Vier Tage Party der Kulturen: Braucht Berlin den Karneval?
An diesem Wochenende findet der Karneval der Kulturen zum 20. Mal statt. Es gibt viel Kritik – an seiner Kommerzialisierung und an seinem Konzept.
Aufregung bis fast zur letzten Minute: Klappt es mit dem geplanten Themenwagen, einer mehrere Meter hohen Freiheitsstatue, die aber nicht steht, sondern im Rollstuhl sitzt? Mit diesem Symbol will die „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ (ISL) in diesem Jahr erstmalig am Karneval der Kulturen teilnehmen - und darstellen, „dass auch Menschen mit Behinderungen die Gesellschaft mitgestalten: Sie sind Teil der Kultur und damit Teil des Karnevals.“ Das sagt Günter Heiden, Sprecher der ISL. Und er sagt noch einen Satz, der ziemlich gut auf den Punkt bringt, worum es den meisten TeilnehmerInnen des Karnevals der Kulturen geht: „Wir wollen nicht mehr die sein, die am Straßenrand stehen. Wir wollen dabei sein, unsere Lebensfreude öffentlich zeigen.“
Dass diese Grundidee des KdK auch Menschen mit Behinderungen, „sichtbaren und nicht sichtbaren Beeinträchtigungen“, wie Heiden sagt, einschließt, steht für ihn fest. Denn: „Beim Karneval geht um Rassismus, Abelismus, verschiedene Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung. Dagegen müssen wir gemeinsam auf die Straße gehen.“ Zudem beträfe die Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen auch Einwanderercommunities, wo Behinderte oft schamhaft versteckt würden, so der ISL-Sprecher.
Wer gehört zum Karneval? Wem gehört er? Was will er? Und: Braucht und will Berlin ihn in seiner jetzigen Form noch?
Solche Fragen rund um das jährlich zu Pfingsten stattfindende Multikulti-Spektakel tauchen nicht erst in diesem Jahr auf. Die ProtagonistInnen des Karnevals fordern schon lang eine Diskussion darüber, ob das Fest seiner Grundidee noch gerecht wird - und ob die Stadt dazu genug beiträgt: Spätestens seit der Karneval mit dem viertägigen Straßenfest auf dem Blücherplatz mit bis zu sieben Bühnen und unzähligen Konzertauftritten, dem Kinderkarneval und der großen Parade am Sonntag bis zu 1,5 Millionen BesucherInnen anzieht. Spätestens auch, seit die Investitionsbank Berlin 2011 errechnete, dass das Fest jährlich über 4 Millionen Euro in die öffentlichen Kassen spült und die Ausgaben der Veranstalter, TeilnehmerInnen und BesucherInnen das Bruttoinlandsprodukt noch einmal um gut 10 Millionen jährlich erhöhen.
Wertschätzung kultureller Vielfalt, gesellschaftlichen, künstlerischen, politischen Engagements von EinwanderInnen - darum ging und geht es beim Karneval der Kulturen. Dass die Stadt damit zwar etwa beim Tourismus gerne für sich wirbt, die Veranstaltung bislang mit nur knapp 300.000 Euro jährlich förderte, sorgte bei vielen von ihnen für Unmut und Enttäuschung.
Denn die Teilnehmergruppen investieren oft fünfstellige Summen und vor allem viel ehrenamtliche Arbeit in Umzugswagen und Auftritte. Manche - 2011 etwa die brasilianisch-deutsche Tanzgruppe Afoxe Loni, die mit 200 TänzerInnen den Karneval seit seiner Gründung 15 Jahre lang angeführt und eröffnet hatte - stiegen deshalb bereits aus: aus Protest gegen diese "Instrumentalisierung und Ausbeutung kultureller Vielfalt", wie die Gruppe damals erklärte. Andere sahen sich und ihre oft von Livemusik und Gesang begleiteten Auftritte an den Rand gedrängt durch die wachsende Zahl von Soundsystemwagen - deren einziger Bezug zum Karneval manchmal darin besteht, dass sie von mexikanischen Biermarken gesponsert werden.
Viel Müll und Urin
Doch nicht nur die TeilnehmerInnen klagen: AnwohnerInnen wird das Fest zu laut, zu voll, zu viel Müll und Urin am Straßenrand und in Grünanlagen. Die VeranstalterInnen wiederum sorgten sich zunehmend um die Sicherheit des Riesenfestes. Für ausreichende Vorkehrungsmaßnahmen reichte ihr schmaler Etat nicht aus.
Kleiner und größer: Um gut ein Drittel kürzer wird der Karnevalsumzug am Sonntag in diesem Jahr ausfallen. Einen Wettbewerb der Gruppen gibt es diesmal auch nicht. Dafür hat das Straßenfest am Halleschen Tor etwas mehr Platz als sonst. Vielleicht sind das genau die richtigen Voraussetzungen für KarnevalistInnen und BesucherInnen, einmal durchzuatmen und den Karneval unter leicht veränderten Bedingungen auszuprobieren.
Neues Sicherheitskonzept: Vorgesehen ist, dass alle Umzugswagen von Securitypersonal begleitet werden, die Kontakt zur Veranstaltungszentrale halten und dafür sorgen, dass die Durchfahrt der Wagen sicher bleibt. Der Ansteig der Publikumszahlen hatte die Unfallgefahr erhöht. Auch die Zahl der Toiletten sowie Wegweiser dorthin soll erhöht werden. Was die neuen Sicherheitsmaßnahmen exakt kosten werden, könne man erst am Ende beziffern, so Organisatorin des Karnevals der Kulturen Nadja Mau.
Drumherum: Auf dem Straßenfest rund um den Blücherplatz treten in diesem Jahr auf vier Bühnen rund hundert Bands, MusikerInnen und DJs auf. Eröffnet wird das Fest am Freitag um 16 Uhr, Ende ist Pfingstmontag um 19 Uhr. Für Kinder bieten der Kinderkarnevalsumzug ab dem Mariannenplatz am Samstag um 13.30 Uhr mit anschließendem Kinderfest im Görlitzer Park sowie der "Rasen in Aktion" beim Straßenfest viel Action. Feierwütige Volljährige können sich nach Konzertschluss (Freitag, Samstag und Sonntag um 24 Uhr) noch auf zahlreichen Partys, veranstaltet etwa von Umzugsgruppen, tummeln.
Mehr Informationen: unter www.karneval-berlin.de (akw)
In diesem Jahr wäre der Karneval deshalb beinahe ausgefallen. Die Teilnehmergruppen hatten dem Senat im Januar einen Forderungskatalog gestellt, in dem sie mehr Anerkennung, aber auch mehr logistische und finanzielle Unterstützung verlangten - und den Hinweis gaben: "Ohne Umzugsgruppen gibt es keinen Karneval der Kulturen!" Das wirkte: Im Februar kam der Senat den Forderungen nach. Mit einem neuen Sicherheitskonzept, aufgrund der kurzen Vorbereitungszeit nach der Zusage des Senats aber auch kleiner wird an diesem Wochenende der 20. Karneval der Kulturen stattfinden.
Klein hat das Fest auch 1996 mal angefangen - obwohl, so klein nun auch wieder nicht, wie Annett Szabo sich erinnert, eine der ErfinderInnen und damaligen OrganisatorInnen des Karnevals. Gut 50.000 ZuschauerInnen kamen bereits zum ersten Umzug, der damals nicht zu Pfingsten, sondern am Himmesfahrtstag stattfand. Das hatte einen handfesten Grund: Zwei Jahre zuvor hatten zum Himmelfahrts- oder auch Herrentag Rechtsextremisten in Magdeburg Jagd auf Afrikaner gemacht.
Diese und andere rassistische Ausschreitungen in Deutschland hatten für Szabo und ihre Kollegin Brigitte Walz den Anstoß gegeben. "Wir wollten eine Gelegenheit schaffen, kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum zu präsentieren", so Szabo. Eine Idee, die in Berlin offenbar ein Bedürfnis erfüllte: Schnell dehnte sich der Karneval räumlich und zeitlich aus, das Fest wurde auf Pfingsten und den Blücherplatz verlegt, um länger und größer feiern zu können. 2004 wurden Szabo und Walz dafür mit dem Verdienstorden des Landes Berlin ausgezeichnet.
Dass das Land seit dem vergangenen Jahr mit zusätzlichen 70.000 Euro auch die Teilnehmergruppen unterstützt, sei "höchste Zeit" gewesen, so Szabo: Viele TeilnehmerInnen machten für den Umzug Schulden.
Immer neue Menschen
Die Debatte um Sinn und Form der Karnevals sieht sie nicht als Bedrohung, sondern als elementaren Bestandteil des Festes: "Der Karneval kann in seinen Inhalten nicht gleich bleiben", so seine Miterfinderin. Von Anfang an hätten die TeilnehmerInnen "in ihrer Vielfalt unterschiedliche Ideen und Interessen" eingebracht. Die gemeinsame Grundidee müsste zwischen elektronischen Soundsystems - "die übrigens von Anfang an dabei waren!", so Szabo -, traditionellen Folklore- und politisch orientierten Gruppen immer neu ausgehandelt werden: "Es kommen ja immer neue Menschen und damit neue Ideen in die Stadt." Und gerade deshalb bliebe der Karneval der Kulturen wichtig.
Da geht Ellen Häring von der Gruppe La Calaca grundsätzlich mit. Der Verein, der von Anfang an beim Karneval dabei war, gehört zu denen, die das Fest für politische Botschaften nutzen - etwa zur Darstellung der Situation von Papierlosen. Im vergangenen Jahr hat La Calaca den Wettbewerb der Paradeteilnehmer gewonnen: mit einer Performance, die die Ausbeutung von Kohlearbeitern in Lateinamerika thematisierte. In diesem Jahr ist La Calaca erstmals nicht dabei.
Als endgültigen Ausstieg will Häring das aber nicht verstanden wissen: Die Vorbereitungszeit nach der Zusage des Senats zum Forderungskatalog sei schlicht zu kurz gewesen. Zudem hätte man gerne vorher stärker über Inhalte diskutiert. "Der Karneval lebt von Unterschiedlichkeit", stimmt Häring Szabo zu. Aber er sei eben auch "Bühne für eine gemeinsame Message". Das sieht sie durch Kommerzialisierung und "Loveparadisierung" des Festes bedroht: So sei ein Sponsor der Gruppe bereits abgesprungen, weil er "den Karneval nicht mehr als richtige Plattform zur Vermittlung seiner Botschaft sah", so Häring: "Zu laut, zu partymäßig, zu unpolitisch" sei der dem Geldgeber geworden.
An dem Konzeptdialog, den Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) direkt nach dem diesjährigen Fest mit den TeilnehmerInnen führen will, will La Calaca auf jeden Fall teilnehmen: "Wir sehen uns nicht als Aussteiger", so Häring.
30 Gruppen weniger
Auch alle anderen Noch- und Nicht-mehr-Teilnehmer sollen dazu eingeladen werden, sagt Nadja Mau, die den Karneval - in diesem Jahr wieder - organisiert. Auch sie war zwischendurch mal ausgestiegen. Seit die Trägerschaft des Karnevals nun von der Werkstatt der Kulturen auf die städtische Kulturprojekte Berlin GmbH überging - ein weiteres Zeichen für mehr Engagement Berlins -, hat sie wieder den Hut auf. Dass in diesem Jahr nur 62 Gruppen am Umzug teilnehmen - 2014 waren es gut 30 mehr -, dass es diesmal keine Jury, keinen Wettbewerb, keine Preise geben wird, liege an der kurzen Vorbereitungszeit und daran, "dass viele Fragen, die sich in den Gesprächen mit den Gruppen gestellt haben, in der Eile nicht beantwortet werden konnten". Den geplanten Dialog über Inhalte hält auch sie deshalb für "notwendig, um die Veranstaltung so breit zu verankern, dass sie von allen Beteiligten getragen wird".
Die Notwendigkeit des Karnevals steht trotz aller Krisen nicht infrage: Dies zeigt sich für Mau auch daran, dass bei allen Debatten immer wieder neue Teilnehmer dazukommen. Neun Gruppen sind das in diesem Jahr - darunter etwa "Zlatni Opanak" - der Goldene Schuh - eine serbische Volkstanzgruppe. Aber auch traditionalistische Gruppen wie diese gefallen beim Karneval keineswegs jedem: Ethnokitsch und Folklorespektakel nennen das manche - keineswegs alle! - postmigrantischen Karneval-Kritiker. Biljana Hertel von Zlatni Opanak zuckt darüber mit den Schultern: "Man braucht die Vergangenheit für die Gegenwart und ein bisschen Heimat, um hier funktionieren zu können." Zudem - ganz pragmatisch - lernten die meist hier geborenen Kinder und Jugendlichen beim Singen der serbischen Volkslieder "die serbischen Buchstaben auszusprechen, die es im Deutschen nicht gibt", so Hertel.
Für sie persönlich sei es "eine aufregende Ehre", am Karneval teilzunehmen, von den ZuschauerInnen am Straßenrand bejubelt zu werden für das, was man zeigt, sagt die seit 23 Jahren in Deutschland lebende Serbin.
Und genau das mache den Karneval aus, sagt Nadja Mau: "Er verändert die Stadt, indem er die Teilnehmer verändert. Sie haben etwas für Berlin getan, und das Publikum gibt ihnen dafür etwas zurück." Das schaffe ein positives Erlebnis und damit positive Energie für die ganze Stadt.
Es sei diese Energie des Karnevals - "die Prozesse, die da in Gang kommen" -, die das Fest für die Stadt unverzichtbar machten, sagt auch Annett Szabo.
Ohne den Karneval würde Berlin deshalb etwas fehlen, meint auch Günter Heiden von der Initiative Selbstbestimmt Leben: "Und dem Karneval etwas ohne uns."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken