: Coronavirus beendet Personalnot in Schulen
Berlin greift angesichts des LehrerInnenmangels gerne auf QuereinsteigerInnen zurück. Die stehen jetzt Schlange, ausgerechnet dank Corona: Beim Homeschooling sind viele Eltern auf den Geschmack gekommen
Von Bert Schulz und Alke Wierth
Der seit der Schließung der Berliner Schulen praktizierte Heimunterricht wegen der Corona-Pandemie hat eine willkommene Nebenwirkung für Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD): Das Online-Bewerbungsportal der Senatsverwaltung für Bildung BEO verzeichnet bereits seit Tagen einen massiven Anstieg von Bewerbungen für den Quereinstieg in den Lehrberuf. Nach taz-Informationen liegen die Anfragen im mittleren dreistelligen Bereich pro Woche – so viele waren es sonst in einem Monat.
„Wir kommen auch angesichts anderer dringender Aufgaben in Sachen Homeschooling kaum hinterher, die große Zahl der Bewerbungen zu bearbeiten“, hieß es aus der Verwaltung. Man freue sich dennoch sehr über die steigende Nachfrage, denn Berlin fehlt es chronisch an LehrerInnen. Seit Jahren wurden zu wenig ausgebildet, gleichzeitig steigt die Zahl der SchülerInnen stetig.
Bildungssenatorin Scheeres hat deswegen verstärkt auf QuereinsteigerInnen zurückgegriffen. Und damit offenbar genau auf das richtige „Pferd“ gesetzt: Der seit der Schließung der Schulen notwendige Hausunterricht der Kinder hat offenbar viele Eltern auf den Geschmack gebracht, heißt es aus der Bildungsverwaltung.
Offiziell wollte sich dort am Dienstag niemand dazu gegenüber der taz äußern. Intern hieß es allerdings, man habe einen solchen Effekt erwartet, allerdings nicht gedacht, dass er so schnell eintrete. Senatorin Scheeres wird aus ihrem Umfeld mit den Worten zitiert, sie sei „entzückt“ über das neu erwachte Engagement und die hohe Zahl der InteressentInnen.
Der Vorteil der neuen BewerberInnen: Sie haben durch das Homeschooling in der Coronakrise bereits erste Erfahrungen mit dem Unterrichtstoff gesammelt. Zudem lernen sie durch den Kontakt mit ihren Kindern, sich in deren Situation hineinzufühlen und deren Blick auf Unterricht und Inhalt zu verinnerlichen – eine Erfahrung, die PädagogInnen zufolge nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Er habe immer gewusst, dass die Mathelehrerin seines Sohnes „nichts drauf“ habe, sagt etwa taz-Kollege Gabriel T.: Seit er seinen Sohn zu Hause in Mathematik unterrichte, „fluppt das“, findet T. „Da muss man sich eben einfach mal intensiver mit einem einzelnen Kind beschäftigen!“ Auch taz-Seelsorger Bodo F. hat seine Neigung für den Lehrerberuf entdeckt, seit die Schulbücher seiner Kinder „zu Hause rumliegen“: „Evolutionstheorie! Und Sexualkunde wird da gelehrt!“ Das gehe „ja gar nicht“. F. hat sich nun als Quereinsteiger beworben, „um da mal aufzuräumen“.
Nach taz-Informationen bilden die vielen InteressentInnen einen breiten Querschnitt der Berliner Bevölkerung ab. Dass ihre bisherigen Jobs in der aktuellen Lage nicht allzu sicher sind, könnte ein gemeinsamer Nenner sein.
Darunter seien sowohl die Mutter aus dem Prenzlauer Berg, die angesichts akut schwieriger Verhältnisse ihres Ex-Manns nun an ein eigenes Einkommen denken müsse, wie auch der Pizzabäcker, der beim Homeschooling und -cooking gemerkt habe, dass die Welt mehr ist als eine belegte Teigscheibe, heißt es aus der Schulverwaltung.
Die taz konnte einige der QuereinsteigerbewerberInnen zu ihrer Motivation befragen. Mit vollem Namen wollte keiner in der Zeitung stehen – zu unsicher sei, ob angesichts des Andrangs auch jeder seinen neuen Traumberuf wirklich antreten könne, so die Begründung. Franziska A. etwa aus Neukölln hatte zuletzt die Zahl der bei ihr unterrichteten Kinder noch erweitert, so viel Freude habe sie am Lehrerjob entwickelt, sagt die 39-Jährige. „Ich habe vier Kinder zwischen sieben und 14 Jahren und spontan noch drei von den Nachbarn übernommen. Das ist doch schon eine richtige kleine Klasse“, sagt sie glücklich.
Der Unterricht finde dabei komplett auf Spanisch statt, der in ihrem Kiez trotz Corona weiterhin meist verbreiteten Fremdsprache. „Das ist kein Problem; die Kinder wollen ja richtig was lernen und Spanisch ist ja geradezu eine intuitive Sprache“, berichtet sie.
Auch Amelie H. findet es eine „Erfüllung“, mit Kindern zu arbeiten, so die Mutter eines Acht- und einer Sechsjährigen: Bisher arbeitete die 45-Jährige als Managerin eines Start-ups in der IT-Branche: „Eine 80-Stunden-Woche“, seufzt sie. Viel Zeit für Kinder sei da nicht geblieben. Jetzt unterrichte sie ihre Kinder selbst, natürlich per Videokonferenz-App: „Praktisch, weil da ja auch gleich immer der Name unten steht.“ Mit „all den E-Learning-Apps“, die es jetzt gebe, hält sie es für möglich, den Lehrerjob mit ihrer jetzigen Tätigkeit zu vereinbaren.
Eren L. aus Kreuzberg hingegen betrieb bisher eine Shisha-Bar. Nach dem „Shutdown wegen Corona“ wolle er in ein gesünderes Umfeld wechseln, sagt der 32-Jährige. „Ich möchte, dass später von meinem Leben mehr übrigbleibt als kalter Rauch – die SchülerInnen sollen sich an mich erinnern.“ Ihm schweben Unterrichtseinheiten vor, in denen physisch schwer verständliche Eigenschaften an Alltagsgegenständen erklärt werden, wie etwa der Lufttransport durch die verschlungenen Schläuche einer Wasserpfeife.
Günther K. aus Reinickendorf arbeitete bisher als Fahrer für Unternehmen wie Uber. „Da habe ich gelernt, dass man sich nicht alles gefallen lassen muss – etwa, wenn die vollgekoksten Kunden aus dem Club auf der Rückbank zutraulich werden.“ Eine Erfahrung, die er sicher in der Schule gut gebrauchen kann, wie der 57-Jährige glaubt. „Mal jemanden rauszuschmeißen, hat noch niemandem geschadet.“
Aus der Bildungsverwaltung heißt es, man werde die Voraussetzungen für den Quereinstieg „noch einmal überdenken, sobald Zeit dazu ist“. Angesichts des Lehrermangels und „derart motivierter Bewerber*innen“ sei es möglicherweise sinnvoll, von bisherigen fachbezogenen Qualifikationen künftig abzusehen.
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