Wahlchaos in Berlin: Wahlwiederholung wahrscheinlich
Die Abgeordnetenhaus- und zu den Bezirksparlamentswahl müssen wiederholt werden. Darauf deutet die Bewertung des Verfassungsgerichts hin.
Eine Klatsche für die Senatsverwaltung für Inneres und die ihr unterstehenden Landeswahlleitung waren Seltings Aufzählungen allemal. Dezidiert rechnete Selting vor, dass schon im Vorfeld der Wahlen schwerwiegende Fehler begangen wurden: Die Anzahl der notwendigen Wahlkabinen sei falsch berechnet und oftmals seien zu wenige Wahlzettel zu spät verteilt worden.
Die Folge: Lange Schlangen vor vielen Wahllokalen, die teilweise wegen fehlender Stimmzettel geschlossen werden mussten. Insgesamt seien die Wahllokale während der Abstimmungszeit 83 Stunden geschlossen gewesen, wie sich aus den Unterlagen der Wahllokalleiter ergeben habe. Doch das, so Selting, sei nur die „Spitze des Eisbergs“. Denn die Dokumentationen der Wahllokalsleiter seien wegen deren Überlastung unvollständig. Durch die Schließung sei die Öffentlichkeit der Wahl verletzt worden; schuld daran sei vor allem die Innenverwaltung.
Auch dass nach 18 Uhr noch viele Wahllokale geöffnet waren, kritisierte das Gericht. Insgesamt, so dessen Rechnung, seien Wahllokale mehr als 350 Stunden nach 18 Uhr noch geöffnet gewesen. Die Schlussfolgerung: „Niemand wird herausfinden, wie viele Leute nicht gewählt haben und wie viele nach 18 Uhr nicht unbeeinflusst ihre Stimme abgegeben haben“, sagte Selting.
Auch kleine Fehler haben Wirkung
Im Vorfeld der Anhörung hatten viele Expert*innen und auch Abgeordnete der rot-grün-roten Koalition darauf hingewiesen, dass es zwar zahlreiche Fehler gegeben habe, dass diese aber in den wenigsten Fällen auch mandatsrelevant gewesen seien. Das heißt, sie hätten keine konkrete Auswirkungen auf die Sitzverteilung des Abgeordnetenhauses gehabt.
Ludgera Selting, Gerichtspräsidentin
Dieser Einschätzung erteilte das Verfassungsgericht eine klare Absage: Veränderungen der Sitzverteilung könnten bereits durch kleinste Fehler entstehen; Selting nannte eine „dreistellige Zahl“ für ausreichend. Zudem seien die Fehler flächenübergreifend in „mehr oder weniger großem Ausmaß“ in allen Wahlkreisen aufgetreten. Das Vertrauen der Bürger*innen in die Wahl würde dauerhaft beschädigt, wenn die Wahlen sowohl für das Abgeordnetenhaus wie auch für die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen nicht wiederholt würden.
Am 26. September 2021 standen in Berlin vier Abstimmungen an: Gewählt wurden Bundestag, Abgeordnetenhaus und die Bezirksparlamente, zudem wurde über den Enteignen-Volksentscheid abgestimmt. Parallel fand dazu der Berlin-Marathon mit zehntausenden Teilnehmer*innen und Zuschauer*innen statt, der weite Teile der Innenstadt blockierte. Außerdem galten umfassende Corona-Auflagen.
Was die Gültigkeit der Bundestagswahl angeht, hat die Sitzung keine direkte Bedeutung; darüber entscheidet der Bundestag selbst. Bereits im Mai hatte allerdings der Bundeswahlleiter eine Wiederholung der Wahl in sechs der zwölf Berliner Wahlkreise gefordert. Eine Entscheidung wird in den nächsten Wochen erwartet.
Politische Debatte hat begonnen
In Berlin hat die politische Debatte indes längst begonnen: „Franziska Giffey ist mit dem heutigen Tage nur noch eine Regierende Bürgermeisterin auf Abruf“, erklärte Stefan Evers, Generalsekretär der Berliner CDU. Deutlicher hätte das Gericht nicht werden können. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD Andreas Geisel nach diesem Tag nicht selbst zum Rücktritt auffordert.“
Torsten Akmann, Staatssekretär der Innenverwaltung, erklärte, es sei unstreitig, dass es zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei am 26. September 2021. „Das hat dazu geführt, dass das Vertrauen der Berliner*innen in die Wahl zurecht beeinträchtig worden ist.“ Er könne jedoch ausschließen, dass sich solche Wahlfehler noch einmal wiederholen würden. Seiner Meinung nach habe sich das Gericht „fair und mit Nachdruck“ schwierigen juristischen Fragen angenommen. Darüber hinaus mochte er sich nicht weiter zu der Darstellung des Gerichts äußern, da diese noch nicht final sei.
Sebastian Koch, der Geschäftsführer der Berliner Linkspartei, sprach von „bestürzenden Fehlern und Pannen“. Nun werde man das Ergebnis der Verhandlung abwarten, aber bereits „die entsprechenden Vorbereitungen für eine mögliche Wiederholungswahl treffen“.
Für den weiteren Verlauf der Verhandlung war die Anhörung der ersten Beteiligten geplant. Die neun Richter*innen wollten sich zunächst nur mit vier von 35 eingereichten Einwänden befassen – jenen von der Landeswahlleitung, der Senatsinnenverwaltung sowie von AfD und Die Partei. Diese Verfahren seien geeignet, „alle relevanten Fragen im Zusammenhang mit dem Wahlgeschehen abzudecken“, hatte das Gericht im Vorfeld mitgeteilt.
Wegen der vielen Beteiligten – dazu gehören neben den Antragstellern unter anderem die Landeswahlleitung, Abgeordnete sowie betroffene Bewerberinnen und Bewerber – wurde in einem Hörsaal der Freien Universität verhandelt. In diesem ist Platz für insgesamt 570 Menschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen