Von der Leyen legt Migrationspakt vor: EU setzt auf Tempo und Härte
Der Asylplan von EU-Kommissionschefin von der Leyen sieht schnellere Abschiebungen Geflüchteter an den Außengrenzen vor. Pro Asyl ist entsetzt.
Die Chefin fand schöne Worte. In der Asyl- und Flüchtlingspolitik sei ein „neues Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität“ nötig, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch in Brüssel. „Unser altes System funktioniert nicht mehr, wir brauchen einen neuen Start.“
Dann kamen die harten Fakten – und die sehen nicht so schön aus. Künftig sollen laut dem “New Pact on Migration and Asylum“ alle, die auf Lesbos, in Sizilien oder anderswo in der EU ankommen, binnen fünf Tagen erfasst und durchgecheckt („gescreent“) werden.
Wer aus einem Land stammt, aus dem weniger als ein Fünftel der Asylanträge Erfolg hat, kommt in das sogenannte Grenzverfahren: ein beschleunigtes Prozedere, an dessen Ende binnen 12 Wochen die Anerkennung oder, wahrscheinlicher, die Abschiebung steht.
Wer diese Asylvorprüfungen auf welcher Grundlage durchführen wird, lässt das Papier offen. An mehreren Stellen ist vom Aufbau einer neuen EU-Asylbehörde die Rede, deren Kompetenzen aber nicht weiter benannt werden.
„Pilotprojekt“ Moria
Die Vorschläge sind mit Kanzlerin Angela Merkel abgestimmt, die derzeit den EU-Vorsitz innehat. Die Kommission übernimmt damit im Wesentlichen ein Konzept der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Damit der Plan in Kraft tritt, müssen das Europaparlament und die Mitgliedstaaten noch zustimmen. Der deutsche EU-Vorsitz rechnet nicht mehr mit einer Einigung in diesem Jahr.
Um das abgebrannte Lager Moria auf Lesbos soll sich nun eine „Taskforce“ in Brüssel kümmern, die auf Lesbos ein „Modellprojekt“ errichten soll. Dort dürften die neuen Ideen der Kommission als Erstes Anwendung finden. Griechenland habe bereits in ein „gemeinsames Pilotprojekt“ eingewilligt, sagte von der Leyen.
Schnellere Erfassung, schnellere Entscheidung, schnellere Abschiebung möglichst schon an den Außengrenzen – das sind die wichtigsten Neuerungen, die die EU-Kommission in ihrem „Migrations- und Asylpakt“ vorschlägt. Von der Leyen setzt auf Tempo und Härte und kommt damit widerborstigen Ländern wie Ungarn oder Polen weit entgegen.
Seit dem im Eklat geendeten ersten Versuch einer verbindlichen Umverteilung von Flüchtlingen im Jahr 2016 haben sich vor allem die Osteuropäer der Aufnahme von Asylbewerbern widersetzt und ein solidarisches Quotensystem torpediert. Und das tun sie, gemeinsam mit Österreich, bis heute. Stattdessen forderten sie, Grenzen müssten gesichert und Abschiebung müsste ausgebaut werden.
„Abschiebe-Patenschaften“
Genau das versucht von der Leyen nun. Verbindliche Quoten soll es auch künftig nicht geben, eine Pflicht zur Solidarität nur in Ausnahmefällen. Und europäische Solidarität à la von der Leyen bedeutet: Die EU-Staaten können Italien oder Griechenland freiwillig Flüchtlinge abnehmen.
„Nicht alle Mitgliedstaaten werden Flüchtlinge aufnehmen“, gab sich Migrationskommissar Margaritis Schinas realistisch. Für sie gebe es nun eine „tragfähige Alternative“. Sie heißt: „Abschiebe-Patenschaften“. Die Staaten können künftig „zwischen Aufnahme und Hilfe bei der Abschiebung wählen“, sagte Innenkommissarin Ylva Johansson.
Für diese „Abschiebe-Patenschaften“ rechnet die Kommission aus, wie viele der in der EU Ankommenden jeder Staat aufgrund seiner Größe theoretisch aufnehmen müsste. Nehmen Länder den Außengrenzen-Staaten die entsprechende Anzahl nicht ab, können sie sich ersatzweise um die Abschiebung dieser Anzahl von anderen Menschen kümmern.
Gelingt ihnen dies nicht innerhalb von acht Monaten, etwa wegen Krankheit oder fehlenden Rücknahmeabkommens im Herkunftsland, müssen sie die Betreffenden doch selbst aufnehmen.
Kein Abschied von Dublin
Die EU-Kommission will Abschiebungen aber auch anders beschleunigen. So will Brüssel einen „EU-Koordinator für Rückführungen“ ernennen. Auch der Außengrenzschutz soll „verbessert“ werden. Dafür will die Kommission die Grenzschutzagentur Frontex weiter aufrüsten.
Für Pro Asyl ist von der Leyens Vorschlag ein „teuflischer Pakt der Entrechtung“. In einer ersten Reaktion verurteilt die Organisation den Plan: Damit verrate „die EU-Kommission das Asylrecht und die Menschenrechte von Schutzsuchenden“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, und fordert die EU-Parlamentarier auf, den Entwurf abzulehnen.
In den vergangenen Jahren sind alle Versuche gescheitert, die gemeinsame Asylpolitik zu reformieren. Auch der oft angekündigte „Abschied von Dublin“ ist nicht gelungen. Die Dublin-Regeln sehen vor, dass jener EU-Staat für einen Asylantrag zuständig ist, in dem der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat. „Wir haben einen Schlussstrich unter das Dublin-System gezogen“, erklärte Schinas. Es sei für wenige Asylbewerber ausgelegt gewesen und passe nicht mehr in die Zeit.
Tatsächlich hält die Kommission auch jetzt an den Dublin-Regeln fest. Nur die Ausnahmetatbestände werden geringfügig erweitert: Bestimmte Antragsteller sollen künftig für ihr Verfahren in andere EU-Staaten verteilt werden – etwa wenn sie dort Geschwister haben oder dort in der Vergangenheit studiert oder gearbeitet haben. Das ist teils allerdings auch heute schon möglich.
Seehofer „noch nie“ gegen Zuwanderung
Von der Leyen wollte am Mittwoch zudem mit dem türkischen Präsidenten Recep Erdoğan sprechen. Merkel hatte mit Erdoğan 2016 einen umstrittenen Flüchtlingsdeal ausgehandelt. An dem hält die EU-Kommission fest und will ihn weiter ausbauen.
Allerdings ist unklar, ob bei den EU-Plänen Drittländer wie die Türkei oder Tunesien mitspielen – und ob sich auch Ungarn, Polen und andere widerspenstige EU-Staaten auf den „Pakt“ einlassen. Ungarn signalisiert bereits Ablehnung. Die ungarische Regierung halte an ihrer Position fest, dass der „Migrationsdruck“ abgewehrt werden müsse, hieß es in Budapest.
Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer äußerte sich bereits zu den Vorschlägen: „Wir haben jetzt die Möglichkeit, der Welt zu zeigen, dass Europa zusammensteht“, so der Minister. Er betonte, er sei „noch nie“ ein Gegner von Zuwanderung gewesen, es komme aber auf das Wie an.
„Wir müssen schauen, dass das in einer überschaubaren Größenordnung bleibt, die ich immer als,Ordnung' bezeichne. Dann wird das auch von der Bevölkerung akzeptiert.“ Für den 8. Oktober werde man beim Innenministerrat der EU die nun vorliegenden Vorschläge diskutieren.
Die Verhandlungen dürften sich bis weit ins nächste Jahr hinziehen.
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