Was ist „Clankriminalität“?: „Ein ganz großer Chancenraub“
Mohammed Chahrour ist Mitherausgeber des Buchs „Generalverdacht“. Ein Gespräch über Razzien in Shisha-Bars und den „Mythos Clankriminalität“.
taz: Herr Chahrour, es gibt in Berlin einen bekannten Clan Ihres Namens. Haben Sie manchmal Ärger deswegen?
Mohammed Ali Chahrour: Oft sogar. Kürzlich war ich im Roten Rathaus eingeladen und kurz danach war ich im Abgeordnetenhaus. Beide Male bin ich an der Sicherheitsschleuse auf meinen Nachnamen angesprochen worden. Auch wenn ich reingekommen bin, waren das merkwürdige Interaktionen.
Wie haben Sie reagiert?
Ich kann das einordnen, aber junge Menschen können das nicht, für sie ist es schwieriger, mit solchen Konfrontationen umzugehen. Gegen dieses Stigma anzugehen, ist für mich persönlich eine große Motivation gewesen bei unserem Buch. Ich habe eine Tochter, der ich meinen Nachnamen gegeben habe – da fühle ich eine Verantwortung, dass ich diese deutsche Debatte irgendwie zurechtrücke.
Mohammed Ali Chahrour, 29, hat Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität studiert und arbeitet bei Reachout als Antirassismus-Berater. Außerdem hat er 2019 die Initiative „Kein Generalverdacht“ mitgegründet. Zusammen mit Levi Sauer, Lina Schmid, Jorinde Schulz und Michèle Winter hat er das Buch „Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird“ herausgebracht. Erschienen ist es in der Edition Nautilus (ISBN 978-3-96054-328-2), hat 320 Seiten und kostet 22 Euro.
Sind Sie mit diesem Chahrour-Clan verwandt? Oder ist Chahrour so häufig wie Müller?
Die Chahrours sind kein Clan. Wir sind keine homogene Gruppe von Menschen, die einem Patriarchen unterstehen und gemeinsam Straftaten planen und begehen.
Das habe ich nicht gemeint!
Ja, aber so ist der Clan-Begriff heute gemeint. Es gibt vielleicht irgendwo einen geteilten Ur-Ur-Ur-Opa, es gibt sehr viele Chahrours auf der Welt. Aber ich weiß nicht, ob ein gemeinsamer Vorfahr die Annahme rechtfertigt, dass wir jetzt eine Großfamilie, ein „Clan“ sind. Ich kenne gerade noch meinen Cousin zweiten Grades, den ich aber auch nur alle zwei Jahre sehe. Das ist nicht viel anders als bei deutschen Familien.
Was haben Sie bei der Arbeit an dem Buch Neues gelernt?
Da gibt es einiges, weil wir wirklich viele starke Autor*innen aus verschiedenen Disziplinen haben. Zum Beispiel habe ich aus dem Text von Simin Jawabreh gelernt, wie das Polizieren in Sachen Clankriminalität funktioniert.
Das was, bitte?
Mit Polizieren ist eine soziale Praxis gemeint, die das staatliche System am Laufen hält. Alle Menschen werden poliziert, die einen auf eine erdrückende und die anderen auf eine zugehörige Art und Weise. Die Polizei poliziert im klassischen Sinne, dabei werden öffentliche Räume und bestimmte Gruppen von der Polizei stigmatisiert und kriminalisiert. Aber auch andere Behörden, wie etwa das Jobcenter, polizieren. Man kann auch sagen, dass Polizei und andere Behörden eingesetzt werden, um gewissen Gruppen zu begegnen, sie zu „bearbeiten“. Dazu sollte man wissen, dass das in einer kolonialen Tradition steht.
Was hat das mit Kolonialismus zu tun?
Weil als Erstes Kolonialisierte poliziert wurden, bevor diese Praxis in das koloniale Zentrum gewandert ist. Das Polizieren, wie wir es in Europa kennen und wie es rassifizierte Gruppen erleben, ist eine Praxis, die in den Kolonien entstand. Damit wollten die Kolonialherren die dortige Bevölkerung in Schach halten. Heute findet das immer stärker Anwendungen in Bezug auf Gruppen, die hier als nicht weiß gelesen werden oder in einem national ethnischen Kontext nicht „deutsch“ sind.
Der Untertitel Ihre Buchs heißt „Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird“. Von wem und warum wurde dieser Mythos erfunden?
Der Begriff ist in der Polizeiarbeit entwickelt worden. Es gibt aus Polizeikreisen und von Ausländerbehörden seit Anfang der 2000er Jahre Bemühungen, gegen die damit beschriebenen Gruppen vorzugehen, sie abzuschieben und so weiter. Kriminalistisch ist „Clankriminalität“ kein großes Thema: Wenn wir uns das Phänomen kriminologisch anschauen, betrifft es 0,1 bis 0,6 Prozent der Massenkriminalität in Deutschland. Die Spannbreite kommt daher, weil wir von 16 Bundesländern sprechen, also 16 Landeskriminalämtern, 16 verschiedenen Polizeistatistiken. In Berlin liegt der Wert bei 0,18 Prozent.
Also nur 0,18 Prozent aller Straftaten in Berlin haben – polizeilich gesehen – einen Clankriminalität-Hintergrund?
Genau, und das „polizeilich gesehen“ ist wichtig. Denn es ist völlig intransparent, wie dieser Marker „Clankriminalität“ vergeben, was genau darunter subsummiert wird. Die Berliner Polizei behauptet ja immer, dass sie das nicht unter rassistischen Kriterien tun würde. Aber wir wissen, es gibt diese namensbasierten Ansätze, wo alle Vorkommnisse mit Menschen, die einen bestimmten Nachnamen haben, als „Clankriminalität“ gezählt werden – auch, wenn es nur ums Falschparken geht.
Warum wurde der Mythos erfunden, wenn er real fast keine Rolle spielt?
Ich würde es nicht eine Erfindung nennen. Es ist etwas Altes, ein subtiler und latenter Rassismus, den es in der Gesellschaft einfach gibt. Wir merken das ja jetzt auch in unserem aktuellen Diskurs, dass verschiedenste Problemlagen – Mangel an Kitaplätzen, an Wohnraum etwa – auf die Geflüchteten zurückgeführt werden. Ebenso ist die Idee, dass Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft in besonderer Art und Weise kriminell sind. Ein alter rassistischer Hut, der zwar schon oft wissenschaftlich widerlegt wurde, aber dennoch immer wieder recycelt wird. Wir sprechen jetzt nicht mehr von den „kriminellen Ausländern“ sondern von „kriminellen Clans“ – deswegen sprechen wir von einem Mythos. Gemeint sind mehrheitlich muslimisch gelesene Gruppen und Roma.
Bei Clans denkt man nicht unbedingt an Roma, oder?
Ja, das war auch mir neu – auch so eine Sache, die ich durch unser Buch gelernt habe, durch den Text von Guillermo Ruiz, der mittlerweile Geschäftsführer der neuen Melde- und Informationsstelle für Antiziganismus (MIA) ist. Im Allgemeinen meint man mit „Clankriminalität“ vor allem bestimmte muslimisch und kurdisch gelesene Gruppen aus dem Libanon. Man schreibt ihnen eine gewisse Kriminalitätsaffinität, mangelnde Integrationsbereitschaft und anderes zu. Besonders problematisch ist, dass dieser Begriff aus der Polizeiarbeit völlig ohne entsprechende Einordnung in den öffentlichen Diskurs geraten ist. Niemand stellt die Frage: Unter welchen Bedingungen sind diese Menschen hergekommen? Was für Startchancen hatten sie? Was ist der Anteil institutioneller Diskriminierung?
Sie selbst haben ein Kapitel geschrieben namens „Identität unter Generalverdacht“, in dem es um einen Zusammenhang von „Clankriminalität“ mit Kettenduldungen und anderen aufenthaltsrechtlichen Problemen gibt. Wie sehen Sie den Zusammenhang? Weil eine Gruppe von Geflüchteten über Jahre nicht arbeiten durfte, sind Teile von ihnen kriminell geworden?
Ja und nein. Das ist gar nicht so falsch beschrieben. Das hat diese Entwicklung auf jeden Fall befördert. Für mich steht die sogenannte Clankriminalität in einer rassistischen Kontinuität mit den Hürden und der Kriminalisierung, die diese Gruppen bereits mit ihrer Ankunft in Deutschland erfahren haben. Diese Gruppen bekamen kein Asyl, sondern nur Duldungen, die immer wieder verlängert wurden, weil man sie als Staatenlose nicht abschieben konnte, zudem war im Libanon bis 1990 Bürgerkrieg. Sie bekamen nur Sachleistungen, also das, was heute viele wieder für Asylbewerber fordern. Sie durften über Jahre und Jahrzehnte nicht arbeiten, es gab keine Schulpflicht, die Wohnsitznahme war eingeschränkt. Es waren also unglaublich schwierige Umstände.
Mit welchen Folgen?
Das war ein ganz großer Chancenraub, der politisch bewusst so entschieden wurde in den 80er Jahren und aus meiner Sicht heute mit der sogenannten Clankriminalität fortgesetzt wird. Man hat diese Gruppen an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und als „Illegale“ kriminalisiert, man wollte sich mit ihnen nicht weiter befassen. Dass dann ein Bruchteil von ihnen kriminell wurde, ist keine kulturelle oder ethnische Veranlagung, sondern Folge ihrer systematischen institutionellen Diskriminierung. Heute haben dieselben Gruppen auf Grund des Clanstigmas weiterhin Probleme auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt.
Im Buch werden ja auch die Verbundeinsätze kritisiert, besser bekannt als „Großrazzien“ von Polizei, Zoll, Ordnungsämtern. Was ist das Problem?
Für die Betroffenen ist es unglaublich stigmatisierend – ganze Straßenzüge kommen in Verruf. Und viele Geschäfte, die immer wieder kontrolliert werden, haben dadurch krasse Umsatzeinbußen. Zudem gibt es bei Betroffenen ein Gefühl von Willkür, denn immer geht es gegen „migrantische“ Geschäfte. Dazu kommt: Diese Polizeirazzien sind eigentlich Gewerbekontrollen, und es gibt die Kritik von Polizeiwissenschaftler*innen und Strafrechtler*innen, dass es nicht rechtens ist, immer die Polizei dazuzurufen. Das kann man mal machen, wenn man meint, man kann die Gewerbekontrolle sonst nicht durchführen. Aber a priori in bestimmten Gegenden wie der Sonnenallee immer mit Polizei zu kommen und dann noch Medien einzuladen, das riecht nach Verunglimpfung. Dritter Kritikpunkt: Die Razzien sind sehr viel Aufwand für wenig Ergebnis. Es werden ja meist nur Ordnungswidrigkeiten festgestellt.
Warum macht man das dann?
Weil Politik gut funktioniert als „governing through crime“, das ist wissenschaftlich gut untersucht. Es ist ein Einfaches für die Exekutive und für Regierende zu zeigen, dass sie etwas tun, wenn sie die Polizei nutzen und sich selber in Szene setzen als angebliche Kämpfer gegen die organisierte Kriminalität. Damit werden vor allem Wähler im konservativen und rechten Spektrum mobilisiert. Dabei geht es oft nur um „unversteuerten“ Shisha-Tabak – was eigentlich ziemlich lustig ist.
Wieso?
„Unversteuert“ suggeriert ja etwas Hochkriminelles. Aber das Problem ist, dass man in Shisha-Bars lange gar nicht umhinkam, „unversteuerten“ Tabak zu verkaufen. Shisha-Tabak wurde nämlich über Jahre nur in 500-Gramm- oder 250-Gramm-Packungen abgepackt und versteuert. Aber in einen Shisha-Kopf passen nur 25 bis 40 Gramm. Trotzdem durften Shisha-Bars theoretisch nur ganze Packungen verkaufen, eine kleinere Menge galt laut Tabaksteuergesetz als „unversteuert“. Aus demselben Grund dürfen Tabakgeschäfte auch keine einzelnen Zigaretten verkaufen.
Also begehen Shisha-Bars zwangsläufig ein Steuerdelikt?
Ja, das ist ja der große Humbug! Die Tabaksteuer wurde inzwischen angepasst, darauf gehen wir im Buch auch ein. Seit Anfang 2023 gibt es nur noch 25-Gramm-Packungen, die sind versteuert und können also weitergegeben werden an die Kunden, es gibt keine Probleme mehr. Nur hat die Politik auch dies wieder gemacht, ohne die Betroffenen einzubeziehen. Shisha-Tabak wird nämlich in Deutschland auch viel fürs Ausland produziert. Aber dort gibt es wieder andere Bestimmungen und fürs Ausland ist es unsinnig, 25-Gramm-Pakete zu machen. Aber jetzt sind nur noch diese erlaubt.
Das war also ein Scheingefecht gegen die Shisha-Bars?
Ja, da wurde ein ganz großes Schreckgespenst aufgebauscht und Angst in der Bevölkerung erzeugt. Und man kann nicht oft genug betonten, dass sich die betroffene Bevölkerungsgruppe nicht gut wehren kann, weil viele von ihnen schlicht kein Wahlrecht haben. Sie können diese Politik nicht einfach abwählen! Anders herum gefragt: Warum werden zum Beispiel nicht die Kneipen in Süd-Neukölln kontrolliert, die bekanntermaßen Treffpunkte von Neonazis sind? Meine Vermutung: Das ist deutsches Terrain.
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