Verschwörungstheorien in der Coronakrise: Aluhut ab!
Berechtigte existenzielle Sorgen stehen oft neben Verschwörungstheorien. Das zu benennen ist keine Diskreditierung legitimer Kritik.
Würden wir glauben, man könne dem Staat alles abnehmen, würden wir diese Zeitung nicht machen. Ein Informationsministerium und ein paar Pressestellen würden reichen. Die taz lebt davon, ein Gegenmodell zum Verlautbarungsjournalismus zu sein. In der Coronakrise aber fallen die Vorstellungen, was Kritik und Aufklärung sind, auseinander.
Zu spüren ist Irritation. Manche LeserInnen klagen, der taz falle in der Jahrhundertkrise nichts Besseres ein, als die staatliche Gesundheitspolitik zu benicken. Denn in ihrer Berichterstattung ist die Redaktion oft zu dem Ergebnis gekommen, dass der Staat auf Grundlage des verfügbaren Wissens durchaus Dinge richtig gemacht hat.
Das sehen nicht alle so. Die Kritik an der Coronapolitik füllt heute Straßen und Plätze, Telegram und Tiktok. Es artikuliert sich ein Kontinuum, dessen Pole klar erkennbar, dessen Schattierungen aber undeutlich sind: Auf der einen Seite stehen berechtigte Sorgen um Grundrechte und wirtschaftliche Existenzen, wird substanzielle Kritik an der Pandemiepolitik mit der sozialen Frage gekoppelt.
Daneben steht, oft kaum trennscharf, Geraune aus den schattigen Ecken des Internets, das sich bis zu Antisemitismus und offenkundigem Wahn versteigt. Verschwörungsglaube hat mit der Pandemie eine grelle Projektionsfläche gefunden. Er wurde zum Katalysator der Aufmerksamkeitskonkurrenz. Manche wüten heute mit den gleichen Worten gegen die Coronapolitik, wie sie es vor Kurzem noch bei der Flüchtlingspolitik getan haben. Dem, was sie über Corona sagen, mag der rationale Kern fehlen, nicht aber die politische Funktion: Es soll die Ablehnung demokratischer Institutionen anfachen.
Wo sind die Grenzen?
Diese düsteren Anteile der Coronakritik zu benennen, ist keine Diskreditierung legitimer Kritik. Doch viele empfinden es so. Helfen kann da nur, Grenzen auszuleuchten, auch im eigenen Milieu: Wo endet das berechtigte, wo beginnt das abseitige Misstrauen gegen den Staat genau? Wo wird aus dem alternativen Blick auf die Welt eine eskapistische Suche nach einer trügerischen alternativen Wahrheit? Wo kippt Dissidenz ins Antisemitische? Und wo wird sie anschlussfähig für Rechte und Populisten?
Mit diesem Schwerpunkt laden wir dazu ein, diese Grenze gemeinsam zu erkunden. Wir reden mit einem Ärztekollektiv, dem die Sinnhaftigkeit der Coronapolitik nicht einleuchtet, finden schon bei den Illuminati einen gewissen Coronini, erforschen linke Mythen und sprechen mit einer Historikerin über Geschlecht und Verschwörung.
So hoffen wir Verständigung zu schaffen: dass da, wo Kritik und Aufklärung sind, kein Verschwörungsglaube hinpasst.
Leser*innenkommentare
mowgli
Zitat: „Dem, was sie [Anm: „sie“ werden zuvor „manche“ genannt und locker mit der Kritik an der „Flüchtlingspolitik“ der Regierung verknüpft) über Corona sagen, mag der rationale Kern fehlen, nicht aber die politische Funktion: Es soll die Ablehnung demokratischer Institutionen anfachen.“
Der „rationale Kern“ ist leider zu oft unübersehbar. Auch Nicht-Akademiker können dank Nachrichtenflut kaum bezweifeln, dass „die Politik“ gern auch mal widersprüchliche „Ansagen“ macht. Und zwar weil sich die, die diese Krise als persönliche Chance begreifen, gerade nicht abstimmen miteinander. Dass sogenannte Populisten solche Steilvorlagen nutzen, um sich selbst als Alternative zu bewerben, sollte niemanden wundern. Auch Christian Jakob und Sabine Seifert nicht. (Hieß es nicht früher: „Ladies First„?)
Was das alles „soll“, kann allerdings auch nur orakelt werden. Nein, den „düsteren Anteile der Coronakritik zu benennen, ist keine Diskreditierung legitimer Kritik“. Jeden Kritiker umgehend der Befehlsgewalt rechter Demagogen zu unterstellen, ist aber sehr dumm. Wenn das als Anmaßung empfunden wird von Leuten, die stolz darauf sind, sich ihre eigenen Gedanken gemacht zu haben, wundert es nicht. Gekränkt sein ist allgemein menschlich. Das zeigt sich u.a., wenn „den Medien“ pauschal Staatsnähe unterstellt wird, obwohl sie doch eigentlich aus eigenem Antrieb systemrelevat wirken (wollen).
Im Übrigen kann das Ausleuchten von Grenzen natürlich auch in diesem Fall nur helfen, wenn es nicht nur um die Grenzen der anderen geht. Journalisten sind auch Menschen. Als solche aber sind sie irgendwo zwischen Recht- und Unrecht, Glauben und Wissen, Kadavergehorsam, Mitläufertum und Individualität aufgewachsen. Das prägt. Blindes Vertrauen in „den Staat“ dürfen sie jedenfalls schon qua Profession nicht haben. Sie sind schließlich Vierte Gewalt.
Hoffnung muss sein. Überheblichkeit nicht. Denn „nur da, wo Kritik und Aufklärung sind, [passt] kein Verschwörungsglaube hin[...]“.
Mitch Miller
Ich finde es übrigens SEHR bemerkenswert, dass zum Thema "Impfzwang" jetzt jede Menge Kinder instrumentalisiert werden, die das garantiert noch nicht blicken. Da meckert keiner!?
Aber beim Thema Klima, das ja im Grunde SEHR einfach ist, da wird geschimpft, dass irgendwelche ominösen Organisationen die Kinder missbrauchen für ihre Zwecke?
Klingelt da was?
Huckelrieder
Manche wüten heute mit den gleichen Worten gegen die Coronapolitik, wie sie es vor Kurzem noch bei der Flüchtlingspolitik getan haben"
Das nehme ich aber vor allem bei denjenigen wahr, die am liebsten einen fortdauernden Lockdown und permanent geschlossene Grenzen hätten und die das uneinsichtige Volk in ihren feuchten Phantasien auch schon mal gerne von bewaffneten Soldaten in die Wohnungen zurücktreiben lassen würden.
Bitte neben den Ignoranten und Aluhutträgern bitte auch diese Illiberalen und neuen Autoritären nicht aus den Augen verlieren, die durch die Corona-Maßnahmen massiven Auftrieb bekommen haben.
Sie halte ich für mindestens genauso gefährlich; nicht nur rufen sie zur Gewalt auf, sondern es sind wohl auch schon einzelne von ihnen zur Tat geschritten:
www.butenunbinnen....pielplatz-100.html
Imto
Naja, wenn man jetzt so argumentiert sollte man sich auch nicht beschweren, wenn Faz und Bild mal wieder alle 5000 Teilnehmer einer Demo als gewaltbereite Autonome bezeichnen, auch wenn das vielleicht nur 50 waren.
Ich würde Ihnen allerdings zustimmen. Im großen und ganzen macht die Politik unserer Regierung schon Sinn. Den Schluss kan man dem Leser allerdings durchaus auch selber zutrauen. Man darf auch Gegenargumente nennen und die dann entkräftigen oder für das Überwiegen des besseren Argumentes plädieren. Das ist deutlich überzeugender als die Gegenargumente nicht zu nennen, oder sie gleich zu diskreditieren.
