Vietnamesische Community in Berlin: Solidarisch an der Nähmaschine
Die Erwerbsgrundlage vieler Vietnamesen ist mit Corona zusammengebrochen. Während die einen Masken nähen, wollen andere zurück nach Vietnam.
Masken hat sie viele Kisten voll, Desinfektionslösung nur einzelne Flaschen, und man sieht der Frau an, dass es ihr schwerfällt, sich von ihren Vorräten zu trennen, die noch vor einem Monat Grundlage ihres Geschäfts waren.
„Aber Corona kann uns alle treffen“, sagt sie. Und die Nagelstudios hätten ohnehin geschlossen. Darum will sie ihre Vorräte dorthin geben, wo um Menschenleben gekämpft wird: in die Krankenhäuser in Berlin. Nguyen Thi Ha fordert ihre Landsleute überall in Deutschland auf, es ihr gleichzutun.
Solche solidarischen Aktionen kann man derzeit oft unter vietnamesischen Berlinern beobachten. In Facebook-Gruppen feuern sich ältere Frauen gegenseitig an, Mehrwegmasken aus Baumwolle zu nähen. Und es sind regelrechte Nähgruppen entstanden, die zwar räumlich getrennt, virtuell aber miteinander verbunden sind.
Viele der Frauen haben zu DDR-Zeiten ihre Brötchen in der Textilindustrie verdient oder sie nähten nach Feierabend im Nebenerwerb die damals knappen Jeans für DDR-Bürger. Auch wenn der Umgang mit der Nähmaschine in den vergangenen dreißig Jahren nicht mehr gefragt war, verlernt haben Frauen wie Trinh Thi Mui aus Hohenschönhausen das nicht. Heute ist die Frau über 60 und war in den Zeiten vor Corona als Unternehmerin tätig.
Seit zwei Wochen ruhen ihre Geschäfte. Und seit einer Woche holen ihre Mitarbeiter säckeweise T-Shirts aus dem Lager, um daraus Baumwollmasken nähen zu lassen. „In diesem Sommer können wir die T-Shirts ohnehin nicht verkaufen. Aus einem Männer-T-Shirt lassen sich sechs Masken nähen, aus einem Kinder-T-Shirt vier,“ erläutert sie.
In dem Gemeindezentrum Pagode Pho Da in Lichtenberg laufen die Fäden zusammen. Von hier aus werden Angebote an Seniorenheime und Wohlfahrtsverbände geschickt. „Das Virus kann uns alle treffen. Wir wollen helfen“, sagt die Händlerin.
Die selbst gefertigten Masken genügen keinen medizinischen Anforderungen. Sie haben keinen Filter, die kleinen Coronaviren können durch die Poren der Baumwolle hindurchschlüpfen. Insofern schützen sie – da sind sich Virologen uneins – den Träger entweder wenig oder gar nicht vor Corona. Aber sie können verhindern, dass der Träger oder die Trägerin der Masken beim Sprechen oder Niesen infektiöse Tröpfchen in die Umwelt abgibt.
Manch ein Seniorenheim nutzt gern die Baumwollmasken für das Personal, damit die hochbetagten Bewohner vor Viren geschützt sind, die möglicherweise einzelne Altenpflegerinnen unbewusst einschleppen. Erst wenn es Coronafälle im Heim gibt, werden die wenigen zertifizierten Masken mit Filter genutzt. Weil die Näherinnen in nicht sterilen Wohnräumen arbeiten, sollten Nutzer die Baumwollmasken vor der Benutzung bei 90 Grad waschen oder zumindest bügeln.
Auch Tamara Hentschel vom vietnamesischen Integrationsverein Reistrommel, die eigentlich seit letztem Herbst im Ruhestand ist, hat ihre Nähmaschine wieder herausgeholt. In der DDR hatte sie als Näherin gearbeitet, bevor sie Betreuerin für Vietnamesinnen wurde. „Die alten Netzwerke werden reaktiviert“, erzählt sie.
Frauen, die einst im VEB Fortschritt Herrenbekleidung gearbeitet haben, aber in den letzten dreißig Jahren Asiarestaurants, Wochenmarktstände oder Blumenläden betrieben, treten virtuell in Kontakt und tauschen sich über das Maskennähen aus. Ihr Verein will auch koordinierend tätig sein, etwa Stoffe organisieren – Bettwäsche etwa. „Damit wollen wir unseren Beitrag zur Eindämmung der Pandemie leisten“, sagt sie der taz. „Nachdem die Läden schließen mussten, waren viele Leute zum Nichtstun verdammt, aber das sind sie nicht gewöhnt.“
Es entstehen zweilagige Baumwollmasken mit Vlieseinlage oder auch, wenn die Nähmaschinen das nicht mitmachen, einlagige Baumwollmasken. Ein Problem sei der Absatz. Er funktioniert bei Seniorenheimen, weil viele Vietnamesinnen als Altenpflegerinnen arbeiten. Aber ein Verkauf an die Wohnbevölkerung scheitert daran, dass asiatische Restaurants, Läden und Änderungsschneidereien schließen mussten.
Nur noch ein Ziel: zurück nach Vietnam
Doch es gibt unter vietnamesischen Berlinern auch eine andere Tendenz als die, sich in den Kampf gegen das Coronavirus einzubringen: Landsleute, die erst seit wenigen Monaten in der Stadt sind und hier Asyl beantragten oder völlig illegal hier leben und auf ihre Weiterwanderung nach Großbritannien warteten, wollen jetzt nur noch eins: zurück nach Vietnam, wo es kaum Coronafälle gibt. Nicht nur aus Angst vor Ansteckung. „Sie sehen keine Perspektive mehr“, sagt Sozialarbeiter Nguyen Huu Thanh.
Normalerweise ist für Flüchtlinge aus Zentralvietnam Berlin nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Großbritannien.
Doch die Infrastruktur dieser Zwischenstation ist durch das Coronavirus völlig zusammengebrochen: Sie können nicht mehr in von Landsleuten betriebenen Läden Hilfsarbeiten ausführen, weil diese Läden geschlossen sind. Sie können nicht mehr in vietnamesischen Familien Babys sitten, weil das die Familien jetzt selbst tun. Sie können nicht mehr in den von den Schleuserstrukturen gemieteten Wohnungen bleiben, weil niemand dort mehr Miete zahlt. Und sie können auch nicht nach Großbritannien weiterwandern, weil es bis dahin viele Grenzkontrollen gibt.
Nguyen Huu Thanh: „Ich höre oft, dass sie nach Vietnam zurückwollen, weil das Virus potenziell tödlich ist, und wenn sie schon sterben müssen, dann in Vietnam.“
Hilfen gibt es kaum noch
Aber selbst eine freiwillige Rückkehr nach Vietnam ist coronabedingt schwierig. Wie ein Sprecher der Innenverwaltung der taz mitteilt, ist die Rückkehrberatungsstelle des Landes Berlin seit der Coronakrise geschlossen. Diese Beratungsstelle hilft normalerweise rückkehrwilligen Asylsuchenden bei der Beschaffung der notwendigen Ausweispapiere, und sie übernimmt auch die Kosten für den Rückflug und für die ersten Schritte im Herkunftsland.
Dennoch scheint es einigen vietnamesischen Flüchtlingen aus Deutschland gelungen zu sein, nach Vietnam zurückzukehren. Vietnamesischen Medienberichten zufolge sind derzeit 80 Rückkehrer aus dem Coronagebiet Deutschland in einer vietnamesischen Militäreinrichtung in Quarantäne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid