Wahlkampf ist eröffnet: Piraten üben sich in Demut
Seit dem Wochenende dürfen die Parteien die Stadt mit Wahlplakaten für die Bundestagswahl zupflastern. Selbstkritisch zeigen sich nur die Piraten.
Christopher Lauers Haare sind ein wenig glatter, über dem Hemd trägt der Pirat diesmal ein Sakko und anders als bei den meisten Motiven 2011 ist sein Mund jetzt geschlossen. "Entschuldigt, wir hatten es uns auch einfacher vorgestellt" steht auf dem Berlin-Plakat der Piraten zur Bundestagswahl im September. Darunter: "Aber das heißt nicht, dass wir aufgeben". Seit ihrem Einzug ins Abgeordnetenhaus vor zwei Jahren haben die Piraten dort viele unsinnige Streits geführt. Jetzt zeigen sie, dass sie dabei eines nicht verlernt haben: sich gut zu verkaufen. Kein anderes Plakat in der Stadt wagt einen selbstkritischen Rückblick in die Vergangenheit statt verheißungsvoller Versprechen für die Zukunft.
Am Wochenende hat der Wahlkampf Einzug in Berlins Straßen gehalten. Kandidierende, Parteimitglieder und Helfer kletterten auf Leitern und hängten ihre Werbung an Laternenmasten, teils bei nächtlichen Touren durch die Stadt, teils früher als es die Vorschriften erlauben. Nur an bestimmten, von den Bezirken ausgewiesenen Orten darf kein Plakat hängen, etwa rund um das Jüdische Museum in Kreuzberg oder an Laternenmasten im Bayerischen Viertel in Schöneberg, wo Gedenktafeln an jüdische Bürger erinnern, die die Nazis ermordet haben. Die Verbote sollen einen Missbrauch der Gedenkorte durch die NPD und deren Plakate verhindern.
Wo Wahlwerbung erlaubt ist, da folgt sie meist dem üblichen Schema: Der oder die Direktkandidierende posiert großflächig neben Logo und Slogan der Partei. Im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost etwa Cansel Kiziltepe neben dem SPD-Claim "Das Wir entscheidet". Dort, wo der Grüne Christian Ströbele 2009 knapp 47 Prozent der Erststimmen gewann, war SPD-Kanidat Björn Böhning, heute Chef der Senatskanzlei, mit einem textlastigen Plakat angetreten. Ob es damit zu tun hatte oder nicht: Die SPD verlor //www.wahlen-berlin.de/historie/Wahlen/Landeswahlleiterbericht_BTW09.pdf:17 Prozent der Zweit- und vier Prozent der Erststimmen, wurde hinter Grünen und Linken nur noch drittstärkste Kraft im Wahlkreis. Diesmal setzt die SPD voll auf das Gesicht der im Wrangelkiez geborenen Kiziltepe. Inhalte mit dezidiertem Berlin-Bezug liefern Flyer zu den Themen Arbeit, Bildung Wohnen.
Plakate, deren Wort-Inhalt auf Berlin zugeschnitten ist, haben nur Piraten, Grüne und FDP aufgehängt. Die FDP etwa greift Berlins Rekommunalisierungspläne in der Wasser-, Energie- und Wohnungsversorgung an, ihr Slogan "Privat vor Staat" soll laut Mitteilung "in einer Stadt provozieren, die trotz immenser Schulden Anstrengungen verfolgt, staatliche Aktivitäten immer weiter auszudehnen." Außerdem nur in Berlin im Angebot: "Starke Mitte statt linker Rand".
Doch was macht der so genannte linke Rand? Er beschwört seine Verfassungstreue, zumindest die Grünen: Deren Landesverband hat Artikel 28 aus Berlins Landesverfassung auf ein Plakat drucken lassen: "Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum." Zudem haben Neuköllns Grüne ein eigenes Motiv in Auftrag gegeben: Eine lächelnde Frau mit deutschen sowie türkischen Ausweispapieren in der Hand und der Forderung, den "Optionszwang" durch die doppelte Staatsbürgerschaft zu ersetzen. Bezirks-Motive haben auch die Piraten im Angebot, für Friedrichshain-Kreuzberg: "Deephouse statt Townhaus, Investoren wegbassen - Kiezkultur erhalten" etwa. Zur Berlin-Reihe der Partei gehören neben dem Lauer-Motiv eines für die Rechte von Sportfans ("Menschenrechte enden nicht am Stadiontor") und eines gegen Hartz-IV-Sanktionen ("Sozial ist, was Würde schafft").
Derweil wird die Linke Berliner Propaganda-Know-How in die ganze Republik exportieren: Comiczeichner Gerhard Seyfried, einstiger Schöpfer der Wahlkampfbilder für den Grünen Ströbele, gestaltet nun für Großveranstaltungen der Linken den Bühnenhintergrund.
Die in Umfragen führende CDU verzichtet darauf, irgendwelche Berlin-Karten zu spielen. Ihre Direktkandidaten setzen sich von den Vorgaben der Bundespartei höchsten durch ihre Posen auf den Plakaten ab: In Reinickendorf etwa mimt Handball-Förderer und Sportpolitiker Frank Steffel den Erfolgstrainer: In dreiteiliger Bilderfolge mit ausgestrecktem Zeigefinger, verschränkten Armen und Siegerfaust gibt er sich "engagiert für Reinickendorf".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen