Viola Priesemann zu Coronamutationen: Eine Warnung trotz besserer Zahlen

Vor dem Coronagipfel werden Forderungen nach lockereren Regeln lauter. Physikerin Viola Priesemann mahnt zur Geduld.

Die fast menschenleere Innenstadt von Braunschweig

Noch ein bisschen länger: Die Infektionszahlen müssen weiter runter, sagt Viola Priesemann Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

BERLIN taz | 50 gemeldete Infektionen mit dem Coronavirus auf 100.000 Menschen innerhalb einer Woche – diese Sieben-Tage-Inzidenz hatte die Politik selbst als Faustformel genannt, um über Lockerungen nachzudenken. Nun nähert sich Deutschland diesem Wert: Lag er vor Weihnachten noch bei knapp 200, waren es am Dienstag nur noch 73. Wenn am Mittwoch sich Kanzlerin und Mi­nis­ter­prä­si­den­t*in­nen der Länder erneut zum Bund-Länder-Gipfel treffen, um über die weiteren Maßnahmen zu entscheiden, sind die Erwartungen entsprechend hoch, dass Schulen und Geschäfte nach fast zwei Monaten der Schließung rasch wieder öffnen können.

Doch für die Entscheidungsträger ist ein weiteres Problem dazugekommen. Denn inzwischen hat sich herausgestellt, dass eine noch sehr viel ansteckendere Variante sich auch in Deutschland ausbreitet. Ende Januar machte sie laut RKI rund 7 Prozent aller Infektionen aus, in Süddeutschland wurde letzte Woche schon sehr viel höhere Zahlen gemessen. Die Zahlen auf 50 zu drücken, um lockern zu können, reiche darum keinesfalls, warnen daher Wissenschaftler*innen, darunter die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen.

Sie wirbt wie Kollegen an anderen Forschungsinstituten um Geduld. „Es wäre besser, sehr vorsichtig zu sein. Die Fallzahlen der neuen Variante steigen und sind inzwischen in manchen Regionen bei 30 Prozent.“ Bald werde man diesen Anstieg dann auch in der Gesamtzahl der Fälle sehen, warnt Priesemann im Gespräch mit der taz. „Lockert man zu früh und zu schnell, ist der Erfolg bald wieder verspielt.“

Dabei kann die Wissenschaftlerin die Ungeduld vieler Bür­ge­r*in­nen durchaus nachvollziehen. Tatsächlich hat sich ihren Berechnungen zufolge nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in Deutschland infiziert. „Von 100 Bekannten aus dem eigenen Umfeld waren statistisch gesehen nur etwa 3 positiv“, rechnet Priesemann vor. Und von den nachgewiesenen Infizierten wiederum sterben weniger als 3 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit für je­de*n Bundesbürger*in, in seinem unmittelbaren Umfeld jemanden zu kennen, der an Covid-19 verstorben ist, sei daher gering.

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„Und dafür machen wir die Wirtschaft kaputt?“, lautet eine Frage, die auch Priesemann häufig gestellt wird. Ihre Antwort: „Das heißt trotzdem nicht, dass nicht viele Menschen daran leiden und versterben, wenn wir das Virus einfach durchlaufen lassen würden.“

Ohne Gegenmaßnahmen würde sich ein großer Teil der Bevölkerung mit dem Coronavirus infizieren, sagt die Physikerin. Denn bei den 50- bis 75-Jährigen bräuchten ohne Impfung 1 bis 4 Prozent der Patient*innen, also 250.000 bis 1 Million Menschen, irgendwann ein Bett auf den Intensivstationen. „Das würde kein Gesundheitssystem aushalten“, sagt Priesemann. „Deswegen müssen wir weiter eindämmen.“

Doch ab wann wären aus ihrer Sicht Lockerungen möglich? In den vergangenen Wochen haben Mi­nis­ter­prä­si­den­t*in­nen und auch Teile der Bundesregierung den Eindruck erweckt, sobald die Inzidenz unter die Schwelle von 50 sinke, könne man die Dinge entspannt betrachten.

Die 50er-Marke wurde im Sommer jedoch als Warnwert definiert, oberhalb dessen unbedingt Gegenmaßnahmen ergriffen werden müssten. Dieser Wert war das Ergebnis eines Kuhhandels. Einige Bundesländer hatten deshalb einen Wert von 35 bereits als Wert festgelegt, ab dem dringend gehandelt werden müsse.

Wo die Obergrenze der Kontaktnachverfolgung liegt, hängt Priesemann zufolge davon ab, wie viel Kontakte die Menschen hatten. Der Städtetag meint, Kontaktverfolgung sei auch über einem Wert von 50 möglich. Priesemann ist skeptisch. „Während des Lockdowns können die Gesundheitsämter das vielleicht schaffen. Aber je mehr Kontaktmöglichkeiten man wieder zulässt, desto aufwendiger wird entsprechend die Kontaktnachverfolgung“, so die Physikerin. „Wir wissen aus dem Herbst, dass dieser Kipppunkt bei etwa 10 und 20 lag. Deswegen sollte das unser Zielwert sein.“

Möglichkeiten gibt es ihrer Ansicht noch. Gegenwärtig befinde sich Deutschland allenfalls in einem „Dreiviertel-Lockdown“, sagt die Wissenschaftlerin. Vor allem im Arbeitsleben gebe es noch Spielraum, ohne die Wirtschaft auszubremsen. „Viele Nachbarländer und Landkreise zeigen, dass es möglich ist, die Fallzahlen zügig zu senken und deutlich unter die 50 zu kommen.“

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Priesemann hält es für durchaus möglich, bei 50 leicht zu lockern, aber nur in den Bereichen, wo eine Kontaktverfolgung eindeutig möglich ist. Präsenzunterricht an Schulen in festen kleinen Gruppen etwa gehöre dazu, größere Menschenansammlungen wie bei Feiern nicht. Und auch die von einigen Bundesländern eingebrachten Stufenpläne hält Priesemann für einen wichtigen Vorstoß. „Es sind gute Vorlagen.“ Sie bräuchten aber eine Notbremse. Sobald die Fallzahlen den Grenzwert übersteigen, müssten Instrumente zur Verfügung stehen, die Ausbreitung wieder konsequent einzudämmen.

Dafür sei es am besten, mit konsequenten Maßnahmen gleich so zügig wie möglich zu reagieren und in allen Bereichen gleichzeitig, damit die Fallzahlen schnell wieder sinken. Ein kurzer Lockdown von 2 oder 3 Wochen kann jeder ganz gut abfangen, sagt sie. „3 Monate sind das, was ermüdend ist.“

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