Vor der Brexit-Abstimmung: Die (Un-)Einigkeit vor Westminster
Seit Monaten stehen sich Befürworter und Gegner des Brexit am Rande des Parlaments die Füße platt. Sie wollen ins Fernsehen – jetzt erst recht.
Am Dienstag den 15. Januar entscheidet sich, ob das Parlament dem von Premierministerin Theresa May und der EU ausgehandelten Austrittsvertrag zustimmen wird. Im Vorfeld dieser Entscheidung, die eigentlich schon am 11. Dezember hätte fallen sollen und die dann von May verschoben wurde, hat sich die Debatte in Großbritannien noch einmal stark polarisiert. Beide Seiten, Menschen, die sich für den Verbleib in der EU einsetzen, und jene, die einen harten Brexit fordern, machen mobil. Mit Plakaten stehen sie überall im Land auf Marktplätzen, Fußgängerzonen – und vor dem britischen Parlament.
Waren es bis vor Kurzem nur zwei große Gruppen, „Leave Means Leave“ auf der Brexit-Seite und „People’s Vote“ auf der anderen, haben sich seit Dezember britische „Gelbwesten“ dazugesellt. Sie füllen das Vakuum, das Ukip hinterlassen hat. Jener Partei, die erfolgreich zum Brexit gedrängt hatte und sich nach dem Referendum selbst zerlegte.
Anfang der vergangenen Woche kam es nun zu einem Zwischenfall im Bereich zwischen dem College Green, einer kleinen Rasenfläche, die von TV-Sendern für ihre Kameraaufbauten genutzt wird und dem Parlament auf der anderen Straßenseite: Anna Soubry, eine bekannte konservative Abgeordnete und EU-Befürworterin, wurde von einer Gruppe Männer bedrängt, als Nazi beschimpft und dabei mit dem Handy gefilmt. Was eine Debatte sowohl über Sicherheit als auch über Meinungsfreiheit zur Folge hatte. Mancher fühlte sich an die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox durch einen rechtsradikalen Brexit-Befürworter wenige Tage vor dem Referendum erinnert.
Seit Anfang der Woche läuft die Aktion „Outrage“
„Mit solchen Leuten habe ich nichts am Hut“, versichert DeLucy. Sie versteht ihren Einsatz hier als „Einsatz zur Rettung der demokratischen Werte des Landes“. Das ist der Londonerin sogar so wichtig, dass sie trotz ihrer Kinder, ihres Magisterstudiums in europäischem Recht und ihres Jobs als Leiterin einer Stiftung fast jeden Tag hier ist, und das seit Dezember: „Verstehen Sie mich nicht falsch“, informiert sie ungefragt, „ich bin für, ja, ich liebe sogar Europa. Die Union war so lange hervorragend bis Maastricht begann, die Nationen zu zerstören.“
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Die Abgeordneten im Haus hinter ihr bezeichnet sie als „knaves“, ein eher altmodisches englische Wort, dass so viel wie Halunken bedeutet. Ein „Brexit nur dem Namen nach“, das würde ihr und denen, die sie vertritt, nicht zusagen, denn „das sei nicht das, wofür die Mehrheit des Volks gestimmt hat“. Sie behauptet, dass normalerweise auch andere Europäer hier mit ihr stünden, auch wenn gerade keine da seien. Endlich hupt auch ein Auto.
An einer anderen Stelle steht Harry Todd, 27, bebrillt, übergewichtig und mit blauer original „Leave-Means-Leave“-Jacke sowie entsprechender Fahne ausstaffiert. Jemand macht neben ihm ein Selfie. Todd gibt sich als Organisationsleiter für „Leave-Means-Leave“-Kampagnen zu erkennen. Seit Anfang der Woche läuft die Aktion „Outrage“, ein Spiel mit dem Wort out, das symbolisch für den Brexit steht, zugleich kann aber Outrage auch Frevel bedeuten.
Mit Hilfe von Outrage sollen vor der Abstimmung im Parlament alle Brexit-Befürworter so sichtbar wie möglich werden. Todd allerdings überrascht nun mit dem Bekenntnis: „Ich wählte eigentlich ‚Remain‘.“ Und das, obwohl er aus Sunderland stammt, dem tiefsten Nordosten Englands, wo 61 Prozent der Bevölkerung „Leave“ wählten. Heute aber ist Todd für einen extremen Brexit. Und wenn der nicht stattfindet? Dann drohe „die größte konstitutionelle Krise aller Zeiten“, warnt er, bevor seine Stimme hinter lautem Getrommel und Glockengeläut verschwindet.
„No Deal, No Problem“
Der Lärm entstammt einem alten, über 100 Jahre alten Holzwagen, den der Ökonom David Waller und seine Frau Nancy heute aus Shropshire im Nordwesten Englands hierher an den Rand des College Green gebracht haben. Am Wagen sind eine Glocke und eine Trommel befestigt: „Die Glocke ist eine symbolische Freiheitsglocke“, erklärt David Waller. „No Deal, No Problem“, steht am Wagen, während Waller vom ehemaligen industriellen Glanz des Landes schwärmt und an die Gefallenen der Weltkriege erinnert, die für die Freiheit gekämpft hätten.
Die beiden sind erst zum zweiten Mal in London, um zu protestieren. Beim ersten Mal, einem Brexit-Marsch, fanden sie sich unter Rechtsradikalen wieder: „Das sind wir nicht, wir sind moderat und politisch in der Mitte“, versichert David und blickt in die Richtung einer Gruppe von Leuten in gelben Schutzwesten.
„Schaut euch dieses Video an“, fordert eine ältere Frau in der Gruppe die anderen auf. Für ihr Alter hat sie einen harten Look. Sie ist an die 60, trägt kurze Haare, eine Bomberjacke, ihre Stimme ist tief. Auf ihrem Handy läuft die Szene mit Soubry in Zeitlupe. „Es sieht so aus, als ob einer der Männer einem anderen was zusteckt“, sagt sie. „Man hat uns das mit dem Nazizeug angehängt, durch Leute die absichtlich provozierten, um uns einen schlechten Namen zu geben“ ergänzt ein dicklicher Mann, Mitte 50, auf dessen gelber Weste ein großer Union Jack zu sehen ist.
Keiner von den etwa zehn Versammelten möchte namentlich in der Presse erwähnt werden: „Wir trauen euch nicht mehr“, sagen sie. Samstag wollen die „Gelbwesten“ sich zum ersten Mal in Tausendschaften vor dem Parlament versammeln. „Es geht uns nicht nur um den Brexit, sondern auch um Gerechtigkeit, um Kumpels, die zu Unrecht im Knast sind, um Wohnungen für Veteranen statt für Flüchtlinge. Aber Sie werden das eh nicht in ihrer Zeitung schreiben.“
Man grüßt sich
Vielleicht zehn Meter von ihnen entfernt steht an der Absperrung zum Medienbereich Steven Bray, 49. Er gehört nicht zu den „Gelbwesten“, sondern trägt einen blauen Zylinderhut mit den Worten „Stop Brexit“ und eine mit gelben Sternen versehene britischen Fahne.
Bray ist das bekannteste Gesicht der EU-Befürworter*innen. Bei Fernsehübertragungen stellt sich Bray seit siebzehn Monaten beständig in den Hintergrund. Er stammt aus Devon im Westen Englands. Durch seine Präsenz, er lebt momentan bei Unterstützern in London, entstand die von ihm gegründete Bewegung Sodem (Stand of Defiance European Movement). Warum all die Mühe? „Es war mir einfach sehr wichtig, dass die Stimme der Remainer präsent ist.“
Ruth Fryer, Aktivistin
Er bekommt viel Lob, wird aber auch beschimpft. Dennoch kenne er viele von der anderen Seite, man grüße sich. Nur die Neuen hätten für Ärger gesorgt. Er zeigt auf seine kleine Kamera, die an seiner Jacke steckt und alles vor ihm aufnimmt. „Die neuen Rechtsradikalen sind darauf aus, sich mit uns anzulegen.“
Auch Sue, 57, die neben ihm steht und versucht, mit Fahnen und blauen Luftballons in den Hintergrund von TV-Übertragungen am College Green zu gelangen, trägt eine kleine Körperkamera. Die ehemalige Krankenschwester, die aus Sicherheitsgründen ihren Nachnamen nicht nennen möchte, erzählt, wie ihr Vater einst in Frankreich im Sterben lag und der Familie aufgrund der europäischen Abkommen keine Kosten entstanden. Dieser Gedanke bestärke sie – und auch, dass „mein Vater gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg kämpfte und sich in Großbritannien tapfer gegen Faschisten stellte“. Sie ist fast täglich hier, obwohl sie nicht aus London kommt. Auch sie logiert bei Freunden.
„Wir sind oft zu freundlich in England“
So wie Ruth Fryer, 66, eine ehemalige Englischlehrerin, die fast so lange wie Steven Bray hier vor Ort ist. „Das war alles nicht geplant, sondern Zufall. Ich sagte nach dem Referendum: Es ist nicht das ganze verdammte Volk, das für den Brexit gestimmt hat. Deshalb bin ich hier.“ Hat sie hier vor dem Parlament Neues gelernt? „Ja, wir sind oft zu freundlich in England. Es gibt Momente, etwa wenn wir von den Rechtsgerichteten angemacht werden, wo man standhaft und klar sein muss.“
Gegen Nachmittag steigt die Anzahl der Menschen, die vor dem Parlament zusammenkommen. Man muss sehr genau hinschauen, um erkennen zu können, zu welcher Seite sie gehören. Und nur in einer Sache sind sich alle einig: Mit dem Absegnen eines May-Deals wäre am Dienstag kaum jemand zufrieden.
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