: Eine klassische VW-Wolfsburg-Familie
Wie die Modlers führten auch der Autokonzern Volkswagen und die Stadt Wolfsburg eine Ehe, von der beide Seiten profitierten – bis der Konzern sich auf krumme Touren einließ. Doch noch hält die Stadt zu ihm
Aus Wolfsburg Simone Schmollack
Treue wird belohnt. Im Supermarkt gibt es Treuepunkte, für 25 Jahre Mitgliedschaft in einem Verein die Silberne Ehrennadel. Und in Wolfsburg eine Fahrt mit dem VW-Bähnle – das immer ganz klassisch mit einem Käfermotor angetrieben wird.
Das kommt nicht von ungefähr. Wolfsburg ist „die Autostadt“. Dort hat der immer noch weltgrößte Automobilkonzern Volkswagen seinen Stammsitz, sein legendärstes Modell ist der Käfer. 124.150 Einwohner zählt Wolfsburg, eine mittelgroße Stadt im östlichen Niedersachsen dicht an der Grenze zu Sachsen. 60.000 Frauen und Männer arbeiten hier am Standort bei VW, die meisten kommen aus der Stadt. In jeder Wolfsburger Familie gibt es jemanden, der „bei VW“ ist.
Einer von ihnen war Manfred Modler. Bis zu seiner Rente 1993 war der mittlerweile 81-Jährige im Werk angestellt, 36 Jahre lang, zunächst als Arbeiter im Ersatzteillager, später in der Finanzabteilung. Er war der „VW-Buchhalter der ersten Stunde“, wie Konzernsprecher Torsten Cramm sagt. Und heute, an einem sonnig-warmen Julitag, wird Modler in einem VW-Käfer-Bähnle durch Wolfsburg direkt an seinen alten Arbeitsplatz im VW-Werk fahren.
Die Fahrt ist eine Art Treuegeschenk. Nicht nur für Modler allein, auch für seine Frau Helga, heute 83: Zur Diamentenen Hochzeit der beiden haben VW, Wolfsburg und die beiden Töchter des Ehepaars dafür gesorgt, dass das Bähnle wieder „flott gemacht“ wurde.
Vor 60 Jahren sind die Modlers schon einmal damit durch Wolfsburg gerauscht, damals war der Käfer ihre „Hochzeitskutsche“, und sie waren das erste Brautpaar, das sich mit dem Wagen in die Kirche fahren ließ. VW und Wolfsburg haben nicht nur die Ehe der Modlers begleitet. Konzern und Stadt haben auch eine eigene gemeinsame Geschichte, die einer solchen Ehe gleicht. Nur dass beide auch zusammen groß geworden sind.
VW in Wolfsburg, Amazon in Seattle, Gaesa in Havanna – Unternehmen können nicht nur markt-, sondern auch stadtbeherrschend sein. Sie zahlen Gewerbesteuer, bieten Beschäftigung, sorgen sich ums Image des Standorts. Das ist ambivalent: Was ist, wenn hausgemachte Krisen, politische Entscheidungen wie Energie- und Mobilitätswende, Megatrends wie Digitalisierung die Interessen der Firmen verändern? In unserer Serie „Unternehmen. Macht. Stadt“ untersuchen wir Beispiele für diese schwierige Beziehung.
Bisher erschienen: Urbanist Hans Hermann Albers über Stadt und Wirtschaft (17. 7.).
Dort, wo heute auf 1,6 Quadratkilometern Produktionshallen in der Sonne liegen, durchzogen von 75 Kilometern werkseigenem Straßennetz, drei werkseigenen Buslinien, unzähligen Parkplätzen und Radwegen, war bis Mitte der 1930er Jahre noch Wiese. 1937 gründete sich dann die „Gesellschaft zur Vorbereitung des Volkswagens“, die ersten Werkhallen entstanden. Ganz Deutschland beteiligte sich mit Sparverträgen für das nie gebaute „Kraft durch Freude“-Auto an der Finanzierung. Während des Zweiten Weltkriegs beschäftigte das Unternehmen Zwangsarbeiter*innen und produzierte vor allem Kriegsgerät. Der Aufstieg und die ersten zarten Liebesbande zwischen Werk und Stadt begannen nach dem Krieg – zu jener Zeit, als auch Manfred Modler herkam.
Er war Flüchtling, wurde in einer Holzbaracke in der Nähe des Werks untergebracht. Im Winter war es kalt, im Sommer heiß, trotzdem wohnte er 5 Jahre dort. VW wuchs, lockte Arbeiter*innen aus der gesamten Republik und Europa an, vor allem aus Italien. „Manche blieben länger, viele gingen nach einigen Jahren wieder zurück nach Hause“, sagt der Historiker Dieter Landenberger, der bei VW für die Erinnerungskultur zuständig ist. Ein Grund dafür war die Trostlosigkeit rund um das Werk: Es gab keine Wohnungen, keine Schulen, keine Krankenhäuser. Wolfsburg, das waren damals nicht mehr als ein 700 Jahre altes Schloss mit dem Namen Wolfsburg, das der Stadt ihren Namen gab, und ein paar trostlose Dörfer.
Wenn das Werk dauerhaft Arbeiter*innen halten will, das begriff man rasch, muss es investieren: in die Region, in die Infrastruktur, in den Alltag der Menschen. Das war der Beginn einer langen Liebe. Einer Liebe, der Manfred Modler beim Wachsen zuschauen konnte. Wie neue Produktionshallen entstanden, wie ein Haus neben dem anderen in der Stadt hochgezogen wurde. Wie Millionen Autos vom Hof fuhren, er selbst kaufte sich fast jedes Jahr ein neues. Er freute sich über Baumärkte, italienische Restaurants und Bars. „Die Stadt wurde größer und größer“, sagt er: „Das war schön.“ Er trat in den Schützenverein ein, baute ein Haus und zog mit Frau Helga zwei Töchter groß.
Und jedes Jahr Mitte Juli stand er mit all den anderen Arbeiter*innen und Angestellten am Werktor und hörte dem VW-Orchester zu, das zum dreiwöchigen Werkurlaub spielte. Die Konzerte sind in der Stadt immer noch legendär. Und bis heute schickt der Konzern „seine Leute“ in die Sommerferien, um in dieser Zeit die Produktionsstrecken zu modernisieren und an die neuen Modelle anzupassen. Nach dem VW-Sommerkonzert setzte Modler seine Frau und die beiden Töchter in den Käfer und fuhr mit ihnen nach Italien. „Wir waren eine klassische VW-Wolfsburg-Familie“, sagt Modler.
Heute will die Wolfsburg AG die Attraktivität der Stadt steigern und präsenter machen: Wer hierher und zu VW kommt, soll sich wohl fühlen und dieses Gefühl in die Welt tragen. Dafür zahlen VW und Wolfsburg zu gleichen Teilen in das Unternehmen ein, es ist eine besondere Art öffentlich-privater Partnerschaft. Konzern, Stadt und Verwaltung sind wie ein Paar miteinander verbunden, eine Ehe, von der alle profitieren: VW bezahlt unter anderem den Bundesligaverein VFL Wolfsburg, unterhält ein Freibad, kürzlich schenkte es der Stadt Ladestationen für E-Autos. Zwischenzeitlich trug VW mit 42 Prozent zu den Steuereinnahmen der Stadt bei , davon werden Kitas, Schulen, Kinos, Theater subventioniert. Die VW Immobilienfirma baut neue Wohnungen in der Stadt.
Wie in jeder guten Ehe kriselt es hin und wieder. Aber erst seit dem Abgasskandal seit 2015 könnte die Beziehung aus dem Ruder laufen. Im ersten Jahr schreibt VW 1,6 Milliarden Euro Verlust, den höchsten in der Geschichte des Unternehmens. Den Gesamtschaden schätzen Expert*innen auf etwa 35 Milliarden Euro.
Jetzt fällt die Gewerbesteuer in Wolfsburg zum fünften Mal in Folge geringer aus. Zu Beginn 2019 erwartete die Stadt ein Defizit von rund 48 Millionen Euro. Um die Verpflichtungen für Bildung, Soziales, Kultur aufrecht zu erhalten, muss Wolfsburg sparen und Kredite aufnehmen. Selbst beim Prestigeobjekt VFL Wolfsburg wird VW geiziger. Statt der sonstigen 80 bis 90 Millionen Euro im Jahr, bekommt der Fußball-Verein nur noch 60 bis 70 Millionen Euro.
Die Modlers stört das alles nicht. Seine Liebe zum Werk und ihre gemeinsame Liebe zur Stadt ist ungebrochen. „Hier ist es schön, hier haben wir alles“, sagt Manfred Modler. Nimmt seine Frau am Arm und steigt mit ihr ins Bähnle.
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