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Wasser trinkenDie Religion der Hydration

„Trink Wasser“ war früher ein guter Rat – heute tragen Menschen ihre Trinkflaschen wie Heiligtümer. Wann ist aus einem Bedürfnis ein Fetisch geworden?

Immer mehr Ärzte geben zu, dass kaum ein Mensch zwei Liter Wasser am Tag braucht Foto: Maryam Majd/reuters

Z um Glück ist die Hitzewelle erst mal vorbei. Das folgende gesellschaftlich heikle Thema kann nur bei gemäßigten Temperaturen angegangen werden. Um einem Sturm der Entrüstung vorzubeugen, stelle ich vorauseilend klar:

Es ist wichtig, während der Hitzetage genug zu trinken. Und wahrscheinlich ist es auch angebracht, dass wir alle täglich in allen Medien darauf hingewiesen werden. Es kann ja durchaus sein, dass es Leute gibt, ältere Menschen, die davon noch nichts gehört haben, oder eben daran erinnert werden müssen. Ich gebe zu: Wasser trinken ist bei großer Hitze wichtig.

Trotzdem bestehe ich darauf, dass „Wasser trinken“ in den letzten Jahren zu einer Art Religion für die jüngeren Generationen geworden ist. Sie haben auch bei kühlem Wetter ständig Angst zu verdursten. Man sieht sie in den Fernzügen, wie sie zerkratzte 3-Liter-Plastik-Wasserflaschen wie einen Schatz auf ihren Schößen hüten. Einmal habe ich einen jungen Mann gesehen, dessen im Rucksack integrierte Wasserflasche die Flüssigkeit mit einer Schlauchvorrichtung direkt in seinen Mund führte.

In einem klimatisierten Bekleidungsgeschäft sah ich letztens einen jungen Mitarbeiter – an seinem breiten Gürtel ein Karabinerhaken und daran eine 5-Liter-Wasserflasche. Bei Autofahrten mit 40-Jährigen muss man ständig anhalten, weil das überflüssige Wasser, das sie zu sich nehmen, ständig wieder ausgeschieden werden muss.

Das Wassertrinken – ist es nur ein Ausdruck des Selbstoptimierungswahns, ist es eine Mode oder schon eine Sucht? Vielleicht hilft ein Blick zurück in die70er Jahre.

Allgegenwärtige Dehydrophobie

Wir haben früher nie Wasser getrunken, noch nicht mal beim Sport, und wir hatten auch keinen Durst. Bei uns auf dem Dorf trank kein Mensch Wasser, nie. Die Männer tranken bei der Feldarbeit, zum Beispiel beim Heuaufladen in der Augusthitze, vielleicht mal ein Bier oder zwei. Wobei Extremhitze damals 30 Grad bedeutete.

Aber der Klimawandel ist nicht schuld an der Wassersucht. Der ganze Wasser-Unsinn begann in den 90er Jahren, als die Supermodels statt Handtaschen ständig ein neues stranges Accessoire mit sich führten: die Wasserflasche einer französischen Marke. Cindy Crawford, Claudia Schiffer, Linda Evangelista flöteten in die Kamera: Mein Geheimnis? Ich trinke viel Wasser!

Damals wurde das Narrativ in die Welt gesetzt, für gutes Aussehen müsse man nur genügend Wasser trinken. Dieser Unsinn hat zur heute weit verbreiteten Dehydrophobie, der Angst auszutrocknen, geführt.

Inzwischen lassen sich die Wasser-Junkies schon mit Apps ans Wassertrinken erinnern – denn wenn man Durst hat, ist es oft schon zu spät! Was kommt als Nächstes? Lassen sie sich nachts einen Tropf legen – denn wer schläft, kann nicht trinken?

Immer mehr Ärzte geben zu, dass kaum ein Mensch zwei Liter Wasser am Tag braucht. Vergebens. Gegen den Wasser-Lifestyle kommen sie nicht an, es steckt zu tief drin. Die Boomerin aber weiß, dass jede Mode mal vorbeigeht. Eines Tages werden auch die fanatischsten Wassertrinkerinnen über sich selbst lachen.

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5 Kommentare

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  • Ach herrlich ;-) Die Autorin spricht mir aus der Seele (ok medizinisch gibt es gute Gründe auch ohne Selbstoptimierungswahn deutlich mehr Wasser zu trinken, als es frühere Generationen getan haben). Aber dass inzwischen viele glauben, dass sie in Lebensgefahr kommen, wenn sie nicht alle 100m an ihrem Fläschchen nuckeln...

  • Hey, was für ein klasse Artikel. Ich kann das nur unterstützen. Trinken ist sehr wichtig, aber in Deutschland wird niemand verdursten.



    Frau Rösinger beschreibt das perfekt: Die Trinkflasche immer dabei zu haben ist eben hipp.

  • Interessant. Mir war zuvor schon mehrfach aufgefallen, dass ältere Personen die Stirn runzeln oder sich gar aufregen über „diese furchtbaren Wasserflaschen überall“. Ich habe das bisher eher auf eine sozialisationsbedingte Abneigung ggü. Essen und Trinken „to go“ geschoben, was ja so aus 1950er/60er-Sicht schon ziemlich proletarisch ist. Kein Geld, um sich ins Café zu setzen oder wenigstens in den Wienerwald, und so.

    Bei Kritik an Selbstoptimierungswahn bin ich immer mit dabei. Allerdings habe ich nach Möglichkeit auch eine kleine Wasserflasche im Alltag dabei. Schon allein, weil ich das Gefühl - und vor allem den Geruch! - eines ausgetrockneten Mundes nicht mag.

    A

  • Da ich regelmässige ausgedenhte Outdooraktivitäten mache weis ich seit meinen 20er Jahren, wie es sich anfühlt kein Wasser mehr bei sich zu haben und zu Dursten. Seiden führe ich meistens mindens 1 Liter Wasser bei mir, bei längeren Aufenhalten in der Natur 2-3 Liter.



    Das ist auch keine Religion oder Mode das mache ich seit 20 Jahren so...Wasser ist Leben!

  • Ich trinke, wenn ich Durst habe und das ergibt, reiner Zufall, tatsächlich etwa 2 Liter am Tag. Es wird wohl bei jedem Menschen auf eine etwas andere Menge kommen, wir sind halt verschieden.



    Und ich fühle mich tatsächlich wohler, wenn ich viel trinke. Allerdings habe ich das Flaschen schleppen schnell aufgegeben, zu lästig und zu viel Platzwegnahme im Rucksack. Ich kaufe mir lieber irgendwo irgendwas, wenn ich unterwegs bin, muss kein Wasser sein. Bin ein Verschwender, ich weiss.

    Aber die Religion der 2 Litermarke hat mich nie gestreift. Wann und warum es dazu gekommen ist? Warum wird heute Alles, egal was, zu Dogma u. Religion? Weil es im Internet o. sonst der Werbung irgendwer hypt und die Generationen nach uns Boomern nunmal gegen Hypes kein Immunsystem entwickelt haben, null. Insbesondere die Millenials nicht. Schreib "Gesundheit" drauf u. "Hält jung" u. die Leute kaufen Alles. Wirklich, ehrlich Alles.

    Besser so als gar keine Binnennachfrage, sage ich immer. Man muss auch an die Wirtschaft denken.