie. Die hagere Seniorin trägt eine große Brille, einen modischen Pullover, wie viele japanische Rentner färbt sie sich die Haare schwarz. Nach dem Tod ihres Sohnes kam ihr die Idee, sich mit anderen Hinterbliebenen auszutauschen. Der offenere Umgang mit Suiziden, seitdem das Präventionsgesetz verabschiedet worden war, ermutigte sie.
Anfangs lud die kleine Gruppe Experten ein, die Vorträge hielten. Doch das war nicht, was die Trauernden brauchten. „Die meisten Teilnehmer:innen sagten: Am besten heilen wir, wenn wir zusammensitzen und reden“, erinnert sich Watanabe. Reden über die psychische Belastung, die Medikamente, die viele nehmen, und über das Warum. „Man steckt in einem stockfinsteren Tunnel“, sagt sie über jene, die zum ersten Mal kommen.
Ursprünglich traf sich die Gruppe monatlich, inzwischen alle drei Monate. Der Termin steht im Internet. Mal kommen zehn, mal 15 Betroffene. Die Treffen lindern Verzweiflung und verhindern wohl auch Nachfolgetaten. „Manche glauben, die Hürde zum Sprechen sei hoch, aber sie verlassen das Treffen mit einem Lächeln“, sagt Watanabe.
Eine andere Gruppe von Freiwilligen in Akita bietet „achtsames Zuhören“ für einsame und verzweifelte Menschen an. Einmal im Monat organisiert die Zuhörergruppe, Danbo no Kai, einen öffentlichen Salon im Besucher- und Einkaufszentrum Alve am Hauptbahnhof von Akita. Dort sind wir verabredet. Die Gruppe will Isolation überwinden und dunkle Gedanken vertreiben, erzählt die Gründerin Sumiko Saito, eine sympathische Frau in den Fünfzigern. Ihr Ansatz: „aktives Zuhören“.
„Wir verneinen nichts, was wir hören, wir widersprechen nicht. Wir sagen: ‚Verstehe.‘ – ‚Das war schwer für Sie.‘‘ Dies fördert den Wunsch, sich anzustrengen und zu leben.“ Die 30 speziell ausgebildeten Zuhörer:innen folgen dem Prinzip: „Mit dem Herzen hören und mit dem Herzen aufnehmen.“ Zusätzlich zum monatlichen offenen Salon besuchen sie Altenheime und machen Hausbesuche. „Es geht darum, das Gefühl zu wecken: ‚Ich will leben, ich will weiterkämpfen.‘“ Jährlich kommen Hunderte Einsätze zusammen, die wohl manche Suizide verhindert haben.
Und dann ist da noch die Rolle der Medien. Auch hier war Akita Vorreiter. Die größte regionale Tageszeitung, „Akita Sakigake“, erkannte die Bedeutung des Präventionsgesetzes und beschloss, den Suizid aus dem Dunkeln ans Licht zu holen. Shinichi Yoshida, einer der beteiligten Redakteure, erinnert sich an die interne Debatte. „Wir hatten uns klar vorgenommen, dass wir für die Verzweifelten und die Hinterbliebenen schreiben“, sagt er bei einem Gespräch im Verlagsgebäude.
Die Verantwortlichen in der Redaktion begründeten ihren Tabubruch mit dem Papageno-Effekt. Die Hauptfigur von Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ verzweifelt an ihrer Liebe zu Papagena und will sich erhängen, ist aber noch unschlüssig, den Strick in der Hand. Drei Knaben hören den Hilferuf und halten Papageno von der Tat ab. „Sei klug! Man lebt nur einmal, dies sei Dir genug“, rufen sie ihm zu.
In diesem Sinne druckte die größte Zeitung von Akita Geschichten über Auswege aus Suizidgedanken, nannte konkrete Anlaufstellen und Beratungsangebote, organisierte öffentliche Gesprächsforen in allen Kommunen, ging erstmals in die Schulen. „Viele Menschen wählen den Tod nicht aus freier Entschlossenheit, sondern fühlen sich in die Enge getrieben“, erkannte Yoshida damals. Die Kampagne, die bis heute läuft, wirkte spürbar. „In Akita wird Suizid nicht mehr tabuisiert“, sagt er. „Es ist nicht so, dass die Menschen aktiv darüber reden wollen – aber es ist möglich geworden. “
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