Was Hippies und Cyberkultur verbindet: „Wir wollten den Geist erweitern“
Auf der Suche nach Alternativen entdeckten die Hippies auch Computer für sich. Howard Rheingold über Lichtpunkte und Psychedelik, Steve Jobs und LSD.
taz.am wochenende: Herr Rheingold, vor 50 Jahren gingen Zehntausende junge Menschen nach San Francisco. Sie selbst sind 1968 dort angekommen. Was hat Sie an der Stadt fasziniert?
Howard Rheingold: Ich war auch in den Jahren zuvor oft dort. Und schon als Schüler kam ich gelegentlich aus Phoenix mit dem Bus in die Stadt, das war zum Höhepunkt der Beatnik-Zeit. Es gab diesen Club, The Blackhawk. Einer der wenigen Orte in Amerika, in denen man als Minderjähriger Jazz hören konnte, denn sie hatten einen Maschendrahtzaun um den Bereich gezogen, in dem Alkohol ausgeschenkt wurde.
Wofür stand die Stadt?
Nach San Francisco zu fahren bedeutete für mich als Teenager, etwas zu erleben, das häufig aus den Analysen ausgeblendet wird: die Desegregation der Musik. Als weiße Kids zum ersten Mal schwarze Musik hörten, begann das Eis zu schmelzen. Zu der Zeit wuchs die Bürgerrechtsbewegung und mit ihr das Bewusstsein, dass etwas sehr falsch lief in Amerika. Im Gegensatz zu dem, was man uns beigebracht hatte, war es eben nicht das Land of the free, sondern es gab Ungerechtigkeiten und Gewalt.
Den Wunsch nach einer anderen, besseren Gesellschaft hatten viele Hippies.
Sie müssen bedenken, gegen was die Gegenkultur stand: gegen die uniformierten, sittenstrengen und sehr selbstbewusst auftretenden 1950er. Einen bedeutenden Einfluss hatte damals der Whole Earth Catalog, der ab 1968 mehrmals im Jahr erschien. Er war ein Zentralorgan der Gegenkultur und richtete sich ursprünglich an all die Leute, die Landkommunen starten wollten.
Der Whole Earth Catalog war eine Mischung aus Produktkatalog für den täglichen Bedarf von Kommunenbewohnern und Denkschrift. Was war seine Botschaft?
Dass wir nicht auf die ferne Regierung, die fernen Unternehmen, oder ferne Religionen vertrauen können, sondern es selbst in die Hand nehmen sollten. Denke für dich selbst. Eine Riesensache! Die Idee, dass wir Dinge auf eine neue Art zusammen bewerkstelligen könnten, wurde Teil des Zeitgeists.
Stewart Brand, der den Whole Earth Catalog erfunden und herausgegeben hat, prägte auch den Begriff des Personal Computers. Daran denkt man nicht wirklich als Erstes, wenn man an Hippies denkt. Wie war das Verhältnis der Leute zu Technologie damals?
Computer waren in ihnen Anfängen überhaupt kein Teil der Gegenkultur. Sie waren damals ja noch riesig, und generell verstanden wir Computer als menschenferne, hegemoniale Maschinen des Verteidigungsministeriums oder des Big Business. Aber die Idee, dass Individuen sie nutzen könnten, dass wir sie uns als Werkzeuge für persönliche Verwendung anzueignen, wurde immer größer. Und es gab das Human Potential Movement: Im Prinzip zielte es darauf ab, dass unser menschliches Bewusstsein viel größer sei als der Teil, den wir zu nutzen gelernt hatten. In uns schlummern Fähigkeiten, die man kultivieren, ausdehnen, vermehren könnte. Dafür Technologie zu verwenden, passte genau zum Human Potential Movement.
Es ist auch als New Age bekannt und zieht ziemlich in die esoterische Ecke.
Aber nicht nur. Immerhin war Eigenständigkeit eine grundamerikanische Idee – jetzt gaben die Hippies der Eigenständigkeit eine andere, vielleicht auch praktisch erfahrbare Perspektive.
