Volksinitiative in der Schweiz: Ein Vorbild für deutsche Linke
Plötzlich stimmen die konservativen Eidgenossen für mehr Rente und Umverteilung. Das lässt hoffen – etwa auf die nächste Initiative im Juni.
Z um ersten Mal seit 1891 haben die Menschen in der Schweiz eine wirtschaftspolitische Volksinitiative angenommen, die von links kam: Mehr als 58 Prozent haben für eine 13. Monatsrente und mehr als 74 Prozent gegen die Anhebung des Rentenalters gestimmt. Die „AHV-Rente“, eine Art Grundrente für alle, wird um 8,3 Prozent erhöht. Die großen Schweizer Medien nennen das eine historische Polit-Sensation – zu Recht.
In der konservativen Schweiz überrascht der Wunsch nach mehr Umverteilung und Sozialstaat. In einem Land, in dem selbst das moderateste linke Anliegen als wirtschaftsfeindlicher Sozialismus verschrien und jegliche politische Debatte darüber mit dem Argument beendet wurde, der Wohlstand würde gefährdet, weckt dieses klare Votum Hoffnung. Vor allem unter Linken.
Seit Corona, den gestiegenen Krankenkassenbeiträgen und Mieten sowie milliardenschweren Staatskrediten für die Übernahme der Großbank Credit Suisse durch die UBS scheint sich etwas zu verändern. Viele Menschen spüren den ökonomischen Druck in ihrem Alltag und sehen zugleich, dass der Bundesrat an alten Konzepten festhält. Die Gewerkschaften verstehen es, diesen Unmut zu organisieren. Mit ihrer Initiative brachten sie beinahe 60 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne, viele wählten aus Protest. Auch Anhänger:innen der rechtskonservativen SVP sprachen sich laut Umfragen für das Vorhaben aus – und damit gegen die Parole, also die Wahlempfehlung, ihrer Partei.
Bei Volksinitiativen schafft es die Linke also, Arbeiter:innen zu gewinnen, die sie bei Wahlen in der Vergangenheit an die Rechtsaußenpartei verloren hat. Das ist nicht nur ein gutes Zeichen für die Verteilungsfragen der Zukunft, sondern auch eine klare Ansage gegen den Populismus der Rechten, die versuchen, die Schwächsten gegeneinander aufzubringen. Auch Grünen, SPD und Linken in Deutschland würde ein Blick auf die Schweizer Linke nicht schaden. Im Juni bringt sie eine weitere Initiative zur Abstimmung, dieses Mal für die Deckelung der Krankenkassenbeiträge. Sollte es auch dafür ein Ja geben, wäre das gleich die nächste Sensation.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!