Warum Berlin überhaupt nicht over ist: Das ödeste aller Rituale
Jetzt hat es auch das Feuilleton geschnallt: Berlin geht gar nicht! Dabei erfindet sich die einzige deutsche Metropole gerade wieder einmal neu.

D er Beginn eines jeden neuen Jahres folgt alten Gewohnheiten: Die Fitnessstudios sind überlaufen, Bekannten angebotener Alkohol wird mit „Danke, Dryjanuary“ zurückgewiesen und „abnehmen, schnell, ohne Anstrengung und ohne weniger zu essen“ wird bei Google wesentlich häufiger abgefragt als „Wer ist denn diese interessante Autorin, die diesen super Text da neulich geschrieben hat“.
Ausgerechnet da, wo reset propagiert wird, laufen altbekannte Rituale ab. Es braucht wenig Geistesreichtum, das festzustellen. Genauso wenig wie es geistreich ist, Berlin für tot zu erklären. Auch das aber inzwischen ein Ritual wie jeder unoriginelle Neujahrsvorsatz.
Irgendein Aufhänger findet sich immer und dann heißt es: dreckig, verwahrlost, verfilzt, verpeilt, dysfunktional, hässlich, abstoßend, kriminell, Sonnenalleearaber, langweilig, unfreundlich, na gut: abgezogene Dielen – aber das von unseren Steuern.
Seit in der Hauptstadt verkündet wurde, dass im Kulturbereich drastisch gespart wird, ist sich jetzt aber auch das Kulturmilieu, darunter Frankfurter Feuilletonisten, und Berliner Kolumnistinnen sicher: Berlin is over. Jetzt aber wirklich.
Und das Watergate?
Wahnsinnig originell und neu ist die Diagnose freilich nicht, zumal das Gegenteil der Fall sein könnte: Berlin könnte möglicherweise auf dem besten Wege dahin sein, wieder Berlin zu werden.
Neu ist, dass die Komische Oper wegen der Etatkürzungen ihre Musicalinszenierung „Mein Freund Bunbury“ (der Nachfolger des Publikumserfolgs „Messeschlager Gisela“) absagen musste. Für die Beteiligten doof, für die Liebhaber auch.
An DDR-Musicals denken jene, die Berlin jetzt den Totenschein ausstellen, aber eher weniger. Dabei gehört die Komische Oper länger zu Berlin als irgendein angesagter Schuppen.
Das Berlin, dem jetzt der Totenschein ausgestellt wird, ist das vermeintlich wilde Berlin, das mit dem Stichwort Club verbunden ist.
Alle haben profitiert
Als Berlin noch vermeintlich wild war, waren alle, die nach dem Mauerfall in diese Stadt zogen, an einem Prozess beteiligt, der Gentrifizierung genannt wurde: Es war das Abgefuckte, was die Leute nach Berlin wie zuvor nach New York oder London zog. Von dem Abgefuckten haben erst alle profitiert, die Stadt wurde dank der neu Zuziehenden etwas weniger abgefuckt.
Damit wurde es für die Leute attraktiv, die es lieber noch ein bisschen weniger abfuckt haben. Und heute betrauern alle gemeinsam in ihren Altbauwohnungen das früher so schön abgefuckte Berlin.
Jetzt aber scheint Berlin die Chance für ein echtes Comeback zu haben. Der Club Watergate hat nicht geschlossen, weil die Miete plötzlich zu stark gestiegen wäre. Er hat geschlossen, weil keiner mehr kam. Bei „Berliner Club“ gähnt mittlerweile sogar der Billigtourist und gibt sein kleines Geld lieber für was Aufregenderes aus.
Nicht nur Berlin, die ganze Welt ist nach allem, was man so hört, in eine instabile Seitenlage geraten. Die sozialen Medien sind kaputt, der politische Zeitgeist auf der einen wie der anderen Seite sowieso. Warum sollte es ausgerechnet Berlin anders gehen, wo das Kaputte zu Hause ist?
Berlin genießt den Vorteil, dass es erst im Untergang (Achtung Anspielung) zu wahrer Größe findet. Die Stadt muss immer erst in Schutt und Asche gelegt oder so gut wie leer gewohnt werden, damit sich wieder was Attraktives entwickeln kann.
Für eine rosige Zukunft der Stadt braucht es also mehr Leute, die es so machen wie jene Menschen, die zur Zeit auf Facebook ihren gewichtigen Protest gegen die Zustände dort folgendermaßen zu Protokoll geben: „Das war’s Leute. Von mir hier ab sofort kein Content mehr!“
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