Howard Rheingold, 69, wuchs in Phoenix, Arizona, auf. Nach dem College zog er 1968 nach Kalifornien. Heute lebt er in Mill Valley nördlich von San Francisco und ist unter anderem als Dozent in den Universitäten Stanford und Berkeley tätig. Rheingold hat sich schon früh auf die kulturelle, soziale und politische Bedeutung von technologischer Entwicklung spezialisiert. Er arbeitete unter anderem als leitender Redakteur für Wired und Whole World Earth Review, einen Ableger des Whole Earth Catalog. Zu Rheingolds bekanntesten Büchern gehören „Tools for Thought“ (1985) und „The Virtual Community“ (1993) – er gilt als Erfinder dieses Begriffs.
Ließen sich davon die meisten überzeugen oder gab es eine ambivalente Haltung gegenüber Computertechnik? Gab es Widerstand oder Protest?
Klar, es gab ein Schisma zwischen den „Zurück aufs Land!“-Leuten und den „Interessante neue Tools!“-Leuten. Aber das Geniale am Whole Earth Catalog war eben, dass es nicht monolithisch war, sondern ein Netzwerk der Netzwerke – genau wie das Internet später ein Netzwerk der Netzwerke werden sollte. Es gab die Umweltfraktion, die Menschen, die sich für Gemeinschaftsformen interessierten, natürliche Geburten, für Tools, Technologie. Der Catalog brachte all diese Gruppen zusammen. In den späten 1960ern verkörperte er für mich die Ethik, die Gegenkultur und Cyberkultur verbanden.
Wie sind Sie eigentlich selbst zum ersten Mal mit dem Personal Computer in Kontakt gekommen?
Ich war Autor. Zehn Jahre lang hatte ich eine Schreibmaschine, ein Telefon und ein Bibliotheksausweis. Als ich von den ersten PCs hörte, erzählte jemand, dass man damit schreiben könne. Auf einem Bildschirm! Man musste die Seiten nicht neu abtippen, wenn man sie mit Korrekturen vollgeschmiert hatte. Das hörte sich toll an. Ich las einen Artikel über Mikroeletronik, im Prinzip eine Beschreibung des iPads im Jahr 1977. Der Autor hatte am Xerox-PARC-Institut gearbeitet, in Palo Alto, also im Silicon Valley, und ich dachte, dass das ein ziemlich cooler Arbeitsplatz sein müsste. Ich wanzte mich da hinein und bekam den Job über ihre Arbeit zu schreiben. Ich fuhr jeden Tag runter nach Palo Alto, um den Rechner dort zu benutzen, den Xerox Alto …
… entwickelt 1973, der als erster PC der Geschichte gilt.
Ich wollte meine Art zu schreiben, vertiefen, verbessern, erweitern und beschleunigen. Als ich am Xerox-PARC Douglas Engelbart traf, verstand ich dann, dass das nicht nur eine bessere Schreibmaschine war, sondern auch ein Verstärker des Geistes. Es war anders als Psychedelik, aber ebenfalls eine Art, das menschliche Potenzial zu erweitern.
Wer war dieser Douglas Engelbart, welche Rolle spielte er?
Seine Geschichte geht so: Er war ein junger Ingenieur in den 1950ern, hatte den Zweiten Weltkrieg überlebt und fragte sich: „Was werde ich mit dem Rest meines Lebens anfangen?“ Ein Essay aus dem Atlantic Monthly machte damals die Runde. Es ging darum, dass die Wissenschaft Informationen in einem nie dagewesenen Maß produzierte, unsere Fähigkeiten, dieses Wissen zu verarbeiten aber noch auf dem Stand des 19. Jahrhunderts sei. Der Essay forderte neue Werkzeuge, um Wissen und Informationen zu organisieren. Da Engelbart im Krieg ein Radar bedient hatte, kam ihm in den Sinn, dass ein Computer Lichtpunkte auf einem Bildschirm kontrollieren konnte.
Lichtpunkte auf einem Bildschirm … Okay.
Ich weiß, das klingt simpel. Aber damals war das radikal. Computer hatten Lochkarten, man bekam Ausdrucke. Man verband kein Bildschirm mit einem Rechner, beides war ja praktisch eben erst erfunden. Das war Science-Fiction, und Engelbart wurde von der Industrie genauso abgelehnt wie von Wissenschaftlern. Aber er hatte genau diese Vision: Computer dafür zu verwenden, um die menschliche Intelligenz zu erweitern. Übrigens war er einer der ersten Menschen, die LSD nahmen.
LSD?
Psychedelika waren ein wichtiges Bindeglied von Cyberkultur und Gegenkultur. Für mich war es extrem wichtig, plötzlich zu erleben, dass man die Welt nicht nur auf eine einzige Art erfahren kann. Auch Douglas Engelbart hat die Verbindung von menschlichem Potenzial im Sinne der Psychedelik, menschlichem Potenzial mit Blick auf Intellekt und die Verwendung von Computern ausdrücklich betont. Vielleicht hätte es ohne ihn den PC und das Internet nicht gegeben.
Industrie und Akademiker lehnten seine Ideen doch ab?
Wenn es nach IBM gegangen wäre oder Telefonunternehmen wie TNT und Bell, hätte es den Personal Computer niemals gegeben. Dann kreuzten sich Engelbarts Wege doch noch mit der Arpa …
… der Advanced Research Project Agency, einer von der US-Regierung finanzierten Forschungseinrichtung des Verteidigungsministeriums.
Ja, das war ein Zusammenfluss von Kräften, den es normalerweise nicht gegeben hätte. 1958 geriet das Verteidigungsministerium in Panik wegen des Sputnik-Satelliten und wollte schnell neue Technologien entwickeln. Teil der Arpa war auch der MIT-Professor J. C. R. Licklider, ein Visionär, er hatte 1960 schon über die Mensch-Computer-Symbiose geschrieben. Er protegierte Engelbart und stellte einen jungen Mann namens Robert Taylor an. Zusammen waren die drei am Aufbau des Arpanet beteiligt, des Vorläufers des Internets, um Forscher an unterschiedlichen Orten vernetzen zu können. Plötzlich begannen aber die Programmierer über diese Rechner zu kommunizieren, und trotz wachsendem politischem Druck sagten Licklider und Engelbart nicht „Zurück an die Arbeit!“, sondern erkannten, dass hier ein neues Kommunikationsmedium entstand.
Hatten sie da beim Ministerium etwas übersehen oder war das Intention?
Als sie beim Verteidigungsministerium herausbekamen, was da vor sich ging, sagten sie im Prinzip: Aufhören, Waffen entwickeln! Und dann kündigten sie all diese Leute. Xerox gab Robert Taylor einen Job, er sollte alle einstellen, sie wollten das Büro neu erfinden. In der Folge wurde 1970 Xerox-Parc gegründet, wo ich später auch landete. All die Leute waren dort, die vorher die Grundlagen für Computergrafiken gelegt hatten, die Maus, den Vorläufer des Internets und andere elementare Dinge der Computertechnik erfunden hatten. Ich denke, man muss die Rolle von Visionären anerkennen, die die Dinge vorantrieben.
In welchem Maß waren diese Visionäre denn Teil der Gegenkultur?
Auf eine intellektuelle Weise. Eigentlich waren sie keine Hippies – okay, Engelbart vielleicht ein wenig, das Augmentation Research Center, das er gründete, wurde „Hippie Lab“ genannt, manche Programmierer hatten wohl lange Haare. Aber diese Dinge waren nicht monolithisch. So war es auch, als einige Jahre später plötzlich Geld hereinkam, als das Business begann und Leute wie Steve Jobs auftauchten. Er hatte eine Menge LSD genommen und verstand wie so viele den Whole Earth Catalog als Signal zum Aufbruch. Er verstand, dass die primitiven Rechner von 1984 im Jahr 2000 viel mächtiger seien würden. Ausgehend von Engelbart über die Hippies bis zu Jobs gab es dieses verbindende Element: dass vieles in der Gesellschaft schieflaufe. Also wollten sie eine neue bauen.
Die Gegenkultur lehnte sich gegen die Enge der 1950er auf und auch gegen den Staat. Wie entwickelte sich daraus aber das, was die Sozialwissenschaftler Richard Barbrook und Andy Cameron die „Kalifornische Ideologie“ tauften, also die Verbindung zwischen dem „freilaufenden Geist der kulturellen Bohemiens von San Francisco und der unternehmerischen Emsigkeit der Yuppies“?
