Versorgung Obdachloser in Berlin: Vom Arzt auf die Straße entlassen
Im Klinikum Friedrichshain berät ein erstes Arbeitstreffen, wie obdachlose Menschen besser versorgt werden können. Die Lage in der Hauptstadt ist dramatisch.
Benjamin Irmscher arbeitet als Oberarzt in der Zentralen Notaufnahme des KFH. Er berichtet von Sprachbarrieren, einer Lücke zwischen akuter und weitergehender Versorgung und Fehlern in der Behandlung.
Manche Obdachlose seien beispielsweise betrunken, könnten aber trotzdem erkrankt sein. „Die Gefahr, das zu übersehen, ist hoch“, sagt er. Manchmal stehe er mit Google-Übersetzer neben dem Krankenbett, sagt Irmscher. Diese Gespräche seien sehr begrenzend und würden die Behandlung erschweren. Mehr als die Hälfte der Patienten hätten zudem keine Krankenversicherung. Der Arzt wisse oft nicht, wohin er die Patienten nach erfolgter Behandlung schicken solle. In der Realität folge in den meisten Fällen die Entlassung auf die Straße: „Wir stehen vor großen Herausforderungen.“
In Mitte wurde 2002 das Gesundheitszentrum der Jenny-De-la-Torre-Stiftung gegründet. Dort werden auch Obdachlose aus den Krankenhäusern zur Nachbehandlung hingeschickt, etwa zur Wundversorgung. Ärztin De la Torre sagt: „Von denen kommen vielleicht 5 Prozent bei uns an.“ Sie habe schon versucht, beim Senat zu erwirken, dass die Obdachlosen personalisierte Fahrkarten erhalten, damit sie sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt bewegen könnten – bisher ohne Erfolg. An dieser Stelle könnte eine Vernetzung helfen, die medizinische Versorgung zu verbessern, sind sich die Mediziner einig.
Besonders dramatisch ist die Lage laut Diakon Ullrich Neugebauer in den Notunterkünften der Kältehilfe: „Wir sind kein Krankenhaus, kein Konsumraum, sondern eine Notübernachtung, um vor dem Erfrierungstod zu bewahren. Trotzdem kommen zu uns schwerkranke Menschen.“ Die Übernachtungsangebote seien darauf nicht vorbereitet, die Ehrenamtler dafür nicht qualifiziert. Geholfen habe es den Obdachlosen, dass einige Einrichtungen während der Pandemie dauerhaft öffneten. Lakonisch kommentiert Neugebauer: „Wir hatten eine gute Zeit durch Corona. Uns ist es in einer 24/7-Unterkunft gelungen, den Menschen Perspektiven aufzuzeigen.“
De la Torre bestätigt, dass viele Obdachlose Zeit bräuchten, um von der Straße zu kommen: „Für manche brauchen wir 15 Jahre, um sie von der Straße zu holen, manche schaffen es gar nicht.“ Der Arzt aus der Notaufnahme Benjamin Irmscher schlägt außerdem einen Sozialdienst, eine Koordinationsstelle zur Weiterversorgung und Dolmetscher vor. Auch die Perspektiven ehemaliger Obdachloser sollten besser genutzt werden, sagt ein weiterer Arzt. Das könne die Angst und das Misstrauen vor Einrichtungen dämpfen, und die Bereitschaft von Obdachlosen erhöhen, Hilfe anzunehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern