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Was wir Christian Lindner verdankenChaos für die deutsche Streberseele

Deutschland hat das Image, immer korrekt zu sein. Mit dem Ende von Jamaika ist das Zeitalter der Planbarkeit vorbei. Das ist gut so.

Ist da jemand peinlich berührt, dass ihm die taz dankt? Foto: dpa

Es gibt in Deutschland, man kann es kaum glauben, eine Verordnung für Heckenhöhen, für den Bau von Sandburgen und für die Überprüfung von Grabsteinen. Hier wird nun wahrlich nichts dem Zufall überlassen. Die deutsche Bürokratie, der deutsche Staat ist der Inbegriff von Planbarkeit, von Vorhersagbarkeit, von Zuverlässigkeit. Bis zum letzten Sonntag. Das Ende der Jamaika-Sondierungsgespräche, da waren sich alle politischen Analysten schon vor Beginn einig, sei unbedingt zu verhindern. Es sei gefährlich, hieß es an mancher Stelle sogar. Und nun das. Das Chaos ist mit aller Macht in Deutschland ausgebrochen.

Zuverlässig, effizient und effektiv, ihren Erfolg verdanken die Deutschen oft diesen drei Eigenschaften. Die Deutschen waren lange Zeit stolz, genau das zu sein. Ihre Seele war die eines Strebers. Der immer alles richtig machte. Der nicht zu viel hinterfragte. Der „keine Experimente“ wagte, wie die CDU im Wahlkampf 1957 versprach. Diszipliniert und vorsichtig. Man kann Christian Lindners Stil kritisieren, die Art und Weise, wie er die Gespräche platzen ließ, gut oder schlecht finden. Man muss ihn weiß Gott auch nicht mögen. Aber ich bin ihm dankbar.

Es gibt nur wenige deutsche Wörter, die es in den englischen Sprachgebrauch schafften. Eines davon ist die German Angst. Die Deutschen, auch wenn es ihnen objektiv gut geht, haben ziemlich schnell ziemlich große Angst. Eigentlich immer, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Es ist vor allem eine Angst vor Veränderung. Die Aufgabe von Planbarkeit. Die erbitterte Erkenntnis, dass nichts vorhersehbar ist. Die German Angst wird oft mit der deutschen Geschichte erklärt, damit, dass die Deutschen in zwei Weltkriegen alles verloren hätten, sie beschreibt eine Art traumatisierte Volkspsyche. Diese Angst ist weit über die Grenzen Deutschlands berühmt. Wie traurig das ist, darüber muss man nun wirklich nicht viele Worte verlieren.

Während der Weltwirtschaftskrise 2007 und 2008 blieben die Deutschen erstaunlich ruhig. Das lag natürlich an Angela Merkel, die mit ihrem Finanzminister Peer Steinbrück vor die Presse trat und erklärte: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.“ Und es funktionierte. Roger Cohen, der Berlin-Korrespondent der New York Times, schrieb damals in der Süddeutschen: „Die Welt steht Kopf – die Lage ist fürchterlich, aber die Deutschen sind glücklich!“ Von der deutschen Angst schien nichts mehr übrig zu sein. Wir Deutschen waren plötzlich etwas, was uns immer fremd war, peinlich sogar. Nie konnten wir uns lockermachen. Der Gipfel der Entspanntheit war für uns der casual friday – und selbst den hatten wir von den Amerikanern übernommen. Beim Zusammenbruch der Lehman Brothers aber blieben wir cool. Die Urangst der Deutschen schien wie weggeblasen.

„Das kann er doch nicht machen“

Angela Merkel sorgte dafür, dass sich der Streber sicher fühlte, während um ihn herum die Welt in Unordnung geriet. Mitte 2013, kurz vor ihrer dritten Amtszeit, schrieb Dirk Kurbjuweit im Spiegel von einem zweiten Biedermeier: Die Deutschen sitzen zu Hause, lesen Landlust und sind matt einverstanden mit ihrer Kanzlerin.

Nicht umsonst nennen wir die oberste Frau im Staat – und je länger man darüber nachdenkt, umso verrückter kommt es einem vor – Mutti. Ist das degradierend? Glorifizierend? Vielleicht beides? Am Ende ist es vor allem eines: ziemlich sicher. Das mag der Streber. Mutti ist auch etwas patriarchalisch. Viel diskutiert wird bei ihr nicht. Auch dagegen hat der Streber nichts.

taz am wochenende

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In den Jahren der politischen Erschütterungen, in denen die Welt kopfstand, der Terror in Paris ankam, Theresa May den Brexit verkündete, die Amerikaner Trump wählten, gab es lange Zeit immerhin Mutti. Sie beruhigte den Streber. Und jetzt hat ausgerechnet der Strebsamste, den es in der deutschen Parteienlandschaft gibt, Christian Lindner, gewagt, ihr zu widersprechen.

„Das kann er doch nicht machen“, rufen jetzt alle. Aber ganz ehrlich: Warum nicht? Macht er sich strafbar? Verhält er sich nicht verfassungkonform? Nein. Das ist Demokratie.

Endlich Unordnung und Chaos

Und: Es ist der ganz normale Wahnsinn der modernen Welt. Wir bekommen Kinder mit unserem besten Freund, wir arbeiten mit unseren Laptops von Bali, Thailand oder Buenos Aires aus, wir gründen mit 60 Jahren Unternehmen, wechseln alle zwei Jahre unsere Jobs, und wenn wir mögen, auch unser Geschlecht. Überall werden Grenzen gesprengt, wird an Tabus gerüttelt. Nichts ist mehr planbar.

Es wurde Zeit, dass endlich auch ins politische Berlin Bewegung, Unordnung und Chaos kamen. Ausgerechnet Christian Lindner hat an dieser letzten Bastion der Verlässlichkeit gerüttelt. Auf Mutti, auf den deutschen Staat, die deutschen Parteien kann man zählen, dachte der Streber bis Sonntag.

Die Krise der Regierungsbildung ist auch eine Identitätskrise. Was ist der Deutsche, wenn nicht mehr der Streber? Ein Streber zu sein, kann ziemlich gemütlich sein: Keine Fragen zu stellen. Kein Risiko einzugehen. Doch leider hat die moderne Welt keine Lust mehr auf den Streber. Das Zeitalter der Planbarkeit ist auch in Deutschland vorbei. Es lebe das Chaos! Das muss nun endlich auch der Streber kapieren – und sich neu erfinden. Vielleicht geht er jetzt dreimal wählen. Vielleicht lebt er monatelang ohne eine Regierung. Vielleicht führt ihn die Minderheit. Es ist ein Experiment, aber er wird es schaffen. Ganz sicher. Danke, Christian Lindner.

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14 Kommentare

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  • Zu Peter Unfried und seinem Verhältnis zu Lindner.

     

    Schon seit einiger Zeit muss ich genießen, wie sich Unfried an Lindner ranschmeißt: Unfrieds Kurzbeiträge auf der 2. Seite der Samstagsaufgaben enden regelmäßig mit Lobhudeleien auf Linder, den "kleinen Messias", wie dieser sich selbst genüsslich nennen lässt. Ich habe den Eindruck: Da schmeißt sich ein ins Alter gekommener Chefreporter an einen jungen forschen/feschen Polit-Star ran. Vgl. auch seine euphorische, nie wirklich begründete Begeisterung für Macron. Soviel Distanzlosigkeit gegenüber dem "kleinen Demagogen", tut weh.

  • Seh schon - da strebt noch was ~>

     

    "Es irrt der Mensch solang er strebt...."

     

    Ja, das hatte ich auch schon erwägt, einzuwerfen.

    Beginnt ja mit der Wette zwischen Meph und "Dem Herrn"

    (hört man immer wieder gern):

     

    "Was wettet Ihr, den sollt Ihr noch verlieren,

    wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt,

    ihn meine Straße sacht zu führen."

     

    "Solang er auf der Erde lebt,

    solange sei´s Dir nicht verboten.

    Es irrt der Mensch, solang er strebt..."

     

    Und Kubicki als Mephistopheles, das hätte schon was.

    (Schließlich nannte er Jürgen Dubbeldu Möllemann

    nach dessen harter Landung seinen besten Freund)

     

    Auch heißt bei Faust es kurz vor Schluss,

    als schon der Teufel Ruhe geben muss,

    verkündet durch der Engel Schar

    mit himmlischem Halleluja:

     

    "Wer immer strebend sich bemüht,

    Den können wir erlösen. "

     

    Ja - "können" - Dess. Säht die Alleinseeligmachende auch immer!

    Wie willste auch sonst ohne Hütehunde sone Herde Gläubische zusaame halde!

    No. Auch wieder wahr!

  • Na bitte - Noch ist nicht aller Tage Abend

    &

    Morgen ist auch noch ein Tag - frisch aus dem Beutel -

     

    "Auf den Bühnen dieser Welt

    Wird alles auf den Kopf gestellt.

    Ich hab da eine Schnapsidee:

    Wir nehmen Geld der KfW

    Und spielen Lindners Meisterstück.

    "German Angst kommt jetzt zurück."

    Dies Werk der Chaostheorie

    Verzichtet gänzlich auf Regie.

    Es braucht auch keine Melodie:

     

    Zappellindner (musste gar nicht viel ändern;)

     

    „Ob der Christian heute still

    wohl artig unterschreiben will?"

    Seht, so mahnt in ernstem Ton

    Die Mama auf dem Balkon.

    Und die Kathrin blicken stumm

    Und der Kretschmann weiß, warum.

     

    Doch der Christian höret nicht,

    Was der Wähler zu ihm spricht.

    Er gaukelt

    Und schaukelt,

    Er trappelt

    Und zappelt

    In den Medien hin und her.

    Das gefällt Frau Tutmann sehr.

     

    Seht Ihr, liebe Wähler, seht

    Wie`s mit Lindner weitergeht:

    Zwar hebt ihn Unfried auf den Schild,

    Doch Christian schaukelt gar zu wild.

    Da ist nichts mehr, was ihn hält -

    Nicht Spiegel, Focus, Bild noch Welt.

    Nach dem Tischtuch greift er, schreit -

    Doch was hilft`s? Zu gleicher Zeit

    Fallen Teller, Fleisch und Brot.

    Kretschmann ist in großer Not,

    Und die Mutti blicket stumm

    Auf dem ganzen Tisch herum.

     

    Zwar ist der Tisch nun abgedeckt,

    Doch Lindners Chaos ist perfekt.

    Was der Strrreber essen wollt`

    Unten auf der Erde rollt.

    Suppe, Brot und alle Bissen,

    Alles is herab gerissen.

    Suppenschüssel ist entzwei

    Und die Streber stehn dabei.

    Alle sind gar zornig sehr,

    Haben nichts zu Essen mehr."

     

    Danke. Schön gesagt.

    &

    kurz - "Es irrt der Mensch - solang er strebt!"

    Si´cher dat. Da mähtste nix.

    Normal.

    • @Lowandorder:

      Vielen Dank für dieses Schmankerl!

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Gefällt mir der Text, Demokratie ist ein gutes Stück Lebenskunst und man kann vom Leben nicht erwarten, dass immer alles gleich beim ersten mal funktioniert. Auch Scheitern will gelernt sein und mit einem 'Spielverderber' wie Lindner umzugehen, erst recht.

     

    Ich glaube die Kritiker, die hier schon gepostet haben, nehmen die Sache mit dem Chaos etwas zu wörtlich. Die Krise ist immer die Möglichkeit zur Veränderung. Die Frage ist, ob SPD, Grüne und Linke sie nutzen und aus ihrem schlechten Abschneiden bei den letzten Wahlen lernen. Da sehe ich eher das Problem und das Chaos, nicht in der verfehlten Mehrheitsbildung.

    • 8G
      81622 (Profil gelöscht)
      @85198 (Profil gelöscht):

      "...ob SPD, Grüne und Linke sie nutzen und aus ihrem schlechten Abschneiden bei den letzten Wahlen lernen"..was heisst das denn genau? Die Grünen und die Linken haben nicht schlecht abgeschnitten, die sind gleichgeblieben...von CDU und SPD sind die Leute zur FDP und AFD gepilgert, vor allem wegen Sozialneid gegenüber Geflüchteten. Die FDP hat bei diesem Thema die CSU dann noch rechts überholt, stramm in Richtung FPÖ...soll das nun das "demokratieförderndes" Chaos sein ...eine "Stragegie des Chaos" verfolgten ja schon die Logia2- Faschisten in Italien, um einen Militärputsch herbeizubomben (Bologna Attentat). Mit solchen wirren Fantasien sollte man schön vorsichtig sein "in Zeiten der Cholera" (= Rechtsextremismus und Nationalismus).

  • Liest sich eher wie eine Lobhudelei für ein dringend benötigtes Korrektiv bedient ausgerechnet durch Lindner dem Brandbeschleuniger des Turbokapitalismus....

  • 8G
    81622 (Profil gelöscht)

    "Das Zeitalter der Planbarkeit ist auch in Deutschland vorbei. Es lebe das Chaos!", was soll denn der Schwachsinn? ...dann ruft doch gleich " AFD an die Macht", dann gibts genug Chaos!

  • "Und: Es ist der ganz normale Wahnsinn der modernen Welt. Wir bekommen Kinder mit unserem besten Freund, wir arbeiten mit unseren Laptops von Bali, Thailand oder Buenos Aires aus, wir gründen mit 60 Jahren Unternehmen, wechseln alle zwei Jahre unsere Jobs, und wenn wir mögen, auch unser Geschlecht. Überall werden Grenzen gesprengt, wird an Tabus gerüttelt. Nichts ist mehr planbar."

     

    All das, was die Autorin da beschreibt betrifft wirklich nur ein Bruchteil der Bevölkerung und ist so "Leben" wie GZSZ.

     

    Lindner? Haaartransplantate, gerichtete Zähne, Drei-Tage-Bart und die gleichen locker-flockigen Sprüche wie bei einem Bullshit-Bingo einer Unternehmensberatung.

  • Er hat nicht "der Kanzlerin wiedersprochen" bzw. das hat er ja bereits im Wahlkampf ständig.

     

    Er hat die Kanzlerin und seine Verhandlungspartner bei der Sondierung verarscht. Das wird ihm vorgehalten. Mangelnder Anstand - Unehrlichkeit etc.

     

    Aber auch daran kann man natürlich etwas positives finden - wenn man will. Wie auch am Chaos, dann gibts endlich schlechte Nachrichten über die man dann schreiben kann.

     

    Man kann auch dankbar dafür sein, dass sich Misst zum düngen eignet obwohl er stinkt - kann man, muss man aber nicht.

    • @Grisch:

      Kein Inhalt aber viel Hass in Ihrem Beitrag. Klassenfeind Lindner? Oder persönlich betroffen?

      • @Sebastian Wagner:

        Hass wo?

         

        Als Unternehmensberater bin ich es eben gewohnt Klartext zu reden...

  • Immer wieder kann ich mich nur wundern, zu welch abstrusen Ansichten die Medienhonks kommen.

    Mein Bild meiner Mitmenschen hat weder grosse Sorgen um das Scheitern von Jamaika noch sonstige German Angst gezeigt. Der Artikel enthält nichts als blödsinnig überzogenen Unfug, der in der selbstbezogenen ständigen Widerspiegelung von Medienartikeln durch andere Medienartikel verbreitet wird.

    Diese tragische Blase verursacht viele unserer Probleme.

  • "Vielleicht geht er jetzt dreimal wählen"

     

    Na bitte geht doch - das wird -

    Gionanni di Lorenzo mit Interesse hören.

    Im Chaos ist noch Luft nach oben!

    Wurde ja auch mal - ZEIT.

     

    (ps - Wer hier die geistigen Hände

    An welchen Nähten hat - laß ich mal offen - gell!

    kurz - krude Küchentischpsychologie!;)