Wenn wir über Gegenkultur sprechen, dann gab es viele Gruppen, mit verschiedenen Ausgangspunkten: die Antikriegsbewegung, die Bürgerrechtsbewegung, die Psychedelics, die Kommunenbewohner. Wir unterschieden uns stark, hatten aber eine Gemeinsamkeit: wir hatten erlebt, dass man nicht General Motors, nicht General Electric sein musste. Man konnte Apple sein, mit nichts in der Hand starten und ziemlich groß werden. Das verstanden alle.
Gab es denn den entscheidenden Moment, in dem Sie verstanden, dass sich nun wirtschaftliche Dinge in den Vordergrund drängten?
Vor Apple gab es die Videospiel-Industrie, etwa Atari, für die auch Steve Jobs gearbeitet hatte. Plötzlich konnte man Geld mit diesen Spielzeugen machen. Die ersten PCs wurden ein Geschäft. Und dann, 1995, ging Netscape an die Börse und verdiente Geld. Wenn du vorher sagtest, dass du mit dem Internet Geld verdienen wollte, wurdest du ausgelacht. Noch vorher war es verboten. Auf jeden Fall war der Börsengang von Netscape der Beginn dafür, dass Menschen mit Wetten auf Technik Geld verdienten.
Was haben Sie zu dieser Zeit des Aufbruchs gemacht?
Ich arbeitete damals beim Wired Magazine. Wir bauten unsere Werbebanner selbst. Als wir sie dann an amerikanische Unternehmen verkauften, war das eine große Sache. Irgendwann verschmolzen sich AOL und Time Warner. Das war der Zeitpunkt, als auf einmal riesige Unternehmen den Marktplatz Internet betraten.
Was änderte sich dadurch?
Die alte Riesen wollten ihre Hegemonie aus dem Rundfunkgewerbe ins Netz übertragen. Aber es gab auch viele neue Unternehmen, Adobe und viele mehr. Es war eine Kollision zwischen Old-fashioned-Kapitalismus und neuen Unternehmern mit neuen Ideen. Dazu kamen das eine Prozent der Reichsten, denen ihre Anlagenberater sagten, ihr müsst mal wirklich riskante Investitionen machen, sonst zahlt ihr Steuern. Ohne die gäbe es kein Risikokapital.
Ohne Risikokapital wäre das Start-up-Ökosystem des Silicon Valley kaum denkbar.
Ja, aber das Wichtige am Risikokapital ist gar nicht das Geld. Sondern die Attitüde. Es gibt weltweit Versuche, Silicon Valleys zu gründen, aber wenn du mit irgendetwas scheiterst, bekommst du in anderen Ländern oft keine zweite Chance. Das ist schändlich. Wenn du hier scheiterst, geben dir dieselben Leute wieder Geld, damit du es noch einmal versuchst.
Der Kommunikationswissenschaftler Fred Turner, mit dem Sie befreundet sind, hat den Zusammenhang zwischen Silicon Valley und Hippies analysiert. Er sagt, dass die Technikbegeisterung mit noblen und vielleicht naiven Vorstellungen begann und dann zu einer Ideologie samt Überwachungsökonomie wuchs. Stimmen Sie ihm zu?
Es ist zu generalisierend zu sagen, dass eine Ideologie entstand. Tatsächlich gibt es Leute im Silicon Valley, die eine rechtskonservative oder libertäre Haltung haben. Aber ich würde so nicht einen ganzen Zeitgeist charakterisieren. Die Überwachungsökonomie ist eben Kapitalismus. Nichts, was Marx nicht bereits beschrieben hatte. Eine Maschine wird etwas, das produktiv ist, in Kapital umwandeln. Das Prinzip wurde nicht hier in Kalifornien und nicht in den letzten 50 Jahren erfunden.
Warum waren Gegenkultur und Hippie-Bewegung so wenig immun gegen den neoliberalen Kapitalismus?
Tja. Warum hat es keine Kultur auf der Welt verstanden, nicht vom Kapitalismus geschluckt zu werden?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern