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Warten auf den Frieden in GazaMit Stethoskop und Telefon in den Händen

Die Gegend um das Al-Shifa-Spital in Gaza muss evakuiert werden. Doch Arzt Abu Salmiya wartet auf Ergebnisse der Verhandlungen um ein Kriegsende.

Dialysebehandlung im Al-Shifa-Krankenhaus während einer israelischen Militäroperation, Gaza Stadt, 30. September Foto: Ebrahim Hajja/reuters

Gaza/Berlin taz | Der Arzt Mohammad Abu Salmiya fühlt sich derzeit wie der Kapitän eines sinkenden Schiffes. Er eilt in den Gängen des Al-Shifa-Spitals in Gaza-Stadt hin und her; in der einen Hand hält er sein Stethoskop, in der anderen sein Telefon. Das ist überlebenswichtig dieser Tage. Denn Abu Salmiya muss stets auf dem Laufenden bleiben: Rückt das israelische Militär weiter vor, und er muss das Krankenhaus räumen, mit den Patienten und Mitarbeitern? Oder kommt der Waffenruhe-Geisel-Deal, und sie alle können bleiben?

Das Al-Shifa-Spital liegt im Westen von Gaza-Stadt – und tief in dem Gebiet, zu dessen Verlassen das israelische Militär im Rahmen seiner Offensive auf Gaza-Stadt wiederholt aufgerufen hat. Begonnen hatte sie bereits vor Wochen: Lange gab es vor allem Luftangriffe, die Truppen standen in den Außenbezirken. Mitte September begann dann die großangelegte Bodenoffensive nach Gaza-Stadt hinein. Zuvor lebten in und um die Metropole im nördlichen Gazastreifen etwa eine Million Menschen. Nach Angaben der israelischen Armee sind seitdem etwa 870.000 von ihnen in den Süden geflohen. Doch einige Menschen harren noch immer in Gaza-Stadt aus. Darunter sind Kämpfer der Hamas, aber auch viele Zivilistinnen und Zivilisten, die sich etwa eine Flucht gen Süden nicht leisten können.

Unter den Gebliebenen ist auch Doktor Abu Salmiya. Er ist der Direktor des Al-Shifa-Krankenhauses – und mittlerweile international bekannt. Im November 2023 nahm ihn das israelische Militär fest, unter dem Vorwurf, er habe der Hamas erlaubt, das Krankenhaus als Kommandozentrale zu nutzen. Eine konkrete Anklage wurde jedoch nie erhoben, etwa sieben Monate später kam er wieder frei.

Abu Salmiya ist an diesem Tag in Zivil gekleidet: Wegen des vielen Blutes, mit dem er ständig in Berührung komme, trage er seinen weißen Arztkittel nicht mehr, erzählt er. Teils ist es das Blut seiner eigenen Familie: Im September wurden, so berichtete es die Times of Israel, sein Bruder und weitere Verwandte in das Al-Shifa-Spital eingeliefert – tot. Israel erklärte damals, der Bruder sei ein Scharfschütze in einer Hamas-Einheit gewesen. Er selbst bestreitet das.

Das größte Krankenhaus im Gazastreifen

Das Al-Shifa wurde bereits zweimal von der israelischen Armee eingenommen: Einmal kurz nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 in Südisrael. Und dann erneut im März 2024. Nach zwei Wochen zogen die Truppen damals wieder ab – und hinterließen Massengräber auf dem Gelände. So berichtete es damals etwa die britische BBC unter Berufung auf Augenzeugen. Unter den Toten in den Gräbern, schreibt sie, hatten sich augenscheinlich auch Patienten befunden, „manche mit Infusionszugängen“.

In den Inkubatoren für Neugeborene, erzählt Arzt Abu Salmiya, liegen derzeit 15 Säuglinge

Abu Salmiya erinnert sich daran, wie er nach seiner Freilassung in das erst Wochen zuvor wieder vom Militär freigegebene Krankenhaus zurückkehrte: Der Zustand sei „herzzerreißend“ gewesen. Das Al-Shifa-Spital, sagt er heute, sei nicht einfach eine medizinische Einrichtung. Sondern das größte Krankenhaus im Gazastreifen – und der einzige Ort, an dem unter den derzeitigen Bedingungen im abgeriegelten nördlichen Teil des Gazastreifens noch eine zumindest grundlegende medizinische Versorgung angeboten werde. Deswegen bleibt er.

In den Inkubatoren für Neugeborene, erzählt er, lägen derzeit 15 Säuglinge. Sie seien auf Sauerstoff und die wenige Nahrung angewiesen, die das Spital ihnen zuführen könne. Sie seien in echter Gefahr, betont er, sollte das israelische Militär das Krankenhaus angreifen. „Wir würden sie zweifellos verlieren“, sagt er.

Nahrung, Sauerstoff und Medikamente seien äußerst knapp, die Ärzte gezwungen, zu entscheiden, wer behandelt wird. Darüber hinaus seien die MRT- und Röntgengeräte seit Monaten außer Betrieb, sodass es unmöglich sei, Verletzungen genau zu diagnostizieren. Das sei insbesondere ein Problem, weil eine große Anzahl von Patienten mit Metallsplittern – etwa durch nach Luftangriffen herumgeschleuderte Trümmerteile – eingeliefert wird. Und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden immer weniger – viele flüchteten derzeit in den Süden.

Im Al-Shifa-Spital liegt auch die sechsjährige Suwar

Am Dienstag der vergangenen Woche besuchte ein Team des Internationalen Roten Kreuzes das Spital, darunter Sarah Avrillaud, Leiterin der Unterdelegation des Internationalen Komitees des Roten Kreuz im Gazastreifen. Das Team, erzählt Abu Salmiya, habe ihnen einige medizinische Hilfsgüter und Verbrauchsmaterialien geliefert. Am vergangenen Mittwoch erklärte das Rote Kreuz dann in den sozialen Medien: Die intensivierte Offensive des Militärs in Gaza-Stadt zwinge sie dazu, alle Aktivitäten in Gaza-Stadt vorübergehend einzustellen und in den Süden zu ziehen. Damit bleiben den verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohnern in Nordgaza noch weniger Versorgungsstellen.

Unter den Patientinnen im Al-Shifa-Spital ist auch die Tochter von Sally Al-Muqayed. Sie stammt aus dem Gebiet Tel Al-Hawa im Nordosten Gazas. Eines Tages, erzählt sie, standen die Panzer in ihrem Wohnviertel. Sie sei gezwungen gewesen, unter schwerem Beschuss zu fliehen, mit den beiden Töchtern im Alter von sieben und sechs Jahren. Während dieser Flucht habe sie ein Geschoss getroffen, es habe das Bein der Siebenjährigen zerfetzt und ihren Bauchraum aufgerissen. Sie sei sofort tot gewesen. Die Sechsjährige sei dabei am Kopf von einem Granatsplitter getroffen worden. Sie überlebte – sei aber teilweise gelähmt, erzählt Al-Muqayed. Es gebe Hoffnung für eine erfolgreiche Behandlung der kleinen Suwar Al-Muqayed, sagt sie. Aber nur außerhalb des Gazastreifens.

Infografik: Planet Neun

Doch wie sollen sie mit ihrer Tochter vom Norden in den Süden des Gazastreifens kommen, fragt Al-Muqayed sich. Das Kind ohne Sauerstoff oder eine medizinische Trage über eine lange Strecke zu transportieren, gleiche einem Todesurteil. Und neben dem Roten Kreuz ist auch das Team von Ärzte ohne Grenzen mittlerweile in den südlichen Teil des Gazastreifens geflohen. Also bleiben sie im Al-Shifa-Spital und hoffen.

Wie steht es um die Verhandlungen in Ägypten?

Die Hoffnungen vieler – der Menschen im Gazastreifen, wie auch der Angehörigen der noch immer dort festgehaltenen 48 Geiseln – ruhen auf den Verhandlungen zwischen Israel und Hamas, die derzeit in Ägypten stattfinden. Sie basieren auf dem von US-Präsident Donald Trump vorgelegten 20-Punkte-Plan. Darin ist unter anderem festgehalten: Alle Geiseln müssen auf einmal nach Israel zurückgebracht werden, dafür stellt das Militär den Krieg ein und zieht sich zurück – allerdings auf Positionen, die weiter innerhalb des Küstenstreifen liegen.

Dieser Abzug ist Diskussionsthema – wie auch die Entwaffnung der Hamas und die Personalien palästinensischer Gefangener, die freikommen sollen. Nach Angaben des an den Verhandlungen beteiligten Katar sei es „für Pessimismus oder Optimismus“ noch zu früh. Denn über „viele Teile“ des Trump-Plans müsste noch eine Einigung erzielt werden.

Auch das Schicksal des Al-Shifa-Spitals in Gaza-Stadt hängt an den Verhandlungen in Ägypten. Vielleicht wird bald das Telefon Abu Salmiyas klingen. Und er wird endlich erfahren, ob der Frieden kommt – oder weiter Krieg herrscht.

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