Volkskomitees in der libyschen Stadt Tobruk: Es gibt kein Zurück mehr
Sie verteilen Lebensmittel, bewachen Ölanlagen, schützen Schulen, organisieren den Alltag: Libyens neue Volkskomitees. Zu Besuch in der befreiten Stadt Tobruk.
TOBRUK taz | Das Transparent auf dem Minarett der zentralen Freitagsmoschee lässt keine Zweifel daran, wer in der ostlibyschen Stadt Tobruk den Ton angibt. "Gaddafi, du Schlächter, hau ab!", heißt es dort kurz und bündig. Auch dass der angrenzende Platz nicht mehr "Platz der Massen" heißt, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Zeit von Gaddafis "Republik der Volksmassen" zumindest in dieser östlichsten Stadt des Landes, etwa 100 Kilometer von der ägyptischen Grenze entfernt, abgelaufen ist.
Der Platz ist in "Platz der Märtyrer" umbenannt worden - "Märtyrer", weil bei der Demonstration vor einer Woche, die zur Vertreibung der Schergen des Regimes geführt hat, von der Polizeistation auf der anderen Seite des Platzes in die Menge gefeuert wurde und vier Menschen starben. Kein besonders hoher Preis der Freiheit der 120.000 Einwohner zählenden Stadt, verglichen mit dem, was sich derzeit im Westen des Landes ereignet, wo Gaddafi um sein Überleben kämpft.
Dass die Polizeiwache völlig ausgebrannt ist, zeugt davon, dass sich die Menschen nach der Schießerei nicht einschüchtern ließen. Sie sind nur kurz nach Hause gegangen, um ihre eigenen Waffen zu holen. "Ein paar Molotowcocktails, und das Gebäude stand in Flammen", grinst der revolutionäre Fremdenführer Hajj Ali, ein alter Mann mit grauem Bart und einer elegant um den Kopf gebundenen Kufija im modischen Stil der lokalen Beduinenstämme.
Drinnen in der Polizeiwache liegen noch die verkohlten Akten herum. Vor allem eine winzige Zelle, kaum größer als drei Quadratmeter, mit einem Essnapf auf dem vollgepinkelten Boden, ist zur lokalen, wenngleich streng riechenden Sehenswürdigkeit geworden. Ein Mann kommt mit seinem etwa fünfjährigen Sohn vorbei, um ihm den Ort zu zeigen, wo zu Zeiten von Gaddafis Herrschaft Menschen eingesperrt wurden.
"Die Rechnung geht auf die Revolution"
Draußen auf der Straße regieren jetzt die neuen Volkskomitees des befreiten Libyen. An diesem Mittag sitzen sie entspannt auf den Bänken des Platzes und wärmen sich in der Wintersonne. "Meine Eltern haben unter Gaddafi geheiratet. Ich habe unter Gaddafi meine Frau gefunden. Gott sei Dank werden meine Kinder nicht unter Gaddafi heiraten und deren Kinder im freien Libyen geboren werden", sagt Khaled al-Marsi, der hier eine revolutionäre Straßensperre bewacht. Zeit hat er genug. Wie viele Menschen in der Region ist er seit Jahren arbeitslos. Auf die Frage, ob sie nicht Angst hätten, dass Gaddafis Truppen zurückkommen, rufen alle laut Nein und winken mit den Händen ab. "Es gibt kein Zurück mehr, auch wenn er uns alle durch den Fleischwolf dreht", sagt ein anderer Mann an der Straßensperre.
Der revolutionäre Fremdenführer Hajj Ali fährt zum nächsten Restaurant. Der Verkehr ist etwas chaotisch, keiner hält sich noch an irgendwelche Einbahnstraßenregelungen, sodass sich die Autos gegenseitig blockieren. Hajj Ali tritt auf die Bremse, die ganz beachtlich knirscht. "Eigentlich bräuchte ich neue Bremsbelege, aber seit der Revolution sind alle Werkstätten zu", entschuldigt er sich. Im Restaurant al-Umda gibt es ganz ausgezeichnete Grillhähnchen. "Die Rechnung geht auf die Revolution", meint der Restaurantbesitzer, eine Suppe und eine halben gegrillten Vogel später. "Journalisten essen hier kostenlos, das haben die Volkskomitees beschlossen", erklärt er und verabschiedet sich mit einem "Empfehlen Sie mich an Ihre Kollegen weiter".
Zuvor hatte sich schon Khamis al-Magli zu einem Verdauungskaffee an den Tisch gesetzt. Er sei einer der Aktivisten der Revolution, stellt er sich vor. Mit seinem zerschmetterten Brillenglas sieht er etwas verwegen aus. Aber wo Autowerkstätten geschlossen sind, haben sicherlich auch Optiker nicht geöffnet. Khamis erklärt, wie die neuen Volkskomitees funktionieren. Angefangen habe das Ganze mit den Komitees, die zur Bewachung der Straße gebildet wurden.
Stämme und Revolution
Schnell wurden weitere Komitees gegründet, um wichtige Einrichtungen wie Ölanlagen, aber auch Schulen und Krankenhäuser zu schützen. Dann musste das Leben neu organisiert werden. Eines der akuten Probleme ist: Tripolis zahlt im aufständischen Osten keine Beamtenlöhne mehr aus. "Jetzt kann jeder Beamter, der auf der Bank ein Konto hat, einen Kredit von 300 Euro bekommen, damit er mit seiner Familie erst einmal über die Runden kommt", erzählt Khamis, sichtlich stolz auf die Beschlüsse der Volkskomitees.
Wer genau die Komitees anführt, bleibt undurchsichtig. "Leute mit einer guten Bildung", erklärt Khamis. Da es in Libyen unter Gaddafi keinerlei oppositionelle Organisationen gibt, ist es schwer vorstellbar, dass bestimmte politische Gruppierungen dahinterstecken. Eher ist die Struktur der Volkskomitees entlang von Stammeslinien organisiert, die in Libyen eine wichtige Rolle spielen. Khamis streitet das nicht ab, legt aber Wert auf die Feststellung, dass die Stämme beschlossen hätten, in der Revolution im Osten zusammenzuarbeiten.
Ein paar Autominuten entfernt führt uns Khamis zur neuesten Errungenschaft der Volkskomitees: einer Ausgabestelle für kostenlose Grundnahrungsmittel. Dort drängeln sich die Menschen, alle halten ein grünes Heftchen hoch. "Das Familienbuch", erklärt Khamis. Darin ist die Anzahl der Kinder vermerkt, und davon hängt ab, wie viel Mehl, Reis, Nudeln und Speiseöl der Familie ausgehändigt werden. "Das sind nicht die Beamten, sondern die freien Arbeiter, erklärt Khamis. Viele hätten seit den turbulenten Tagen der Revolution keine Arbeit und müssten versorgt werden.
Die Grundnahrungsmittel seien Spenden aus Ägypten oder von bessergestellten Libyern, erläutert er. "In diesen Zeiten müssen sie alle zusammenhalten", endet er und verabschiedet sich freundlich mit einem Witz. Sein Name "Khamis" ist das arabische Wort für "Donnerstag". Leider, sagt er, wird es bis nächsten Freitag dauern, bis das Land Gaddafi endlich ganz loswerden wird", grinst er, um dann zu weiteren revolutionären Taten zu schreiten.
Horrormeldungen aus Tripolis
Die Menschen in Tobruk haben aber auch begonnen, Hilfe für andere zu organisieren. In einer großen Sporthalle am Rande der Stadt befindet sich ein Zentrallager. Hier werden gespendete Medikamente und Grundnahrungsmittel aus Ägypten gesammelt und in andere Städte des Landes weitergeleitet. Hischam Tayyeb koordiniert die Operation. Mit einem etwas übermüdeten Blick sitzt er vor drei Telefonen. "Wir haben in allen Städten Krisenstäbe eingerichtet", erzählt er. "Die rufen an, wenn etwas zur Neige geht, und wir schicken es dann los", erläutert er das einfache System.
Leider könne nur der Osten des Landes beliefert werden. Ab dem Gebiet der Syrte ist Schluss. Dort kontrollieren noch Gaddafi und die Seinen das Geschehen. Die Ereignisse in den Städten, die jenseits davon liegen, wie die Hauptstadt Tripolis, in der Gaddafi um sein politisches Überleben kämpft, verfolgen die Libyer im Osten des Landes, genauso wie der Rest der Welt, im Fernseher. Es gibt in Tobruk kein Büro und kein Haus, in dem nicht den ganzen Tag die arabischen Fernsehsender al-Dschasira oder al-Arabia laufen. Auch der Hilfskoordinator Hischam Tayyeb diskutiert mit seinen Kollegen ständig über die neusten Horrormeldungen aus Tripolis und Umgebung. Sie alle sind davon überzeugt, dass das Ganze bald mit der Ermordung oder dem Selbstmord von Gaddafi enden wird.
Fremdenführer Hajj Ali fährt seinen Gast zurück ins Hotel. Hinter uns hupt jemand ungeduldig und ohne Unterlass, weil die Straße wieder einmal blockiert ist. "Jetzt hast du 41 Jahre gewartet, bis Gaddafi weg ist", ruft Hajj Ali aus dem heruntergekurbelten Fenster, "da kommt es doch auf ein paar Minuten auch nicht mehr an."
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