Vor Parlamentswahlen in Großbritannien: Nur die Queen hält sich
Das Vertrauen in die Politik ist weg, Gewissheiten sind passé. Wenn Großbritannien am Donnerstag wählt, geht es um viel mehr als nur den Brexit.
V or ein paar Tagen machte in Großbritannien ein Gerücht die Runde. „Queen diesen Morgen gestorben, Herzinfarkt“, lautete die Nachricht aus einem internen Internetaustausch der britischen Marine. „Wird morgen, 9.30 Uhr bekannt gegeben.“ Die Empfänger erhielten den Befehl, sich um 8 Uhr bereitzuhalten, mit Unterwäsche für zwei Wochen.
Die Queen war aber gar nicht tot. Es war eine aus Versehen über soziale Netzwerke an die Öffentlichkeit gelangte Übung. Das gesamte britische Staatswesen probt schon längst unter verschiedenen Szenarien den reibungslosen Umgang mit dem Tod der 93-jährigen Elizabeth II. Das Vereinigte Königreich wird in diesem Fall in einen faktischen Ausnahmezustand versetzt, in Trauer um eine Monarchin und mit ihr um das verflossene 20. Jahrhundert.
Es war Zufall, dass der Ernstfall mit dem Codenamen „London Bridge“ mitten im Wahlkampf wieder einmal durchgespielt wurde, direkt nach einem Terrorangriff mit drei Todesopfern just an der London Bridge. Doch es passt zu diesem Wahlkampf und zu dieser Zeit, in der die Politik Abschied von einer Ära nimmt.
Großbritannien steht vor einer Schicksalswahl – der wichtigsten seit 1945, sagt Boris Johnson; es gebe die beste Chance seit hundert Jahren für „wirkliche Veränderung“, sagt Jeremy Corbyn. Konservative und Labour versprechen beide den Wandel, so umfassend und radikal wie möglich – Brexiteers von rechts, Sozialisten von links.
Vor einer Schicksalswahl
Die alten, etablierten Gesichter ziehen sich zurück und beklagen ihre politische Heimatlosigkeit. John Major und Tony Blair, zwei ehemalige Premierminister, raten kaum verklausuliert von der Wahl ihrer jeweiligen Partei ab. Eine ganze Riege bisherige Labour-Abgeordneter ruft zur Wahl der Konservativen auf, so mancher konservativer ehemalige Minister kandidiert als Unabhängiger gegen die eigene Partei.
Politiker vom zentristischen Flügel der Konservativen sowie von Labour haben mit ihren eigenen Parteien gebrochen und liebäugeln mit den Liberaldemokraten als neuer zentristischer Kraft. Ihnen folgen große Teile der intellektuellen Elite. Aber auch ihnen geht es um den Bruch, um die Suche nach einem britischen Emmanuel Macron, der die Altparteien begraben und das politische System neu erfinden könnte.
Doch anders als in Frankreich stehen die großen Altparteien in Großbritannien in voller Blüte: Konservative und Labour genießen zusammengenommen die Unterstützung von 80 Prozent der Wähler, sie haben die Herausforderungen des Brexit und der Verfassungskrise der letzten Jahre verinnerlicht, indem sie sich selbst politisch neu erfunden haben. Der Status quo steht nicht zur Wahl.
Die Wahl an diesem Donnerstag ist Abschluss der politischen Häutung Großbritanniens. Es begann mit dem Sieg der EU-feindlichen United Kingdom Independence Party bei der Europawahl 2014, es setze sich fort mit der Übernahme der Labour-Opposition durch die radikale Linke um Jeremy Corbyn 2015. Es folgte der Brexit-Sieg beim Referendum 2016, die Lähmung der Institutionen durch die Pattsituation im Parlament 2017/18, die Übernahme der Konservativen durch Boris Johnson und den rechten Flügel 2019. All diese neuen Kräfte setzen bei dieser Wahl die Agenda.
Für Lord Howell, eine Säule des Londoner außenpolitischen Establishments, ist all das ein logischer Ausdruck einer weltweiten demokratischen Revolte. „Der Brexit“, erläutert der 83-Jährige, jahrzehntelang konservatives Regierungsmitglied und zuletzt Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im Oberhaus, „ist ein kleiner Teil einer großen Sequenz, nämlich die Einmischung der Öffentlichkeit in eine enorme Bandbreite politischer Themen. Er verstärkt etwas, was schon da war, nämlich die immense Bitterkeit und Polarisierung.“
Lord Howell, konservativer Außenpolitiker
Lord Howell spricht in einem gut gefüllten Vorlesungssaal der Queen-Mary-Universität, tief im multikulturellen Ostlondon. Draußen ist mit Händen zu greifen, wie sich die Welt verändert hat. Auf der Hauptstraße wuseln Menschen aus allen Kulturen herum, die Ladenzeilen bieten einen Querschnitt der gesamten Erde. Südasiatische Schnulzen dröhnen aus dem Kabelfernsehen im Halal-Imbiss, wo sich die Bärtigen mit Handschlag begrüßen. In der Eckkneipe ein paar Häuser weiter haben sich die alten weißen Männer zum Bier zurückgezogen, sie regen sich nur, wenn im Fernsehen Pferderennen läuft. Jeder pflegt seine Nische.
„Die Welt brennt“, lautet im Hörsaal Lord Howells Fazit der Lage, und er verweist auf die aktuelle Protestwelle von Hongkong bis Algerien, auf die Unruhen in Frankreich und eben die politischen Umwälzungen in Großbritannien. Seine Diagnose: Ein „Gefühl der Wut“ habe das Vertrauen in die Politik abgelöst, denn „die Dinge sind so komplex geworden, dass die Qualität des Regierens nicht länger gewährleistet ist“.
Der Lord argumentiert wohlüberlegt und präzise, er kommt direkt auf den Punkt und kennt den Unterschied zwischen Logik und Rechthaberei. Neben ihm auf dem Podium präsentiert die junge Sozialforscherin Sophia Gaston von der London School of Economics ihre neuesten Forschungsergebnisse, die besagen, dass das Weltgeschehen die Menschen in Großbritannien bewegt wie schon lange nicht mehr. Zwei Drittel der Jugend interessiere sich für Außenpolitik, sagt sie. Sie seien humanitär und zugleich patriotisch eingestellt. Mit dem klassischen Multilateralismus und diplomatischer Kompromisssuche könnten die Jungen aber wenig anfangen. Großbritannien sei heute „ein polarisiertes und aktivistisches Land“, sagt Gaston: „Außenpolitik drückt unsere innenpolitische Stimmung aus.“
Auf wen ist noch Verlass?
Das könnte erklären, warum auch der britische Blick auf die Welt heute von Verunsicherung geprägt ist. Denn auf wen ist Verlass? Den Politikern traut niemand, alle Parteiführer des Landes leiden unter negativen Umfragewerten, Boris Johnson am wenigsten und Jeremy Corbyn am meisten. Die internationalen Systeme funktionieren nicht mehr, wenn Leute wie Donald Trump und Wladimir Putin die Dinge bestimmen und „ihrer eigenen Propaganda glauben“, wie der einstige britische Nato-Generalsekretär George Robertson auf einer Fachtagung zu 70 Jahren Nato konstatierte – eine Feststellung, die genauso auf Johnson und Corbyn gemünzt sein könnte.
Der Brexit steht dafür, dass sich die Welt der Politik und die Welt des Expertentums einander entfremden. In den Räumen der prestigeträchtigen „War Studies“-Fakultät am King’s College London haben sich Verteidigungspolitiker und -beamte versammelt, um über die sicherheitspolitischen Herausforderungen dieser Wahl zu diskutieren. Johnson wie Corbyn haben beide eine grundlegende Erneuerung der britischen Sicherheitsstrategie angekündigt, natürlich mit unterschiedlichen Voraussetzungen: Den Konservativen geht es um den Erhalt der bröselnden Westbindung, Labour um die Abkehr davon.
Peter Dawe, Kandidat der Brexit Party
Eine langjährige Beamtin, die solche Debatten seit den 1970er Jahren miterlebt hat, führt aus, wie strategisches Denken funktioniert, so als wären es Beschreibungen einer versunkenen Welt. „Erstens: Eine ehrliche historische Perspektive, damit man keine unrealistischen Dinge behauptet. Zweitens: Realistische Optionen und eine realistische Analyse ihrer Folgen und eine transparente Debatte darüber. Drittens: Mut, Entscheidungen zu treffen.“ So schmiedete man Politik, früher. Und heute? „Es hängt davon ab, ob wir lernen, wieder miteinander zu diskutieren.“ Boris Johnson habe angekündigt, seine neue Sicherheitsstrategie persönlich auf den Weg zu bringen, „aber ich bin mir nicht sicher, ob er weiß, was das bedeutet“.
Für Großbritanniens Positionierung in der Welt ab 2020 hat Professor Will Jessett, der von der Strategieabteilung des Verteidigungsministeriums in die Lehre gewechselt ist, mahnende Worte: „Vor fünf Jahren sagten wir: Wir müssen internationaler sein. Es war ein Impuls, den Gegenkräften, die eine Renationalisierung vertreten, etwas entgegenzusetzen. Es bleibt absolut zentral.“
Debattenrunde in Cambridge
Wenn es einen Ort gibt, der den Kräften der Renationalisierung etwas entgegensetzen will, dann ist es die Universitätsstadt Cambridge, global vernetzter Ort der technologischen Forschung, Hochburg der EU-Befürworter, intellektuell anspruchsvoll und zuweilen anstrengend. Das Gefühl, sich nicht nur gegen den Brexit zu stemmen, sondern auch gegen ein minderbemitteltes Volk, ist hier besonders stark. Auf den Weihnachtsgeschenktischen der Buchläden liegen Produkte von Hochnäsigkeit wie die gesammelten Gedichte von Donald Trump, eine Satire, oder von Korrektheit wie die gesammelten Reden von Greta Thunberg, in echt.
Der amtierende Labour-Wahlkreisabgeordnete Daniel Zeichner wirbt für sich mit einer eindeutigen Pro-EU-Haltung, die sich von der offiziellen, uneindeutigen Labour-Parteilinie abhebt. Das tut auch sein stärkster Herausforderer, Rod Cantrill von den Liberaldemokraten, die den Sitz bis 2015 hielten. Die beiden treffen an diesem Adventssonntag in der letzten öffentlichen Debattenrunde der Kandidaten für den Wahlkreis Cambridge aufeinander. 200 Menschen sind in einer Kirche zusammengeströmt, ernste und engagierte Bürger, sie stellen Fragen, von der Flüchtlingspolitik bis zum Klimawandel. Auch hier fällt schon fast am Anfang der Satz: „Dies ist die wichtigste Wahl zu unseren Lebzeiten.“
Die versammelte Kandidatenriege passt zu dem eigensinnigen, schrulligen, globalen Selbstbewusstsein dieser Stadt. „Angesichts der immensen Herausforderungen der Welt ist die Brexit-Debatte trivial“, findet ausgerechnet der Kandidat der Brexit Party, Peter Dawe, im richtigen Leben Ökounternehmer. Jane Robins, ehemalige Asienkorresponentin der Wochenzeitschrift Economist, Hausblatt der Globalisierung, tritt für die kleine linke Sozialdemokratische Partei an, die für den Brexit steht und gegen Jeremy Corbyn. „Ich begann, an der EU zu zweifeln, als ich merkte, dass Deutschland mehr am Kaffeeexport verdient als ganz Afrika“, erläutert sie, und als jemand von der Palästina-Solidaritätskampagne aufsteht und die Forderung nach einem Importverbot für israelische Siedlerprodukte vom Blatt vorliest, antwortet sie spitz: „Ich kenne einen Doktoranden hier, der seine Arbeit über Luxusideen schreibt. Es gibt Dinge, bei denen sich Leute engagieren, um sich selbst einen Status zu verschaffen.“
Draußen vor der Kirche werben Aktivisten dafür, taktisch zu wählen, wie es viele Brexit-Gegner tun: Wenn in jedem Wahlkreis die EU-Befürworter den jeweils aussichtsreichsten Gegner der Konservativen unterstützen, könnten sie Boris Johnson auch dann die Mehrheit im Parlament nehmen, wenn seine Partei stärkste Kraft bleibt. Aber eine Zusammenarbeit, die sich die Zuhörer offensichtlich von den proeuropäischen Kräften wünschen, ist zwischen Labour und Liberaldemokraten nicht in Sicht. Beide wollen ein zweites EU-Referendum. Labour will dafür eine eigene Mehrheit, die Liberaldemokraten plädieren für ein Parlament ohne klare Mehrheiten, in dem sie Zünglein an der Waage spielen können.
Angekündigtes Foul bei einem nächsten Brexit-Wahlgang
Würden die Kandidaten das Ergebnis eines neuen Brexit-Referendums respektieren? Darauf antwortet der Liberaldemokrat Cantrill: Klar, wir würden nach einem EU-Austritt dann eben für den Wiedereintritt agitieren. Der Labour-Abgeordnete Zeichner hat ein anderes Demokratieverständnis: „Das Referendum bindet mich, wenn es für den EU-Verbleib ausgeht.“ Wenn nicht, werde er das Ergebnis im Parlament nicht umsetzen wollen.
Es sind solche Winkelzüge, die das Pro-EU-Lager in Großbritannien immer wieder als undemokratisch erscheinen lassen und zum Legitimationsverlust des Parlaments beigetragen haben. Zeichner scheint sich seiner Wiederwahl in Cambridge sicher zu sein, die Labour-Anhängerschaft unter den Studenten macht einen soliden Eindruck. Labour spricht von „Real Change“: nicht nur ein Ende der Sparpolitik, was auch die Konservativen versprechen, sondern reale Umverteilung von oben nach unten und vom Privatsektor an den Staat. Die Liberaldemokraten sind eher die Partei der akademischen Elite und jener Begüterten, die sich bei den Konservativen nicht oder nicht mehr wohlfühlen. Sie hoffen auf Durchbrüche bei der globalisierten Oberschicht.
In Cambridge findet ebenso wenig wie in London ein Plakatwahlkampf statt, dafür sieht man aber zahlreiche Plakate der Klimaaktivisten von Extinction Rebellion. Da steht dann „Der Wahltag naht“, halb durchgestrichen zugunsten „Die Stunde Null naht“, oder „Der Planet heizt auf“. Klimaprotest in Großbritannien hat etwas von Endzeitstimmung.
Der Brexit-Kandidat verbreitet Endzeitstimmung
Bei der Veranstaltung ordnet sich der Kandidat der Brexit Party diesem Endzeitlager zu. Peter Dawes zentrale Wahlkampfidee ist die Rationierung von Benzin. Nach möglichen Koalitionsoptionen nach der Wahl gefragt, antwortet er: „Extinction Rebellion.“ Die ganze Aufregung über Handelsabkommen nach dem Brexit findet er überflüssig: „Mit dem Klimawandel wird der Welthandel zusammenbrechen.“ Mit dem Grünen Jeremy Caddick ist er sich einig, dass Großbritannien Selbstversorger werden muss, um die Klimakatastrophe zu überleben.
Bei solchen Diskussionen landet man ganz schnell bei Gemüse, ebenso, wie im Londoner Wahlkampf das Labour-Großthema der sozialen Gerechtigkeit schnell auf das Dilemma des bezahlbaren Wohnens schrumpft. Am Ende muss auch dieser Wahlkampf die großen globalen Fragen auf die konkrete Lebenswelt der Menschen herunterbrechen.
Die Konservativen versprechen „Get Brexit Done“ – den Brexit vollenden, aber nicht als Selbstzweck: Überwinden wir die Dauerdebatte und widmen wir uns danach den wirklich wichtigen Dingen, um die es den Menschen ging, als sie für den Brexit stimmten: Kontrolle der Zuwanderung, mehr Geld für soziale Dienste und Infrastruktur, Förderung von vernachlässigten Regionen und Menschen, damit das Land wieder auf eigenen Füßen stehen kann.
Nicht zufällig hat „Get Brexit Done“ als Slogan genau den Klangrhythmus der erfolgreichen Parole „Take Back Control“ der Brexit-Kampagne von 2016 – und „Get Brexit Done“ ist laut Umfragen so ziemlich das Einzige, was jeder in Großbritannien von diesem Wahlkampf behalten hat, so wie „Take Back Control“ zum geflügelten Wort über die politischen Lager hinweg wurde. Kontrolle über ihre Lebensverhältnisse – das wünschen sich jetzt alle. Die Kontrolle über die Welt und die große Politik – die ist verloren gegangen.
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