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Vorsitzende über Winternotprogramm„Wir erwarten keinen Dank“

Aline Zieher hat als Vorsitzende des Fördervereins Winternotprogramm die Grenzen ihrer Hilfsmöglichkeiten erfahren. Trotzdem macht sie weiter.

Aline Zieher: Kümmert sich ehrenamtlich um Menschen, die auf der Straße leben Foto: Miguel Ferraz
Sarah Zaheer
Interview von Sarah Zaheer

taz: Frau Zieher, wann haben Sie das erste Mal ehrenamtlich gearbeitet?

Aline Zieher: Im Winternotprogramm war das 2012. Davor war ich beruflich sehr eingespannt und daher dementsprechend eingeschränkt. Seit 2009 habe ich aber auch ein anderes Ehrenamt.

Was ist das für eins?

Das ist eine Stiftung, deren Ziel es ist, sich mit einem Charity-Programm ehemaligen Zwangsarbeitern speziell auf der Krim zu widmen und Forschung zur nationalsozialistischen Zwangsarbeit zu fördern.

Sie meinen die Kurt-und-Herma-Römer-Stiftung in Hamburg?

Genau. Herma Römer war eine gute Freundin von mir, wir kannten uns schon viele Jahre, als sie die Stiftung gegründet hat. Ich war immer irgendwie involviert, auch wenn ich mich wegen meiner Berufstätigkeit nicht weiter einbringen konnte. Sie ist 2009 gestorben und davor bin ich von ihr gebeten worden, weiterhin für die Stiftung aktiv zu sein.

Und wie kamen Sie zum Förder­verein Winternotprogramm, der wohnungslose Menschen verpflegt, die von der Stadt Hamburg im Winter zwar ein Bett, aber kein Essen bekommen?

Manches ist auch Zufall im Leben. Ich hatte immer das Gefühl, dass Obdachlose am Ende der gesellschaftlichen Pyramide stehen. Damals habe ich nach einer sinnvollen Tätigkeit gesucht, die ich neben anderen Aufgaben gut einmal die Woche für mehrere Stunden machen kann. Es hat zu dem Zeitpunkt einfach gut gepasst.

Irgendwann ist aus den wenigen Stunden in der Woche aber ein Vollzeitjob geworden.

Das stimmt wohl. 2016 haben die ehemaligen Vorsitzenden aufgehört. Es ist oft im Ehrenamt so, dass es nicht so viel Interesse gibt, diese Vorstandsjobs zu besetzen. Mein Kollege und ich haben eingewilligt, es zu übernehmen. Denn den Verein aufzulösen, ist nicht denkbar gewesen.

Im Interview: Aline Zieher

71, geboren und aufgewachsen im Raum Frankfurt, lebt seit 40 Jahren in Hamburg. Sie ist Soziologin und begann 2012 als Ehrenamtliche im Verein Winternotprogramm zu arbeiten, welcher die Verpflegung von Obdachlosen in den Winternotunterkünften in Hamburg organisiert. Seit 2016 ist sie 1. Vorsitzende des Vereins. Sie engagiert sich ebenfalls im Vorstand der Kurt-und-Herma-Römer-Stiftung, die sich für Opfer faschistischer Zwangsarbeit einsetzt.

Die „Bild“-Zeitung hat Sie mal als „Winterengel“ von Hamburg bezeichnet.

Oh ja, das war sicher lieb gemeint, aber da hatte ich echt mit zu ringen. Stellen Sie sich mal vor, Sie schlagen die Zeitung auf und da steht, Sie seien ein Engel!

Ach, es gibt bestimmt viele Menschen, die sich darüber freuen würden. Sind Sie vielleicht einfach bescheiden?

Nein, ich finde es nur unpassend. Ohne meinen Kollegen, der die gesamte EDV macht und aufgebaut hat, und meine anderen Kolleg*innen mit internen Aufgaben ginge es niemals, die vielen freiwilligen Helfer eingeschlossen. Darüber redet aber niemand. Es stimmt also einfach nicht. Das hat aus meiner Sicht nichts mit Bescheidenheit zu tun.

Was tun Sie als Vorsitzende?

Im letzten Jahr haben wir mit 300 Freiwilligen das ganze Programm gewuppt. Das muss man koordinieren und neue Freiwillige finden und begleiten. Es werden Teams gebildet, die sich selbst organisieren. Wenn jemand ausfällt, gibt es Springerlisten, damit immer genügend Leute da sind, die um Punkt 19 Uhr ein Essen in den städtischen Unterkünften servieren. Dazu kommt die Logistik, wir bekommen 40 Prozent der Lebensmittel von der Tafel, den Rest kaufen wir dazu. Der dritte Schwerpunkt ist die Spendenakquise.

Was für Essen bereiten Sie zu?

Es gibt immer eine warme Suppe und belegte Brote. Die Brote sollen so aussehen, wie es die Leute in den Auslagen der Bäckereien sehen, die sie sich aber nicht leisten können. Und natürlich sollen sie gesund sein. Es kommt also immer auch Gemüse aufs Brot. Tomatenbrot mit Zwiebeln ist der Renner! Wir versuchen, immer eine Süßspeise anzubieten, weil die Menschen auf der Straße unterkühlt sind und niedrigen Blutzucker haben. Ab 17 Uhr können die Leute in die Unterkunft rein. Dann gibt es erst mal Kaffee oder Tee und was Kleines gegen den Hunger – Obst, was Salziges oder das, was da ist. Die obdachlosen Menschen wissen nach ein paar Wochen, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Das bringt Ruhe in die Nacht.

Warum ist es Ihnen so wichtig, dass das Essen auch schön aussieht?

Es geht nicht nur um die reine materielle Befriedigung. Ein schönes Essen gibt den Menschen vielleicht ein bisschen von ihrer Würde zurück. Wir wollen alle Geschmäcker treffen. Es ist schön zu sehen, wenn es die Leute freut. Speziell um Weihnachten rum bemühen wir uns sehr. Die obdachlosen Menschen sind in der Zeit schlecht drauf, weil es sie an ihre besseren Zeiten erinnert. Das ist schon eher ambivalent – auf der einen Seite schön, auf der anderen Seite traurig. Letztes Jahr haben wir kleine Päckchen gepackt mit Schoki und Handschuhen. Das sind Kleinigkeiten, die sehr viel bewirken können.

Ist das diesen Winter mit der Coronapandemie überhaupt möglich?

Im Sommer hat die Stadt die Unterkünfte offen gelassen und die Versorgung übernommen. Mit unserem städtischen Partner „Fördern und Wohnen“ haben wir uns im August auch schon gefragt, wie wir das mit ehrenamtlicher Unterstützung diesen Winter machen können. Wir haben alle Varianten durchgespielt, aber das Infektionsrisiko ist einfach zu hoch. Deswegen kümmern wir uns nur um das Frühstück und die Stadt bezahlt einen Caterer für das Abendessen. Trotzdem wollen wir in der Vorweihnachtszeit den Menschen weiterhin Kleinigkeiten vorbereiten. Und wir versuchen unsere Spender auch darauf aufmerksam zu machen, andere Dinge bereitzustellen. Ganz wichtig ist frische Unterwäsche. Auch Socken und Handschuhe sind Mangelware.

Sollte die Stadt nicht eigentlich auch unabhängig von Corona für eine Verpflegung von obdachlosen Menschen sorgen?

Die Unterkünfte werden aus Steuergeldern finanziert. Normalerweise ist es so, dass die Menschen einen Leistungsanspruch haben, wenn sie eine gewisse Zeit gearbeitet haben. Diese systemimmanente Logik ist die Begründung dafür, weshalb es nicht möglich ist, dass die Stadt die Verpflegung zusätzlich finanziert.

Sollte die Politik da mehr in Verantwortung genommen werden?

Da muss man sich eher fragen, ob unser System der Obdachlosenhilfe generell noch angemessen ist. Es gibt Projekte wie zum Beispiel das „Housing First“, wo obdachlose Menschen erst mal in eine Unterkunft gebracht werden und sie dann dabei begleitet werden, in ihr ziviles Leben zurück zu finden. Das schaffen nicht alle Menschen, wenn sie zu lange auf der Straße gelebt haben, aber perspektivisch wäre das ein besserer Weg. Aber als Ehrenamtliche kann man sich auch nicht mit allem vertraut machen. Man muss seine Grenzen kennen.

Was meinen Sie damit?

Keiner von uns ist Profi in der Obdachlosenhilfe. Da braucht es Erfahrung und Sachverstand. Wir konzen­trieren uns darum auf das, was wir gut können. Und 300 ehrenamtlich tätige Menschen und die ganze Logistik zu managen, braucht eben auch seine Zeit. Wir haben nicht die Illusion, dass wir irgendetwas an der generellen Situation der Menschen ändern.

Frustriert Sie das nicht auch manchmal?

Ich habe mir schon mal die Frage stellt, was wir da eigentlich machen. Und ob es langt. Man braucht aber diesen realistischen Blick. Wenn man etwas macht, sollte man es gut machen. Natürlich überlegen wir uns im Vorstand auch perspektivisch, wie wir unsere Arbeit ausbauen könnten. Aber wir sind rein spendenbasiert, wir werden nie ein Haus kaufen können mit Wohnungen für Obdachlose. Darüber Frust aufzubauen, bringt nichts. Dann macht man lieber den Teil, den man machen kann. Und zwar gut und zuverlässig.

Sie sind eigentlich seit sieben Jahren im Ruhestand. Sehnen Sie sich nicht manchmal nach der Ruhe?

Ja, manchmal wird es vielleicht zu viel. Aber ich habe mich dafür entschieden. Natürlich geht man auch eine Verpflichtung ein, aber wenn es mich nicht erfreuen würde zu sehen, dass es funktioniert und bei den betroffenen Menschen ankommt, würde ich es nicht tun. In der Essensausgabe erkennt man die Leute manchmal wieder, macht einen Schnack und behandelt sie mit Respekt. Das freut die Menschen.

Hat sich Ihre Denkweise über Obdachlosigkeit über die Jahre verändert?

Ich hatte schon immer einen Blick auf gesellschaftliche Dinge, aber ich kannte die Schicksale obdachloser Menschen nur aus der Zeitung. Da verändert sich etwas, wenn man direkt mit den Betroffenen in Berührung kommt. Man lernt, dass man Glück gehabt hat im Leben. Vielleicht klingt es übertrieben, aber es macht auch demütig. Im Sinne von: Gib mal was zurück an die Gesellschaft, wenn dir selbst extreme Schicksalsschläge erspart geblieben sind.

Woher kommt Ihr Interesse an gesellschaftlichen Problemen?

Ich habe Soziologie studiert.

Und woher kam Ihr Interesse für Soziologie?

Meine Großmutter, Jahrgang 1892, war erklärte Sozialdemokratin. So verlief auch ihr Leben. Sie hat Erzieherin gelernt und studiert, was für die damalige Zeit sehr besonders war. Da gibt es also sicher familiäre Hintergründe.

Man merkt, dass Sie nicht so gern über sich selbst sprechen.

Ich möchte mich nicht so herausheben. Dass wir mit dem Winternotprogramm erfolgreich sind, liegt daran, dass wir ein gutes Team im Vorstand sind. Es ist ein Gemeinschaftsprodukt. Einer muss eben den Vorsitz machen. Es ist mir persönlich nicht so angenehm, über mich zu sprechen, aber es ist auch einfach der Sache nicht adäquat.

Wie ist denn eigentlich die Resonanz der obdachlosen Menschen auf Ihre Hilfe?

Ich würde sagen … überwiegend positiv.

Nur überwiegend?

Manche obdachlosen Menschen haben schlimme Dinge erlebt. Man fragt natürlich nicht nach. Sie sind dann eher verhalten. Aber wenn man genauer hinguckt, sieht man, dass sie sich doch sehr darüber freuen. Meine Devise ist: Kein Obdachloser muss sich bedanken. Im Ehrenamt kommt es auf die Haltung an. Wenn man Dank erwartet, sollte man gar nicht erst anfangen. Klar, kriegt man viel zurück und man tut es auch für sich. Aber zu erwarten, dass der andere Mensch mit einer Haltung der Dankbarkeit entgegentritt, finde ich respektlos.

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