Wahltheater: Sieben für Bremen
Nach Jens Böhrnsens Abgang hat Jan Böhmermann in Bremen die Macht ergriffen, die SPD sucht nach einem Senats-Chef, Journalisten wollen Show. Die taz weiß, wie alle zufrieden werden.
Ein Mann mit gutem Programm
Jetzt hat Jan Böhmermann die Macht ergriffen in Bremen. Gleich Montag, kurz nach Jens Böhrnsens Abschied, hat er sein Volk über diesen Schritt informiert - per Videobotschaft aus Köln. Böhmermann nämlich ist aus Sicherheitsgründen, so wie die wichtigsten Dokumente der Bremer Historie, in Köln untergebracht - jene im Stadtarchiv, dieser im Bunker unterm Rhein. Für seinen Schritt beruft er sich auf Artikel 114 a der Landesverfassung: Präsident des Senats wird, wer im Telefonbuch über dem alten steht - indes nur "bei Totalausfall eines Bremer Bürgermeisters".
Ob das auf Böhrnsen zutrifft - nein, die juristische Klärung des Sachverhalts hat er nicht abgewartet, so dass fraglich bleibt, ob sein Vorgehen demokratisch war. Indes, Bremen braucht zupackende Typen wie den Showmaster, dessen Plan zur De-Gentrifizierung des Stadtteils "Viertel" im Wahlkampf ihm mehr Aufsehen bescherte, als alle Parteien zusammen bekamen. Schon hat er - durch Erlass eines Armutsverbots - Bremens soziale Spaltung überwunden: Böhmermann, der als Staatsform an einer Diktatur light festhält, scheint der rechte Mann im rechten Moment. Und der Ort? In der Internet-Zeit kein Problem. BES
Mit dem Pathos des Opfers
Nach dem plötzlichen Rückzug von Jens Böhrnsen sucht die Bremer SPD nun auf die Schnelle einen neuen Bürgermeister.
Der Landesvorsitzende Dieter Reinken führt dazu diese Woche "Sondierungsgespräche", wie er am Montag der Presse erklärte. Am 18. Mai entscheidet der SPD-Landesvorstand dann, wie es weitergeht. Denkbar ist auch eine Mitgliederbefragung, so wie 1995, als Henning Scherf ins Amt kam.
Die Frage, mit wem die SPD nun künftig koalieren will, wird erst danach entschieden, sagt Reinken. Die Suche nach einem neuen Bürgermeister habe "Priorität". Denkbar ist eine neue Koalition mit den Grünen, die laut aktuellen Hochrechnungen auf 43 der 83 Sitze käme oder eine große Koalition, die vermutlich 51 Sitze innehätte.
Wenn die Wahl in Bremen eines zeigt, dann dies: Menschen mit Migrationshintergrund werden besonders oft nach vorne gewählt, auch wenn die eigene Partei sie hinten auf der Liste versteckt hat. Und nicht nur das spricht für Murat Kurnaz. Natürlich denkst du: Ist das der Show-Typ mit dem gewissen "Bauer sucht Frau"-Appeal, den Bremen jetzt so dringend braucht? Nee, natürlich nicht, aber die Sache ist ja auch viel raffinierter: Kurnaz hat das Pathos des Opfers. Und das lässt sich gewinnbringend einsetzen, gerade bei den jetzt anstehenden Bund-Länder-Finanzverhandlungen. Das rettet Bremen, besser als jede Gürtel-noch-enger-schnallen-Politik.
Wir haben ja noch was gut, in Berlin - schließlich haben die Geheimdienste und Minister Frank-Walter Steinmeier lange dafür gesorgt, dass unser unschuldiger Kurnaz immer weiter in Guantanamo gefoltert wurde. Bremens moralisches Gewicht lässt sich dabei noch weiter steigern: Durch Kurnaz kommt es zur Versöhnung in der großen Koalition - mit seinem Feind von einst, dem damaligen und künftigen Innensenator Thomas Röwekamp (CDU). Auch da gilt: Das passt nur auf den ersten Blick so gar nicht zusammen. Denn wer verkörpert das von der SPD ausgerufene Wahl-Motto "Miteinander" besser als das Team Kurnaz & Röwekamp? MNZ
Seid erfunden, Millionen!
Die Sehnsucht nach neuen Darstellern in der Politik ist ja vor allem eine altgedienter Politikredakteure. Also jenen, die noch wissen, wie es war, als der Bürgermeister Henning Scherf hieß und überall Omas knutschte. Der ist ein großer Schauspieler, zudem umso beliebter, je weiter man sich von Bremen entfernt. Er kann sich gut Wahrheiten ausdenken und mit völlig frei erfundenen Millionen den Haushalt retten. Hat nicht auch die Kanzlerin gesagt, Bremens Zeiten seien rosiger gewesen, als hier nicht nur gespart, sondern ordentlich investiert wurde, mit Hilfe der CDU? Eben! Und wenn einer die große Koalition anführen kann, obwohl er vorher klar für Rot-Grün einstand, ist das Scherf. Keiner von denen, die heute Politik spielen, reicht ihm das Wasser. Ganz klar: Früher war mehr Lametta. Wir wollen unseren alten Kaiser, äh, quatsch, Henning Scherf wiederhaben! MNZ
Er ist jetzt immer da, wo wir nicht sind
Die besten Zeiten von "Element of Crime" sind vorbei, die Geschichte von Herrn Lehmann ist auserzählt und nächste Woche ist Sven Regener eh in Bremen. Der ist gut vernetzt, aufgewachsen, wo SPD & Wahlbeteiligung schwächeln und als nachdenklicher Pop-Literat mit Hornbrille auch im urbanen Ökospießermilieu bestens aufgehoben. Zumal er der taz sagte: "Ich bin kompetent, was das Spielplatzthema angeht." Ohne ihn wäre Delmenhorst nicht das, was es ist. Jenen, die behaupten: Den kümmert nur das Urheberrecht und die Piratenpartei, sei gesagt: Der war mit 15 schon im Spielmannszug des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands. Und der brachte mit Winfried Kretschmann schon ganz andere Ministerpräsidenten hervor. MNZ
Die rettende Stimme
Wenn eine Kölner Schauspielerinnendarstellerin seit Jahrzehnten die Ermittlerin im - von Böhmermann zum Glück jetzt verbotenen - Bremen-"Tatort" geben darf, kann auch eine frischgebackene Berliner "Tatort"-Kommissarin die Bremer Bürgermeisterin spielen. Zumal, wenn sie in Bremen geboren ist, so wie Meret Becker.
Die ist, wenn in dem Amt Show-Qualitäten entscheidend sind, zweifellos erste Wahl. Becker, die mit Avantgarde-Größen wie Blixa Bargeld und Regie-Guru Herbert Fritzsch gearbeitet hat, kann das intellektuelle Milieu beeindrucken. Hat aber auch in massenkompatiblen Unterhaltungsproduktionen mitgewirkt - bis runter zur Til-Schweiger-Komödie, und Berührungsängste mit dem für FDP-WählerInnen wichtigen Fachblatt Gala sind ihr fremd. Zum Glück, denn eine Bürgermeisterin-Darstellerin darf sich für nix zu fein sein. Vor allem aber kann Meret Becker in ihre extrem wandlungsfähige Stimme einen panischen Willen zum Überleben legen - wie jeder weiß, der die "Resident Evil"-Filme auf Deutsch kennt.
Wer sollte Bremen würdiger im Kampf gegen die Zombies des Stabilitätsrats auf der einen, gegen "Red Queen" Kristina Vogt (Die Linke) auf der anderen Seite vertreten als die deutsche Stimme von Alice - solange Milla Jovovich nicht zu kriegen ist? BES
Staatstragend schon aufm Platz
Gegen Marco Bode kann in Bremen niemand was haben (nicht mal die AfD, der Mann war immerhin mal Nationalspieler). Wahrscheinlich würde ihn die Bürgerschaft einstimmig zum Präsidenten des Senats wählen. Vom Profifußball hat er sich nach der aktiven Karriere lange fern gehalten - viele vermuten, weil er zu klug ist. Nun ist er Aufsichtsratschef bei Werder Bremen, also eine Art Politiker, bei einem Club, dem Haushaltsnotlagen mindestens so vertraut sind wie dem Stadtstaat selbst. In dieser Eigenschaft hat er neulich im taz Salon gesagt, er könne nicht dafür garantieren, dass Werder "den Giftschrank" geschlossen lasse. Das klang schon nach einer Bewerbung fürs höchste Amt.
Politisch hat er immer sorgsam Äquidistanz zu SPD und Grünen gewahrt. Mit Vor-Vorgänger Henning Scherf hat er vor Jahren die Integrationsparty "Nacht der Jugend" bespielt, heute teilt er mit ihm das Ehrenamt des Vorlesers. Sogar auf dem Fußballplatz hatte Bodes Spielweise etwas Präsidiales - immer fair, mit Weitblick, nie überhastet. Vielleicht schon wieder etwas zu viel Böhrnsen-Faktor. JANK
Frischer Wind in alte Ärsche
Die Bremer Semiotikerin Reyhan Sahin ist eine der hoffnungsvollsten Wissenschaftlerinnen Deutschlands. Die politische Künstlerin und Selfmade-Unternehmerin war auch als Journalistin tätig, bis Radio Bremen sie - dumm, aber wahr - rausschmiss. Als Verfechterin der Empowerment-Idee ist Sahin die Richtige, um, wie schon der Wissenschaft, (taz vom 23. 4.), nun dem Land Bremen und seiner männerlastigen SPD "frischen Wind in den Arsch" zu pusten. Und mal ehrlich: Wer hätte es nötiger als die?
Die Erfinderin und Darstellerin der Kunstfigur "Lady Bitch Ray" gäbe in einer großen Koalition Elisabeth Motschmann (CDU) Gelegenheit, ihr im Wahlkampf behauptetes Selbstbild als moderne Großstadtfrau zu überprüfen, den Grünen böge sie bei, dass der Schwanz nicht mit dem Hund wedelt, gerade wenn der eine Fotze ist. Sie spricht fließend und unmissverständlich Deutsch, Türkisch, Proll, Französisch, Englisch sowie Akademisch und vermag bürgermeisterInnenhaft zwischen Codes zu switchen: Wird ihr Bitchsm-Style sensationalistisch missgedeutet, geht sie hin und analysiert ihn selbst - trocken wie Haushaltspolitik. Kann sie also auch. In einer guten Welt triumphiert am Schluss die Heldin. Und Bremen ist eine gute Welt. Und am Ende ist es auch. BES
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