Wahlen in Luxemburg: Nur die halbe Wahl
Jeder zweite Luxemburger hat einen ausländischen Pass und darf damit am Sonntag nicht wählen. Unterwegs mit zwei Kandidaten mit Migrationsgeschichte.
E nde Juli 2023 klingelt Raphaël Stacchiottis Telefon. Auf dem Display erscheint der Name des Premierministers. Stacchiotti weiß, dass die Parteien demnächst ihre Kandidat*innen-Listen einreichen müssen. Er weiß auch, dass andere mehr Erfahrung haben als er, der mit gerade 31 Jahren eben erst in die Politik eingestiegen ist. Mit einiger Spannung nimmt er den Anruf an. Am anderen Ende hat Xavier Bettel gute Nachrichten: „Herzlichen Glückwunsch! Du bist Teil unseres Teams“, sagt der Premier.
Natürlich ist dies nicht die Art, wie man normalerweise auf Wahllisten gelangt, nicht einmal in Luxemburg. Das Land mag winzig sein, die Wege kurz und Bettel, das sagen alle, die mit ihm zu tun haben, ein außergewöhnlich zugänglicher Zeitgenosse. Doch dass Raphaël Stacchiotti nun als einer von 21 Chamber-Kandidaten der Demokratesch Partei (DP) am 8. Oktober in Luxemburg antritt, erklärt sich neben seinen Ambitionen vielleicht auch dadurch, dass er den Premier seit Jahren kennt.
Stacchiotti kommt aus einer „blauen“, also liberalen Familie, wo schon immer DP gewählt wurde, genau wie seine Frau. Als Bettel 2013 erstmals gewählt wurde, gratulierte er ihm per Facebook und bekam überraschend eine Antwort. Seither sind sie in Kontakt. Im September 2022 war Bettel als Gast bei Stacchiottis Hochzeit. Irgendwann nahm der Bräutigam ihn zur Seite und vertraute ihm an: „Ich möchte der Gesellschaft etwas zurückgeben und in die Politik gehen. Wäre es eine Option, auf der DP-Liste anzutreten?“
Raphaël Stacchiotti, Kandidat der Regierungspartei DP
Ein Jahr später sitzt Stacchiotti an einem Spätsommermittag auf der Terrasse eines Restaurants in Colmar-Berg. Er trägt Jeans und einen grauen Pullover und hat Hunger mitgebracht. Im Sportgelände am Rand des Städtchens gab er Kindern bis vor Kurzem Schwimmunterricht. Genau in diesem Element kennt man ihn in Luxemburg. Viermal nahm der Lagenspezialist an Olympischen Spielen teil, erstmals 2008, mit 16 Jahren. Zwei Mal trug er die rot-weiß-blaue Landesfahne bei der Eröffnungsfeier. Nach den Spielen von Tokio 2020 beendete er seine Karriere.
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Italienische Nachnamen: Tolle Integration
Was für Stacchiotti in all den Jahren im Wasser nie aufkam, war der Gedanke, dass etwas Besonderes daran sein könnte, dass er mit seinen italienischen Wurzeln Luxemburg vertrat: „Ich bin Luxemburger, kein Italiener. Ich habe einen italienischen Namen, aber spreche kein Italienisch. Und mein ganzes Leben lang gab es keine einzige Situation, in der ich mich diskriminiert oder nicht dazugehörig fühlte. Ich war immer vollkommen integriert.“ Dass das Restaurant ein italienisches ist – purer Zufall. Die Auswahl ist nicht gerade groß in Colmar-Berg.
Über seiner Pizza chèvre chaud erzählt Stacchiotti, dass sein Urgroßvater nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Gegend um Perugia nach Luxemburg kam, um in einer Mine zu arbeiten, wie italienische Migranten das seit dem späten 19. Jahrhundert im Süden des Großherzogtums taten. Der Großvater folgte. Die Großmutter wiederum wurde bereits in Luxemburg geboren, ebenso Stacchiottis Vater, der als Erster aus der Familie studierte. An einer frankophonen Universität in Belgien lernte er seine Frau kennen, eine Belgierin. Zusammen zogen sie nach Luxemburg, wo sie drei Kinder bekamen. Raphaël ist das Jüngste.
Enkel und Urenkel italienischer Arbeitsmigranten, bei denen nur noch Nachname und die Herkunft aus der Stahlregion an ihre Vorfahren erinnern, gibt es viele in Luxemburg. Auch der schnoddrige Ermittler Luc Capitani ist einer von ihnen, Protagonist der gleichnamigen RTL-Krimiserie, die später mit großem Erfolg auf Netflix lief.
Auch in der Politik gibt es Personen mit einer solchen Biografie. Musterbeispiele gelungener Integration, findet Stacchiotti. Verantwortlich dafür macht er die Rahmenbedingungen: „Luxemburg gibt dir die Chance, dich zu entfalten, und zu sein, wer immer du sein willst.“
70 Prozent der Hauptstädter dürfen nicht wählen
In der oppositionellen Linkspartei Déi Lénk sieht man das ein wenig anders. Ana Correia da Veiga ist eine ihrer Spitzenkandidatinnen – in Luxemburg benennt jede der vier Regionalabteilungen einer Partei mehrere davon: „In der Hauptstadt dürfen 70 Prozent nicht wählen“, bringt sie es auf den Punkt. „Für mich ist das wie der Kampf um das Wahlrecht für Frauen, Afroamerikanerinnen oder Arbeiter.“ Sie berichtet vom Referendum, das 2015 über drei Verfassungsänderungen gehalten wurde. Eine davon: Wahlrecht für Personen, die seit zehn Jahren im Land leben. 78 Prozent lehnten ab – ein Tiefschlag für viele Aktivist*innen im Bereich Anti-Diskriminierung und Emanzipation.
Correia da Veiga, die im Sommer 40 wurde, erhielt ihren Luxemburger Pass als Teenager nach der Einbürgerung ihrer Eltern. Beide kamen von den Kapverden, die Mutter 1980, der Vater wenige Jahre zuvor. In der Familie wurde Kreolisch gesprochen. Sie selbst wurde in Luxemburg geboren und verbrachte fast ihr ganzes Leben in der Hauptstadt. Eigentlich will sie nirgendwo anders im Land wohnen – „weil ich Kulturveranstaltungen brauche“. Sie erzählt das am vorletzten Sonntag des Wahlkampfs, während sie das Auto, das ihre Déi-Lénk-Abteilung für diese Zeit geliehen hat, durch ihr Quartier lenkt.
Ana Correia da Veiga, Kandidatin der Linkspartei
„Im Süden von Bonnevoie leben Besserverdiener, im Norden viele finanziell Schwache. Schon in meiner Kindheit hatten sich dort viele Migrant*innen niedergelassen. Meine Eltern kauften Ende der 1980er ein Haus im Norden. Damals ging das noch mit zwei Mindesteinkommen. Meine Mutter war Reinigungskraft, mein Vater Bauarbeiter“, erzählt Correia, als sie die Autobahn ansteuert. Wegen des warmen Wetters trägt sie einen braunen, sommerlichen Hosenanzug. Ziel der Fahrt: Sanem im Südwesten Luxemburgs, kurz vor Esch. Die hiesige Linken-Abteilung veranstaltet dort ihr traditionelles Choucroute-Essen.
Kurz staut es sich auf der Ausfahrt Richtung Süden, also gibt es noch etwas Migrationsgeschichte. „Knapp 3.000 Menschen aus der ehemaligen portugiesischen Kolonie der Kapverden leben in Luxemburg. Offiziell. Rechnet man die, die etwa portugiesische Pässe haben, dazu, sind es dreimal so viel.“ Eine der drei Schwestern der Spitzenkandidatin schrieb eine Masterarbeit über die kapverdische Einwanderung nach Luxemburg. Die Familie Correia da Veiga war sehr katholisch. Ana selbst wollte als Kind Priesterin werden und wurde wütend, als die Mutter ihr erzählte, das sei für ein Mädchen unmöglich.
Man spricht portugiesisch
Es waren nicht die einzigen Schwierigkeiten, auf die sie traf. Diskriminierung und rassistische Beschimpfungen zählten zu ihrem Alltag als Kind. „Sobald man mit anderen Streit hatte, kamen diese Beschimpfungen. Später war das auch bei der Arbeit manchmal so. In einem Küchenjob sagte mir jemand, ich sollte zurück in meinen Käfig gehen. Heute habe ich das verdaut, aber als Kind war es sehr belastend.“
Wenige Kilometer entfernt vom italienischen Restaurant in Colmar-Berg liegt Bissen, wo Schwimmprofi Stacchiotti aufwuchs und heute als Sportkoordinator bei der Kommune angestellt ist. Durch das Zentrum plätschert träge das Flüsschen Atert, es gibt ein Veräinshaus mit ausladenden Geranien in den Fenstern, einen Festsaal, einen Sportpark. Vor der Kirche steht ein enormes aufklappbares Wahlplakat des Bürgermeisters David Viaggi, eines Sozialdemokraten, ebenfalls mit italienischen Wurzeln. Um die Ecke liegt das Cafè de la Place, das heute den Zusatz Chez Cristina führt.
Drinnen wird vor allem portugiesisch gesprochen, von Männern in Arbeitskleidung, die nach der Schicht ein Bier der portugiesischen Marken Sagres oder Super Bock zu sich nehmen. In vielen Luxemburger Städtchen und Dörfern gibt es diese Cafés, die noch immer ihre alten letzeburgischen oder französischen Namen tragen, aber portugiesisch geführt und vor allem frequentiert werden. An den Wänden hängen oft Devotionalien des Fußballclubs Benfica Lissabon, auch die Nachrichten- und Musikprogramme kommen aus Portugal.
In einem solch polyglotten Umfeld aufgewachsen, musste der Schwimmer Raphaël Stacchiotti oft Kolleg*innen von außerhalb Europas erklären, wo dieses Luxemburg eigentlich liegt. „Manche dachten, wir seien ein Teil von Deutschland“, erklärt er lachend und räumt ein: „In einer Stunde fährt man von Norden nach Süden, in einer halben von Westen nach Osten.“ Es beeindruckt ihn, dass sich dieses kleine Land hält, „zwischen dem großen Deutschland und dem starken Frankreich, und dass wir all die sprachlichen und kulturellen Einflüsse aufnehmen und diese Vielfalt umarmen“.
„Keine wirkliche Demokratie“
Wie er sich in diesem Miniatur-melting-pot künftig einsetzen will? „Sport- und Familienpolitik, Work-Life-Balance, Mobilität“, kommt es enthusiastisch. Stacchiotti lacht, als er einen Bekannten zitiert, der ihm riet: Wenn du Politik machst, mach es richtig – auch wenn du damit deiner Familie zur Last wirst.“ Die Fachgebiete skizzieren seine Situation recht zutreffend: Seine Frau und er haben dreijährige Zwillinge, das alltägliche Puzzle ist durch den Wahlkampf noch komplizierter geworden. Nach dem Kaffee empfiehlt er sich, eine Nachmittagsschicht im Gemeindehaus von Bissen steht bevor.
Am selben Abend steht der Neuling auf der liberalen Liste nun in dunklem Jackett und weißem Hemd schon wieder vor der städtischen Musikschule in Bertrange. Das Städtchen westlich der Hauptstadt ist eine DP-Hochburg, Mitglieder und Wähler*innen finden sich zur Walversammlung ein. Man begrüßt sich herzlich mit Umarmungen und Wangenküssen, kurz vor Ende kommt auch Xavier Bettel an, der kürzlich noch vor den Vereinten Nationen sprach.
Im letzeburgischen Plauderton nimmt er eine Momentaufnahme vor, dann stellt Finanzministerin Yuriko Backes die Kandidat*innen in alphabetischer Reihenfolge vor. Gegen Ende kündigt sie „den Mann mit den breitesten Schultern unserer Equipe“ an. Beschwingten Schrittes kommt Raphaël Stacchiotti zu langem Applaus auf die Bühne.
Der Tageszeitung Luxemburger Wort ist am nächsten Tag dagegen das Klatschen vergangen. Der Wahlkampf sei absurd und realitätsfremd, so ein Kommentar, weil er um Themen wie Ungleichheit, Erwerbsarmut und Klimawandel einen Bogen mache, vor allem aber, „weil die Hälfte der Einwohner nicht an den Wahlen teilnimmt“. Ein solches Land, so das Fazit, sei „auf Dauer nicht tragfähig – und auch keine wirkliche Demokratie“. Natürlich gilt dieser Mangel in anderen EU-Länden genauso. Nur stellen jene, die nicht wählen dürfen, dort nicht die halbe Bevölkerung.
Offenheit ohne Partizipation?
Diese Tatsache gerät leicht aus dem Blick, wenn man all die portugiesischen, italienischen oder serbokroatischen Namen auf den Wahlplakaten sieht, entlang der Serpentinen durch die grünen Hügel im Norden oder vor den Schornsteinen des Südens, in den Felsschluchten, durch die man sich der Hauptstadt nähert, und an den Laternenpfählen auf der Brücke über die Petruss, dieser Dorfbach tief unter einem spektakulären Viadukt. „Luxemburg floriert durch Migration“, jubiliert das Regierungs-Portal „Luxembourg – Let’s make it happen“ und preist „Offenheit und kosmopolitischen Flair“. Beim Thema Partizipation stößt sie an Grenzen.
Diese Erfahrung hat auch Ana Correia da Veiga gemacht. Ihre Politisierung begann kurz nach dem Millennium im „Comité Spencer“, benannt nach einem ermordeten kapverdischen Jugendlichen. Es war ein Bündnis gegen Jugendgewalt, aber es ging auch um Rassismus, kapverdische Kultur, Ausgrenzung, Homophobie.
Correia da Veiga wurde dort Trainerin, las im Gymnasium Literatur der Bürgerrechtlerin Maya Angelou, studierte im belgischen Liège Sozialarbeit. Noch heute arbeitet sie in dem Sektor. Vor den Parlamentswahlen 2013 wurde Déi Lénk auf sie aufmerksam und bot ihr einen Listenplatz an, fünf Jahre später war Ana Correia da Veiga erstmals Spitzenkandidatin.
Im Boulodrome von Sanem wird sie mit Applaus begrüßt. Schweres Sauerkraut-Aroma hat das Foyer eingenommen. Die Plakate enthalten Slogans für 300 Euro zusätzlichen Mindestlohn und gegen Wohnungsspekulation. Mit Kennermiene verspeist Correia da Veiga ihr Sauerkraut mit Würsten, trinkt ein alkoholfreies Bier und sitzt wenig später, während der Solidaritäts-Tombola, schon wieder im Auto. „Eigentlich wollten mehrere aus unserem Team hier sein. Aber sie sind geschlaucht“, kommentiert sie die heiße Wahlkampfphase.
Kapverdinnen braucht das Land
Helperknapp heißt das letzte Ziel des Tages. Die Gemeinde liegt eine halbe Stunde nördlich. Bei Mersch geht es ab von der Autobahn und hinein in die Hügel. Der Anruf eines Genossen, der schon vor Ort ist, instruiert sie, wo sie an diesem Nachmittag Wahlbroschüren austeilen muss: im Ortsteil Tuntange, geprägt von meist neuen Einfamilienhäusern der wohlhabenderen Sorte. „Der Luxemburger Traum“, kommentiert Correia die oft grauen, verschachtelten Blocks, deren Form durchaus an die Briefkästen erinnert, in die sie ihre Broschüren steckt. Aus dem tiefer gelegenen Ortsteil weht Kirmesmusik nach oben.
Bis zum Abend ist sie damit beschäftigt, mehrere Hundert der kleinen Heftchen in die Kästen zu werfen. Zurück geht es durch die dämmrigen Hügel. Wenn sie an einem Wahlplakat mit ihrem Gesicht vorbeifährt, findet sie das immer noch komisch, sagt Ana Correia da Veiga. Es ist das erste Mal, dass Déi Lénk Personen dort abbildet statt Forderungen. Was mit dem Luxemburger Wahlsystem zu tun hat, in dem sowohl einzelne Kandidat*innen als auch Parteien gewählt werden können.
„Gesichter, die man kennt, sind für neue Wähler*innen weniger abschreckend als der Name „Déi Lénk“, so Correia. Auch ihre Mutter, die gemeinsam mit dem Vater auf die Kapverden zurückgekehrt ist, sähe es lieber, würde die Tochter bei den Christdemokrat*innen antreten. Schwester Marlène dagegen, die in Esch wohnt und mittags auf einen Teller Sauerkraut vorbeischaut, bewertet die Kandidatur sehr positiv: „Ich bin stolz auf Ana. Sie ist dafür gemacht. Dass Kapverder*innen in die Luxemburger Politik gehen, ist neu. Überhaupt, es wird Zeit, dass People of Colour das tun.“
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