Wahlrechtsdebatte neu entflammt: Schwinden der Wähler

Seit nur jeder Zweite am 10. Mai wählte, wird intern wieder ums Wahlrecht gestritten - im Bremer taz- Salon jetzt auch öffentlich.

Angeregt: Das Nachwahl-Podium von taz und Böll-Stiftung. Foto: Nikolai Wolff / Fotoetage

BREMEN taz | Der Saal im Kulturzentrum Lagerhaus war dunkel, die Diskussion aber erhellend: Die Bremer taz und die Heinrich-Böll-Stiftung hatten zur „Salon“-Diskussion über das neue Wahlrecht unter der Überschrift „Viele Kreuze - wenig Wähler“ geladen.

Christina Tillmann von der Bertelsmann-Stiftung erläuterte diesen Titel mit einer statistischen Auswertung der Bürgerschaftswahlen: Die Wahlbeteiligung insgesamt ist seit 1970 von 70 auf 50 Prozent gesunken, überdurchschnittlich dabei in Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit und geringem Bildungsniveau. Erheblich war offenbar auch der Anteil der Stimmzettel, die ungültig waren, weil WählerInnen mehr als fünf Kreuze gemacht hatten.

Was tun? Ist das neue, komplexere Wahlrecht schuld? Wie kann man die „soziale Schere“, die sich inzwischen auch in der Demokratie-Beteiligung dramatisch zeigt, wieder zusammenbekommen? Tillmann stellte klar: „Die geringe Wahlbeteiligung ist nicht eine Folge des neuen Wahlrechts“.

Sie ist ein europaweites Phänomen - unabhängig von Wahlrecht und auch von der sozialen Spreizung in einzelnen Ländern. Fatal sei, erklärte sie, dass Menschen nicht wählen gehen, wenn ihr soziales Umfeld nicht wählen geht - so verfestigen sich soziale Nichtwähler-Milieus.

Dennoch kann man etwas für eine höhere Wahlbeteiligung tun. Der ehemalige Lehrer Wolfram Stein stellte klar, dass es auch eine deutliche Differenz bei der Wahlbeteiligung nach Altersgruppen gebe: Die über 60-Jährigen wählen zu mehr als 60, die 25- 30-Jährigen zu weniger als 35 Prozent. Die 16- 20-Jährigen lagen da schon besser und hatten die geringste Quote ungültiger Stimmen.

Auf die Bildung kommt es also an, da könne bei jungen Leuten eine neue „Gewohnheit“, wählen zu gehen, gefördert werden, so Stein: Warum nicht in Schulen und Hochschulen Urnen aufstellen? Einen ganz anderen Vorschlag brachte der frühere Bürgerschafts-Abgeordnete Walter Ruffler ein: Die zweite Hälfte der Sitze in der Bürgerschaft sollte nur in dem Umfang besetzt werden, wie mehr als die Hälfte der Berechtigten gewählt haben. Das wäre ein „Leistungsanreiz“ für die Parteien.

Wilko Zicht vom Verein „Mehr Demokratie“, dank des neuen Wahlrechtes für die Grünen in die Bürgerschaft gewählt, erinnerte an einen Vorschlag der Bundespartei Die Linke: Jede kandidierende Partei sollte das Recht haben, ein Thema zum Volksentscheid parallel zu den Wahlen anzumelden.

Das könnte den Eindruck, dass es bei den Wahlen etwas zu entscheiden gebe, stärken. Auf diese Idee sprang allerdings nicht einmal die Bremer Linken-Vertreterin Kristina Vogt an - sie kritisierte die Personalisierung des Wahlrechts und befürwortete mehr Parteieneinfluss über die Liste.

Das sei mit der Grünen-Fraktion nicht zu machen, kündigte Matthias Güldner, noch Fraktionsvorsitzender, an. Insbesondere von der SPD wird ein solcher Vorstoß erwartet, flankiert auch mit dem Frauen-Argument: Die Quotierung wurde durch den Männer-Erfolg bei den Personen-Stimmen ausgehebelt.

Das treffe nur für die SPD-Fraktion zu, wandte Zicht da ein: Da hätten fünf Frauen mehr über die Liste eine Chance gehabt. An ihnen vorbei sind insbesondere Kandidaten gezogen, die offenbar in der migrantischen Szene gut vernetzt sind, so Zicht - was bei der Listenaufstellung der Partei offenbar nicht gewürdigt wurde.

Zum Beispiel Elombo Bolayela, der von der SPD nur auf Platz 25 gesetzt war - und dann mehr Personenstimmen bekam, als die Bildungssenatorin auf Platz 2 der Liste. Bolayela wurde am Montag in den Fraktionsvorstand der SPD gewählt. Er könne sich gezielte Korrekturen des neuen Wahlsystems vorstellen, erklärte Zicht - er sei aber strikt gegen eine Revision, die im Grunde zurück führe zur alten Macht der Parteien.

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