Wahlen in Thüringen: Damit es diesmal anders ausgeht
Seit die AfD bei den Thüringer Landtagswahlen stärkste Kraft wurde, drängen sich historische Vergleiche auf. Wiederholt sich hier die Geschichte?
I hr Gesicht möchte Christine lieber nicht fotografieren lassen. Auch ihr Nachname soll hier nicht vorkommen. „Bis vor ein paar Jahren hätte ich das auf jeden Fall gemacht“, sagt sie. „Heute bin ich vorsichtiger.“
Aber ein Foto des Buttons, den sie sich angesteckt hat, ist okay. Bauhaus-Studierende haben ihn entworfen. Die sechs Striche, zwei lang, vier kurz, symbolisieren ein zerstörtes Hakenkreuz. Seit 2008 engagiert sich Christine beim Weimarer Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus. „Bis in die 2000er gab es in der Stadt noch einen breiten Konsens gegen Faschismus“, sagt Christine. „Der existiert heute so nicht mehr.“
Im Februar 2020 wählte der Thüringer Landtag den FDP-Mann Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten. Bei den jüngsten Landtagswahlen wurde die AfD mit 32,8 Prozent erstmals stärkste Kraft. Spitzenkandidat Björn Höcke haben die Thüringer*innen nicht trotz, sondern wegen seines rechtsextremen Programms gewählt, heißt es in Umfragen.
Weimar steht für Goethe und Schiller, aber auch für die erste in Kraft getretene demokratische deutsche Verfassung. Im Theater der Stadt hat die Deutsche Nationalversammlung sie 1919 ausgearbeitet. Wenige Jahre später probten die Nazis hier den Aufstieg. 1924 wurden sie hier erstmals zu Mehrheitsbeschaffern.
Der Thüringer Ordnungsbund ließ sich mit den Stimmen der Vereinigten Völkischen Liste, einer Tarnorganisation der noch verbotenen NSDAP, zur Regierung wählen. 1930, ebenfalls in Weimar, wurde die NSDAP als Juniorpartner zur Koalitionspartei. 1932 führte sie nach den Juli-Wahlen erstmals eine Regierung an. Hitler machte Thüringen zu seinem Mustergau.
Wiederholt sich hier die Geschichte? Zieht der Rechtsextremismus in die schöngeistige Stadt ein?
In Weimar sind Kaufhäuser nach Goethe und Schiller benannt, im Warteraum des Bahnhofs klebt eine Büchertapete. Die Anzeigen im Bus machen Werbung für ein Konzert mit Bachs Goldbergvariationen, bemerkenswert oft übt jemand irgendwo ein Instrument. Das Gras in den Parks leuchtet gepflegt.
„Weimar ist in mancher Hinsicht eine Insel der Glückseligen“, sagt Christine. Das zeigten auch die Wahlergebnisse. Aber die Insel ist ziemlich klein. Das Direktmandat in der Weimarer Innenstadt ging an die Linke, im Umland gewann die AfD.
„Wir werden auf jeden Fall weitermachen“
Am Wahlabend ist Christine zu Hause geblieben, allen Einladungen zum Trotz. „Wenn es mir schlecht geht, muss ich allein sein“, sagt sie. Sie kommt aus Weimar, hat unter anderem als Theaterpädagogin gearbeitet, von dort aus 1989 die ersten Demonstrationen mitorganisiert. Sie war beim Neuen Forum und für die Grünen aktiv.
Immerhin hat Christine ermutigt, was in den Monaten vor der Wahl passiert ist. Viele Unternehmen, alle Unis und Theater des Landes, aber auch Einzelpersonen haben sich mit der Kampagne „Weltoffenes Thüringen“ zur Demokratie bekannt. „Wir werden auf jeden Fall weitermachen“, sagt Christine.
Vom Weimarer Hauptbahnhof fährt ein Bus durch Laubwälder zum ehemaligen KZ Buchenwald. In einem ehemaligen Verwaltungsgebäude der SS hat Jens-Christian Wagner sein Büro. Hinter seinem Schreibtisch füllen Aktenordner fast eine ganze Wand. Als „Weimarer Ursünde“ bezeichnet der Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora die Ereignisse von 1924, 1930 und 1932.
„Wir sind irgendwas zwischen deprimiert, fatalistisch und kämpferisch“, sagt Wagner über die Tage nach der Wahl. „Natürlich erinnert uns das an die 20er und 30er Jahre.“ Wagner beobachtet, wie die AfD den Nationalsozialismus nicht mehr nur verharmlost, sondern sich auch positiv darauf bezieht. Als er das Wahlprogramm der Thüringer AfD studierte, stieß er etwa im Prolog auf einen Text von Franz Langheinrich, einem ideologischen Vordenker der Nationalsozialisten. „Das ist ein politisches Statement und ein Signal an die rechtsextreme Szene“, sagt Wagner.
Ähnlich verhalte es sich, wenn Höcke von „raumfremden Mächten“ spreche, die aus Deutschland vertrieben werden müssten. Der Begriff wurde 1941 vom NS-Juristen Carl Schmitt geprägt – in dem Jahr, in dem der systematische Mord an den europäischen Jüdinnen*Juden begann. „Was die AfD im Gegensatz zur NSDAP nicht verbreitet, ist ein radikal exterminatorischer Antisemitismus“, sagt Wagner. „Dafür haben wir es mit einer extremen Muslimfeindlichkeit zu tun.“ Und wie der NSDAP sei es der AfD gelungen, junge Menschen für sich zu gewinnen.
Dass die AfD bei den Jungen so gut abschnitt, hat den Distanz e.V. nicht überrascht. Die Sozialarbeiter*innen versuchen, rechtsaffine Jugendliche zu entradikalisieren. Die U18-Wahlen hätten die Entwicklung seit Jahren vorweggenommen. Bei der simulierten Landtagswahl in diesem Jahr erhielt die AfD 37,4 Prozent der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen.
Momentan sei es unter Jugendlichen cool, rechts zu sein, weil sie darin eine Widerständigkeit für sich entdeckt haben. Insbesondere auf Tiktok hole die Partei sie ab. In den Schulen erlebten sie immer wieder gespaltene Klassen. Wenn sich zum Beispiel ein paar Schüler*innen bei Fridays for Future engagieren, verschärfe das den Konflikt zwischen rechten und linken Jugendlichen, sagen sie bei Distanz e. V.
Elisa Calzolari, MigraNetz
An den Straßenschildern in der Innenstadt Weimars sind Antifa-Sticker abgekratzt, Stolpersteine werden immer wieder übersprüht. Der Dachverband MigraNetz berichtet von mehr und mehr Übergriffen gegen Vereinsmitglieder – Pöbeleien, aber auch Brandanschlägen auf Büros. Vor allem im ländlichen Raum hätten rassistische Übergriffe massiv zugenommen.
Hohe Wahlbeteiligung hat nichts genutzt
„Ich finde es eine Frechheit, dass Leute uns jetzt ständig fragen, ob wir weggehen wollen“, sagt Elisa Calzolari vom MigraNetz. „Das ist genau das, was die AfD will.“ Zudem hätten viele nicht das Privileg, sich anderswo eine neue Existenz aufzubauen.
Ulrike Grosse-Röthig, Co-Vorsitzende der Linken in Thüringen, hat als Direktkandidatin in Weimar gewonnen. Dennoch – das Ergebnis der Landtagswahl insgesamt sei „absolut bitter“.
Am Mittwoch nach der Wahl ist Grosse-Röthig schon wieder im Landtag. Auf den Fluren des Parlaments in Erfurt kleben noch bunte Kampagnenplakate. „Nicht-Wählen kann Folgen haben“, steht darauf. Genutzt hat die hohe Wahlbeteiligung den demokratischen Parteien nicht. Und die Regierungsbildung könnte dauern. Auf 44 Sitze im Landtag kommen CDU, SPD und BSW, 45 bräuchten sie für eine Mehrheit. „Ich glaube wir wurden inzwischen alle von Journalist*innen gefragt, ob wir nicht zum BSW gehen wollen“, sagt Grosse-Röthig.
Indes erklärte die Greizer CDU-Abgeordnete Martina Schweinsburg, dass ihre Partei auch mit der AfD in Sondierungsgespräche gehen solle. BSW-Spitze Katja Wolf kündigte an, „vernünftigen“ Anträgen der AfD zustimmen zu wollen.
Historischer Imperativ: Keine Zusammenarbeit
„Ich erwarte von den anderen Parteien, dass sie mit dem Wahlergebnis verantwortlich umgehen, um es nicht zu einem zweiten 5. Februar kommen zu lassen“, sagt Grosse-Röthig.
„Der Blick auf 1924 sollte uns wachrufen“, findet Gedenkstättenleiter Wagner. „Rechtsextremes Gedankengut wird normalisiert, wenn die AfD Einfluss auf die Regierung bekommt.“ Wenn es einen historischen Imperativ gebe, dann: keine Zusammenarbeit mit Rechtsextremen.
„Man muss sich aber auch vor Augen halten, dass zwei Drittel der Wählenden sich zum demokratischen System bekannt haben“, sagt Wagner. Anders als in der Weimarer Republik, in der Linke den Systemsturz wollten, Polizei und Armee die junge Republik gefährdeten und die Kirche deutschnational und kaisertreu gegen die Regierung agitierte. „Hinzu kommt, dass es heute eine stark ausgeprägte Zivilgesellschaft gibt, die die Demokratie verteidigt“, sagt Wagner.
Dazu zählt auch die Klassik-Stiftung. Einst als eher konservativ bekannt, hat sie in den letzten Jahren eine neue Rolle für sich entdeckt. „Wir leisten unseren Beitrag für ein kritisches Geschichtsbewusstsein, das in ein kritisches Gegenwartsbewusstsein mündet“, sagt Ulrike Lorenz, Präsidentin seit 2019.
Prinzip Gulaschkanone
Lorenz hat das Bündnis „Weltoffenes Thüringen“ mitgegründet. Seit dem 9. Mai beschäftigt sich eine von der Stiftung initiierte Ausstellung mit der Rolle des Bauhauses im NS. Kurz vor der Wahl sprach Lorenz auf einer Kundgebung zur Kunstfreiheit.
Von ihrem Arbeitszimmer im Schloss aus möchte die Frau mit der knallroten Brille ihre Institution „radikal öffnen“. „Prinzip Gulaschkanone“ nennt sie das. Die Wiese vor dem Schloss darf man jetzt betreten, erstmals fand ein Punkkonzert statt. Lorenz ist überzeugt davon, dass Kunst eine vermittelnde Rolle einnehmen kann. „Wir müssen auf die Marktplätze und miteinander reden“, sagt sie, „auch mit AfDlern“. Nicht alle im Bündnis Weltoffenes Thüringen gehen da mit. Das sei in Ordnung, sagt Lorenz: „Wenn wir unsere Vielstimmigkeit nicht akzeptieren, geht's schief.“
Es ist eine Position, die insbesondere auf dem Land viele Leute teilen dürften. Auch dort haben sich einige der Initiative angeschlossen, allerdings unter dem Motto „Thüringen zusammen“. Der Name „Weltoffenes Thüringen“ hole die Leute hier nicht ab, sagt Markku Groß, der die Initiative nach Tannroda im Weimarer Land geholt hat.
Vor zwanzig Jahren ist er aus dem Erzgebirge in den 1.000-Einwohner-Ort zwischen grünen Hügeln gezogen. „Im Zweifelsfall sind wir hier im Ort die, die eine andere Meinung haben“, sagt er. Aber übers gemeinsame Wirtschaften komme man zusammen. Das Paar hat mehrere Gemüsegärten und vier Schafe, die Groß hinterherlaufen, sobald er die Weide betritt.
Zu DDR-Zeiten gab es in Tannroda eine Papierfabrik
Der Treffpunkt mit seinen Freunden ist immer der gleiche: In einem ihrer Gärten, Lampions über dem Holztisch. Im Hintergrund plätschert das Wasser der nahen Ilm. Groß' Freunde sind sich einig, dass man die deutsche Geschichte, die KZs, nicht ignorieren dürfe. Aber sie verstehen auch, wie es zu den Wahlergebnissen gekommen ist. Zu DDR-Zeiten gab es hier eine große Papierfabrik, heute nicht mal mehr einen Supermarkt. Die Politik der Ampel sei viel zu ideologisch, sagt einer von Groß' Freunden. „Meine Freundin und ich brauchen zwei Autos, weil wir anders nicht zur Arbeit kommen.“ Klare Verhältnisse habe die Wahl jedenfalls nicht geschaffen.
Wenn man sich im Ortsbeirat oder bei der Feuerwehr engagiere, sei es egal, in welcher Partei man sei – solange man gemeinsam das Beste für den Ort erreichen will, findet einer der vier. „Man muss die AfD erst mal an die Regierung lassen, dann sollen sie sich unter Beweis stellen“, sagt ein anderer. „Aber glaubst du wirklich, dass man sie dann wieder loswird?“, fragt Groß.
„Das Krasse ist ja, dass du dich mit dem Wort Demokratie hier ja schon positionierst“, sagt Groß später.
Zurück in Weimar. Zwischen Tourist*innen holt der Direktkandidat der Werte-Union seine Wahlplakate von den Laternenmasten. Der Kofferraum ist schon bis zur Decke gefüllt. Die Plakate von Thomas Kemmerich hängen noch.
Durch Thüringens Dörfer gereist
„Wenn es nach der Wahl eine Veränderung geben wird, gehe ich davon aus, dass sie schleichend kommt“, sagt Nils Volkmann, der ebenfalls bei Weltoffenes Thüringen aktiv ist. „So wie damals dem Bauhaus zunächst die Gelder gestrichen wurden.“
In den letzten Monaten hat er in seinem Job als Produktdesigner pausiert und ist durch Thüringens Dörfer gereist, mit befreundeten Künstler*innen, Stift und Papier. Sie haben zuerst die Orte gezeichnet, und dann Menschen, die sich bei den sogenannten Brückenfesten mit an die Kaffeetafel gesetzt haben.
Viele Biografien mit vielen Brüchen habe er gehört, sagt Volkmann. „Ich hätte vor einem Jahr nicht gedacht, dass ich mal zum Advokaten der ostdeutschen verletzten Seele werde, aber jetzt ist es wohl so.“ Wie sehr die Erfahrung von Entwertung viele Menschen präge, habe er unterschätzt.
Der 41-Jährige hat an seinem eigenen Vater erlebt, was es bedeutet, sich nach der Wende von Job zu Job hangeln zu müssen. „Er hat das nie verkraftet“, sagt Volkmann. Im Wahlkampf habe nur die AfD positiven Bezug auf ostdeutsche Themen genommen, mit Slogans wie „Der Osten macht's“, dazu Björn Höcke, der auf einer Simson sitzt. Ehrlich zuzuhören, die Wende kollektiv zu verarbeiten, den Rechtsextremen das Thema nicht zu überlassen, das wünscht sich Volkmann.
Noch hängen die Buntstiftzeichnungen im Atelier, sortiert nach Orten und Daten. Volkmann hofft, sie bald ausstellen zu können. Mit den Brückenfesten will er weitermachen. „Thüringen-Labor für Vertrauensbildung“ soll das neue Projekt heißen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Diskussion um US-Raketen
Entscheidung mit kleiner Reichweite