Vor der Bundestagswahl: Kandidat:innen im Klimacheck
Die Initiative #wählbar2021 durchleuchtet die Klima-Ambitionen aller potenziellen Abgeordneten. Das soll auch neue Allianzen im Bundestag fördern.
Empfohlener externer Inhalt
Wäre die Demonstration nur hier bei der CDU, dann wäre George gar nicht gekommen. Doch ein weiterer Zug steht vor dem Willy-Brandt-Haus der SPD, später trotten sie gemeinsam zur Zentrale der Grünen. George ist kein Demonstrant. Er will informieren. Auf einer Bühne stellt er sein Projekt „#wählbar2021“ vor.
„Wir haben 19 Maßnahmenpakete, vom Tempolimit bis zur Bilanzierung von Treibhausgasen in der Lieferkette und klimaschonender Landnutzung erarbeitet“, erklärt er. Zu denen haben er und seine Mitstreiter:innen alle Kandidat:innen für den Bundestag um Stellungnahme gebeten.
„Der Erfolg hat uns selbst überrascht“, sagt George. Schon mehr als die Hälfte der befragten Politiker:innen hat mitgemacht. Das Ziel: Wer sich fürs Klima interessiert, soll prüfen können, wen aus seinem Wahlkreis er in den Bundestag schickt – und zwar genauer, als der Blick in die Wahlprogramme der Parteien es zulässt.
Laschet, Scholz und Lindner haben nicht geantwortet
Das Ganze beginnt mit den Spitzenkandidat:innen und einer kleinen Enttäuschung: Armin Laschet für die CDU/CSU, Olaf Scholz für die SPD und Christian Lindner für die FDP haben noch keine Antworten. Annalena Baerbock für die Grünen und Janine Wissler für die Linken haben den Fragebogen hingegen ausgefüllt.
Danach kann man entweder die ganze restliche Liste durchgehen oder per Schnellsuche seinen HeimatkandidatInnen auf den Zahn fühlen. Es geht dabei ins Detail: Die 19 Thesen etwa zu CO2-Preis, Klimabildung in Schulen, Tempolimit, Industriepolitik, Wasserstoff, Klimaschutz als Rechtspflicht des Staates, Kreislaufwirtschaft oder Abbau von Subventionen enthalten jeweils noch mehrere konkrete Forderungen.
Kandidat:innen, die noch nicht geantwortet haben, sind dennoch aufgeführt – und per Knopfdruck können Wähler:innen eine vorformulierte E-Mail an diejenigen erstellen und zum Mitmachen auffordern.
Hinter der Aktion steht der Verein „CO2-Abgabe e. V.“. Dessen Geschäftsführer Jörg Lange arbeitet in einem Ingenieurbüro und hat auch mit Umwelt- und Klimapolitik zu tun. „Dabei bin ich immer wieder auf bürokratische Hindernisse gestoßen“, sagt er. Seine Erkenntnis: Klimapolitische Veränderung geht nur in den Parlamenten. Und wie die kommenden Abgeordneten im Bundestag handeln, sei entscheidend.
„Klimapolitik muss im nächsten Bundestag parteiübergreifend gelingen“, sagt Lange. So entstand die Idee, an alle potenziellen Abgeordneten einzeln zu schreiben, um Gemeinsamkeiten unabhängig der Parteizugehörigkeit zu finden.
Gefragt wurden die Parteien aus dem Bundestag, aber auch kleinere Bewerber wie die ödp oder „die Basis“. Die AfD haben die Organisatoren weggelassen. „Da die Partei Klimapolitik insgesamt ablehnt, macht es keinen Sinn, sie zu fragen“, sagt Lange.
Nach aktuellem Stand haben von den großen Parteien 243 Grüne (80 Prozent der Befragten), 177 Sozialdemokrat:innen (59 Prozent), 170 Linke (58 Prozent), 134 Liberale (45 Prozent) und 13 Christdemokrat:innen (4 Prozent) mitgemacht. Sie haben den Maßnahmen zugestimmt oder geschrieben, unter welchen Bedingungen sie den Paketen zustimmen würden, und erklärt, warum sie nicht oder anders an die Themen herangehen würden.
Unerwartete Gleichgesinnte ausfindig machen
Das Ziel der Organisation ist, die einzelnen Kandidierenden gemäß ihrem Gewissen zu befragen. Jede:n einzeln also. Viele Grüne, vor allem die Top-Leute, haben trotzdem eine gemeinsame Antwort formuliert. „Wir GRÜNE wollen die Emissionen im Gütertransport deutlich senken“, schreiben zum Beispiel gleich mehrere wörtlich.
Was Lange noch auffällt: Kandidierende der CDU/CSU positionieren sich kaum. Die Union habe eine gemeinsame Antwort angeboten, allerdings mit selbstbestimmten Schwerpunkten, sagen die Initiatoren. „Dabei hoffen wir“, sagt Jörg Lange, „dass sich gerade auch die Kandidierenden der Union selbst positionieren und nicht auf die Parteiposition zurückziehen.“
Zwei allerdings stechen heraus: Philipp Albrecht aus Oldenburg und Diana Stöcker aus Lörrach. Beide sind progressiv eingestellt, Letztere schließt sogar ein Tempolimit nicht aus. Von ihren für die Union untypischen Gemeinsamkeiten erfuhren sie durch das Projekt. Denn so soll es gerade nach der Wahl laufen: Abgeordnete, die eigentlich ähnliche Meinungen haben, aber nichts voneinander wissen, sollen zueinander finden.
Denn nach der Wahl soll die Arbeit erst richtig losgehen. Dann wollen Lange und seine Mitstreiter:innen sämtliche Antworten auswerten, sortiert nach den letztlich gewählten Bundestagsabgeordneten. „Wir werden nach Mehrheiten für geeignete Maßnahmen suchen“, erklärt Lange. Sofern vorhanden, werde man die jeweiligen Politiker:innen dann darauf hinweisen: ein Service fürs Netzwerken, um klimapolitisch komplexe Themen vielleicht auch über Parteigrenzen hinweg zu bearbeiten.
Zusammengestellt hat die Maßnahmen Lange selbst. „Man könnte sich mit jedem einzelnen Paket tagelang beschäftigen“, sagt er. Er sagt, er habe das Fachwissen vieler seiner Unterstützer:innen gebündelt. Dazu zählen etwa Monika Griefahn, Greenpeace-Mitgründerin und ehemalige SPD-Umweltministerin von Niedersachsen, die Ökostrom-Unternehmerin Ursula Sladek, der Umweltwissenschaftler Ernst von Weizsäcker.
Bei der „Klimawahl“-Demo in Berlin kommt die Idee von #wählbar 21 gut an: „Wählbar ist eigentlich niemand wirklich“, sagt Helen. Trotzdem findet sie, dass es eine „Klimawahl 2021“ wird, wie ihr Schild Auskunft gibt. „Weil diese Regierung als eine der letzten noch wirklich etwas verändern kann.“ Auch Sophie, 21 Jahre alt und Erstwählerin, ist von den regierenden Parteien enttäuscht. Von #wählbar2021 denkt sie, dass es wirklich ein Mittel sein könnte, um die einzelnen Abgeordneten besser einschätzen zu können.
Die Initiator:innen wünschen sich nicht nur mehr Mitarbeit in der Politik – sondern auch bei den Menschen an den Wahlurnen. „Es machen noch nicht so viele Wähler:innen mit, wie wir uns das wünschen würden“, sagt Lange. Das sieht auch sein Mitarbeiter Philipp George so, der bei der Demo wirbt: „Wir sind sozusagen wie der Wahl-O-Mat, nur mit einem klimapolitischen Fokus.“ Damit jede:r weiß, wer eigentlich wählbar ist. Und dass Klimapolitik alle angeht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
Berlin nimmt Haftbefehl zur Kenntnis und überlegt