Was einen guten Gastgeber ausmacht: Natural Born Kellner
In der Gastronomie hat ein guter Freund unseres Autors seine Berufung gefunden. Eine Liebeserklärung an ihn – und an die hohe Kunst des Servierens.
Zeit für eine Geschichte, die ich gerne vergessen würde: 2006, Fußballweltmeisterschaft. Ich war glücklich darüber, in der zweitbesten Kneipe der Welt arbeiten zu dürfen. Das Kellnern gefiel mir. Überall Menschen, die meisten gut gelaunt, der Geruch der Spülmaschine hinter der Theke, die Show, wenn man Cocktails macht, das Schwätzen, das Trinkgeld, die Frauen und das Flirten, die Nächte, und auch die Ruhe, wenn es draußen wieder hell wird und man selbst die Stühle hochstellt.
Ich lebte den Traum eines 17-Jährigen – bis ich mit zwei Freunden zu tief ins Glas schaute und betrunken eine Kiste Bier zum Privatverbrauch aus dem Lager holte. Mein Chef hat es gesehen, mich danach zwar nicht angezeigt, aber rausgeworfen. So ging meine Kneipenära zu Ende, ohne das Handwerk und die psychologischen Feinheiten des Kellnerberufs zu erlernen. Schade, denn bis heute fasziniert er mich.
Denn Kellner ist ein unheimlich schöner Beruf. Man bekommt Geld dafür, andere Menschen glücklich zu machen. Dabei ist man nicht einfach nur ein Tellertaxi oder jemand, der Essen von A nach B befördert. Jeder, der gesehen hat, wie am Tisch gearbeitet wird, wie tranchiert, filetiert, flambiert, mariniert, dekantiert wird, kann das nachvollziehen.
Zugleich richtet schlechter Service einen Laden nachhaltiger zugrunde als schlechte Küche. Klar, miserables Essen ist auffällig, es wird vom Gast unmittelbar und möglicherweise lauthals abgestraft. Darauf kann ein Restaurant aber direkt reagieren. Der Servicetod vollzieht sich dagegen schleichend, quasi „en passant“. Und das alles entspringt nicht meinen eigenen Gedanken. Das hat mir mein lieber Freund beigebracht: der Born.
Eine Notlösung, die zur Berufung wird
Bei der Gastlichkeit gibt es einmal das Gefühl, und dann gibt es das Handwerk. Das Gefühl ist dem Born angeboren und das Handwerk hat er von der Pike auf gelernt. Er machte seinen Hauptschulabschluss und gammelte danach rum. Wie für so viele andere war die Gastronomie auch für ihn zunächst eine Notlösung. Das Arbeitsamt hatte den Born nämlich in eine Maßnahme gesteckt, wo er dann geblieben ist.
Im Koblenzer Forsthaus Remstecken lernte er, die Menschen auf ihrem individuellen Berauschungs- und Genusspfad zu begleiten. Er lernte, welchen Wein er wann anbietet. Ja, einen Lehrgang zum Sommelier hat er auch gemacht, ihm glaube ich es sogar, wenn er mir etwas Kluges über die Aromen eines Cabernets erzählt. Ansonsten nervt mich dieses Glasschwenkertum mit Geschwätz nämlich.
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Der Born lernte auch, zu welchem Essen er lieber ein Bier reicht, und wann er Gästen vielleicht doch mal ein Glas Wasser oder einen Espresso hinstellt, damit der Abend nicht zu schnell vorbei ist. Mittlerweile ist er über zwanzig Jahre in seinem Beruf und hat sogar schon Angela Merkel bedient. Seine Erfahrung hilft ihm dabei, die abendliche Zielsetzung des Gastes abzuwägen. Er wurde zu einem echten Gastgeber.
Treffe ich den Born, begrüßt er mich mit einem fetten Schmatzer auf die Backe und einem rheinisch akzentuierten: „Tach, Schnucki, alles fit?“ Schreibe ich ihm auf Whatsapp, „Trinken wir später noch 2-3 Bier?“, antwortet er: „23 schreibt man ohne bindestrich du affe!“ Ich kenne ihn seit der Kindheit. Dass er kein Akademiker wird, wusste man damals schon. Seine Bildung steckt ganz tief in seinem Herzen. Ich frage ihn, ob er mir bei einer Feier helfen kann – er kalkuliert alles durch, wählt den Käse aus, drapiert ihn in meiner Küche zu einer imposanten Käseplatte mit Feigen, Cocktailtomaten, Grünzeug und Walnüssen, und währenddessen schiebt er erst mir, dann dem bettelnden Hund ein Stück Bergkäse mit Feigensenf in den Mund. Am nächsten Morgen steht er ungefragt da und putzt, lange bevor ich wach bin.
So einer ist der Born. Und dafür liebe ich ihn. Und weil es in meinem Kopf noch immer ein Widerspruch ist, dass sich dieser Typ so natürlich in der Welt der Schönen und Reichen bewegt, schaue ich ihm gern bei der Arbeit zu, wenn er eine Forelle filetiert, Crêpes Suzette flambiert oder ein Beefsteak Tatar anmacht. Das alles ist ihm nicht fremd, weil er nicht nur Gäste, sondern auch seinen Beruf liebt.
Da ist ein Tisch, daran eine Gruppe von drei Menschen, die Arroganz der wahrlich Sieggewohnten liegt in ihrem Blick. Look: Casual Chic. Die Männer, beides Pomadenhengste mit zurückgegelten Haaren, tragen gutsitzende Jeans, gebügelte Hemden in Blau und Weiß, Blazer drüber, einer gar mit Einstecktuch. Die Frau trägt ein blaues Kleid mit weißen Punkten, darunter gelbe, offene, hohe Schuhe.
Die ungeschriebenen Gesetze des Servierens
Die Anzahl drei ist schon mal gut. Denn ab dem vierten Gast, das erklärt mir der Born, braucht er einen weiteren Kellner. Höchstens drei Teller nimmt er gleichzeitig, auch wenn er sofort in der Lage wäre, sieben Speisen gleichzeitig zu tragen – so wie die Bedienungen auf dem Oktoberfest auch ein Dutzend Maßkrüge tragen können. Aber das hier ist alte Schule: Er setzt sein Pokerface auf, eine Form der Diskretion, und taxiert seine Gäste ganz genau, ohne sich das anmerken zu lassen. Wer ist die „ranghöchste“ Person? Wer ist der Gastgeber? Alles Fragen, die wichtig sind bei der Kunst des Servierens.
Denn es gibt Regeln, sagt der Born. Die ranghöchste Dame wird zuerst bedient, weiter geht es mit dieser Reihenfolge: alle anderen Damen im Uhrzeigersinn, der ranghöchste Herr, die anderen Herren, zum Schluss der Gastgeber oder die Gastgeberin. In diesem Fall war das die Frau. Sie bekommt einen bunten Salat mit karamellisiertem Ziegenkäse, dazu Weißwein. Die Männer trinken Bier zu Backhendl und Schnitzel. Born bringt das Essen, reicht es von rechts. Er sagt irgendwas. Sie lachen.
Born ist den feinen Gästen ebenbürtig – für komplexbeladene Kleingeister ist das nichts. Sie tun das als Arroganz ab. Aber es gibt sie, die Kundschaft, die akzeptiert, dass in der gehobenen Gastronomie nicht nur die Speisen Geld kosten, sondern auch das Personal. Es war in einem Restaurant in Andernach, in dem einst der Kellner zu mir sagte: „Clemens, das Essen haben wir dir geschenkt. Du musst nur meinen guten Service bezahlen.“
Und das leuchtet mir ein. Wenn ich guten Service möchte, muss ich dafür zahlen, ansonsten kann ich anstatt des leckeren, cremigen, fast öligen Espressos auch an den Kaffeeautomaten gehen. Guter Service sollte so selbstverständlich sein wie die Stundenlöhne von Automechanikern. Deswegen gebe ich für guten Service auch gutes Trinkgeld. So belohnt man die richtigen Leute, wie den Born. Von den Typen und der Frau hat er 25 Euro bekommen.
Er schwebt wie ein Balletttänzer
Die nächste Szene. Eine Frau mit grünem Pullover, Kleid und erstklassigen Schuhen bestellt sich Rouladen, gefüllt mit geschmelzten Zwiebeln, Gürkchen, Speck und dazu Kartoffelpüree. Und, was soll ich sagen? Beim Hantieren mit den Tellern und den Gläsern folgt der Born einer ausgefeilten Choreografie, er schwebt wie ein Balletttänzer auf der Bühne. Die Art und Weise, wie er das Tablett balanciert, beweist, dass es genauso zu ihm gehört wie der Arm, der es trägt. Es hat etwas Spielerisches und Schwungvolles, ja, ich meine darin sogar Musik zu entdecken. Auf der einen Seite erkennt man in dieser Präzision einen Showact, und andererseits bewegt er sich dabei so unaufdringlich, dass man ihn ganz schnell übersehen könnte.
Und jetzt: Feierabend. Wir gehen zum Born nach Hause. Seine Freundin Julie öffnet uns die Tür, wir setzen uns an den runden Wohnzimmertisch. Er zeigt mir, was er auf dem Flohmarkt gefunden hat. „Weißt du, was das ist?“, fragt er mich, laut, weil er immer laut spricht, die Augen voller Begeisterung, und er hält mir ein Ding aus Aluminium vor die Nase. Es erinnert ein bisschen an eine Sauciere. „Das ist für Salzstangen!“ Ich bestaune innerlich, wie er sich dafür begeistert. Eine Quelle der ewigen Momenthingabe, an der ich mich gerne labe. Dann sagt Julie einen Satz, der mich aus meinen Gedanken holt: „Schatzi, wir haben kein Bier mehr.“
Ja, sie sagt wirklich Schatzi, und das ist nicht kitschig, das ist genauso natürlich wie die folgenden Worte: „Ja, ich wollte gleich noch was holen.“ – „Nee, das kann ich doch gerade machen. Bleibt mal schön sitzen.“
Das ist nicht nur nicht kitschig, das ist auch nicht chauvinistisch. Das ist Liebe. Auch Julie kommt aus der Gastro und es bereitet ihr eine Freude, anderen Menschen eine Freude bereiten zu dürfen. Das ist das Perpetuum mobile, das die Gastfreundschaft für immer antreibt.
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