■ Vorschlag: Die „Wunde der Scham“. Georges- Arthur Goldschmidt liest im LCB
Als Elfjähriger mußte Georges-Arthur Goldschmidt 1939 sein Zuhause in Reinbek bei Hamburg ohne seine Eltern verlassen. Ein Kinderheim im besetzten Frankreich wurde dem jüdischen Jungen zum rettenden Unterschlupf vor den Nazis – aber auch zum Ort eines Martyriums. Von seinen männlichen Mitinsassen als Fremder gequält und vergewaltigt, von den Erziehern gezüchtigt, schuf sich das Kind eine Traumwelt. Ein Fluchtpunkt im Innern, das ihm zur letzten Bastion wurde. Zugleich aber verstörte ihn, daß er die Schmerzen der Mißhandlungen zunehmend als sexuelle, homoerotisch durchsetzte Lust empfand.
Georges-Arthur Goldschmidt lebt heute als Autor und Übersetzer (etwa von Peter Handke) in Paris. Die Erlebnisse seiner Kindheit haben ihn nie losgelassen. Fast schon zwanghaft beschwört er wieder und wieder die pubertären Nöte und das Erwachen der homosexuellen Neigungen, die in selbstquälerischen Folter- und Opferphantasien gebannt werden. Das Ritual des Erzählens als Versuch, Herr über die traumatischen Erlebnisse zu werden. Doch das Kind vermag seine masochistischen Obsessionen ebensowenig zu verstehen wie sein Jüdischsein. Diese Erinnerungen an ein immerwährendes Gefühl von Schuld und Andersartigkeit, von Verlorenheit und der „Wunde der Scham“ verarbeitet Goldschmidt in halluzinatorische Bilder von Schrecken und Faszination. Erst mit seinem Buch „Die Absonderung“ (1991) allerdings hat er wieder zur deutschen Sprache zurückgefunden – einer Sprache, die bei ihm luzid und leicht klingt und in langen rhythmischen Satzperioden den Klang des Französischen zu imitieren scheint.
In seinem fünften Roman „Die Aussetzung“, der gerade im Ammann Verlag erschienen ist, hat Goldschmidt sein Psychogramm einer Kindheit jetzt fortgeschrieben. Weil es im Kinderheim zu gefährlich geworden war, wurde der 16jährige 1944 auf einem Bauernhof im Hochtal von Savoyen versteckt. Doch auch dort änderte sich sein innerer Zustand nicht. Heute abend stellt der 68jährige Georges-Arthur Goldschmidt sein Buch im Literarischen Colloquium vor. Daran anschließend diskutieren mit ihm der Literaturkritiker Wilfried F. Schoeller und der Berliner Schriftsteller Hans Ulrich Treichel. Moderation: Hubert Winkels. Axel Schock
Heute, 20 Uhr, Literarisches Colloquium, Am Sandwerder 5.
Eine Aufzeichnung sendet der DLF am 31.8., 20.05 Uhr.
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