Und man darf und sollte Aluhüte ignorieren. Sich als Inquisitor gegen die Ketzer und ihre falsche Lehre (fake News) aufzuspielen, treibt den Ketzern nur die sowieso schon kritischen Gläubigen in die Arme. Man sollte meinen die deutsche Medienlandschaft hätte aus ihren hypen der AfD gelernt. Die Taz hält sich da ja zum Glück noch zurück, aber wenn man sich SPON et al. anschaut kommt einem das blanke Grausen.
Die aktuelle Situation ist für einige Leute richtig scheisse. Man muss da Überzeugungsarbeit leisten und sie nicht verdammen, wenn sie dumme Sachen machen.
Abreger
Ich finde Ihre Initiative gut, mit dem Schwerpunkt Grenzen "gemeinsam" (!) zu erkunden.
Dabei möchte ich von vorne herein um Folgendes bitten:
Begehen Sie nicht den Fehler, den "Mythen" oder "Theorien" etwas als "Wahrheit" oder "Tatsache" gegenüberzustellen, was in Wirklichkeit ebenfalls nur eine Theorie oder eine Überzeugung ist.
Beispiel: Beim Klimawandel kann man meiner Meinung nach guten Gewissens von einer Tatsache sprechen, da dieser nun seit mehreren Jahrzehnten international erforscht und durch die Auswirkungen in der Realität hinreichend belegt ist und eine überwältigende Mehrheit der seriösen internationalen Wissenschaft diesen als erwiesen ansieht.
Im Gegensatz zum Klimawandel ist Corona ein wenige Monate altes Phänomen, an dem zwar fleißig geforscht wird, zu dem aber noch für längere Zeit keine abschließenden und eindeutigen Erkenntnisse vorliegen werden.
Bis dahin ist es nur fair, wenn alle (seriösen, wissenschaftlich fundierten) Ansichten zu Corona-Maßnahmen sowie seriöse Berichte von Betroffenen als gleichermaßen gültig anerkannt werden, ohne das eine sinngemäß als "Quatsch" abzutun und das andere als "Tatsache" zu bezeichnen.
Mitch Miller
@Abreger Sie finden es z.B. "fair", Covid-19 als einfache Grippe zu bezeichnen?
Wer die Augen offen hat weiss schon jetzt, dass das völliger Blödsinn ist, das ist es nicht wert, auch nur einen Gedankenfurz daran zu verschwenden.
Genauso geht es mit vielen anderen "Theorien", die nichts weiter sind als gefährliche Fantasien von weniger-als-Laien, die meinen, sie würden die Wahrheit erkennen, während tausende böse Wissenschaftler ihren Job falsch machen, weil sie Geld dafür kriegen.
Man kann auch wertvolle Zeit und Ressourcen verschwenden, wenn man in einer gefährlichen Situation erstmal alle Fässer aufmacht und jedem Ansatz nachläuft, auch wenn er Blödsinn ist.
"Danach" (wenn es das gibt) kann man ja gerne mal weiterdenken.
Poseidon
Ich finde es sehr erfreulich dass die taz sich nach einiger Kritik dieser Diskussion stellt. Es sah eine ganze Zeit nicht danach aus.
Ob die getroffenen Maßnahmen gegen Corona verhältnismäßig sind und waren, wird sich wohl erst im Rückblick wirklich zeigen. Vor allem dann wenn die "Kollateralschäden" die durch die Maßnahmen verursacht wurden voll zum tragen kommen und publik werden.
Einschränkung von Grundrechten mit Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sind kein Spaß. Und über die Sinnhaftigkeit dessen zu diskutieren ist absolut legitim.
Ein Medium das nicht jeden Zweifel pauschal unter die Alu-Kappe steckt, erweist sich gerade dadurch als unabhängig - auch im denken.
90946 (Profil gelöscht)
Gast
Ich beantrage, schon mal mit dem Begrifflichen anzufangen und nicht mehr fahrlässig und unzutreffend von Verschwörungs"theorien" zu sprechen. Zu viel Ehre!
Von mir aus Verschwörungs"mythen" oder -"glaube (wie hier z.T. vorbildlich geschehen), gerne auch -"geraune".
Ria Sauter
Gast
Sehr guter Ansatz. Hätte ich mir früher gewünscht!