Verschleppt in Ägypten: Hundert Fragen, keine Antwort
Seit 2015 sind zahlreiche Ägypter verschwunden. In geheimen Haftanstalten wird gefoltert. Viele der Verschleppten tauchen nie wieder auf.
Ihre Untersuchungshaft verlängerte sich immer wieder, obwohl die junge Frau nach einer Schusswunde aus der Zeit des Aufstand gegen Mubarak 2011 kaum ohne Hilfe gehen konnte und dringend medizinisch versorgt werden musste. Erst vor wenigen Tagen ist sie „aus gesundheitlichen Gründen“ freigekommen. Das Verfahren gegen sie läuft aber weiter.
Easraa El-Taweel ist kein Einzelfall. Bereits zuvor war der Student Nour Khalil aus dem Nildelta verschwunden, nachdem er am 24. Mai festgenommen worden war. Erst vier Monate später wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft in Alexandria ihn hatte. Nach 200 Tagen Haft gelang es ihm, einen Brief nach draußen zu schmuggeln. Darin beschrieb er, wie er von einem Haftzentrum zum anderen transportiert, gefoltert und erniedrigt wurde, ohne dass sein Fall irgendwo registriert worden war. Seine Peiniger hätten ihn schließlich, nach 122 Tagen, willkürlich einem Gerichtsverfahren zugeschlagen, mit dem er nach eigener Aussage nichts zu tun hatte.
Aber zumindest gilt er seitdem nicht mehr als verschwunden. Immer wieder plage ihn die Frage nach dem Warum, heißt es in seinem Brief, der von der unabhängigen ägyptischen Nachrichtenplattform Mada Masr veröffentlicht wurde. „Warum wurde ich verschleppt, warum gefoltert, warum hat man mich willkürlich einem Verfahren zugeschlagen, obwohl sie wissen, dass ich nichts damit zu tun habe?
Warum gibt das Innenministerium nicht zu, dass ich 122 Tage unter seiner Aufsicht verschwunden war? In jedem Kapitel meiner Geschichte gibt es hundert Warum-Fragen und keine Antworten“, schreibt er. Nur einmal habe ein Zellennachbar auf alle diesen Fragen mit einem Satz geantwortet: „Weil du Ägypter bist und in Ägypten lebst.“
Das Schema ist stets gleich
Das Schema der Verschwundenen sei stets das gleiche, erklärt der Menschenrechtsanwalt Mokhtar Munir. Oftmals habe jemand noch mitbekommen, dass sie vom Sicherheitsapparat festgenommen wurden. Aber dann verliere sich die Spur: „Weder die Familie noch die Anwälte wissen, wo sich die Person aufhält. Oft werden die Verschleppten gefoltert und Geständnisse erpresst. Dann werden sie medizinisch behandelt und der Staatsanwaltschaft übergeben“, beschreibt er das Prozedere.
Die Regierung rechtfertigt das harte Vorgehen des Sicherheitsapparats als Kampf gegen den Terror. „Derweil können wir noch nicht einmal behaupten, dass die Mehrzahl der Verschwunden Islamisten sind. Es finden sich unter ihnen auch viele mit anderen politischen Einstellungen“, erklärt der Anwalt. „Und manchmal“, sagt er, „erwischt es auch Menschen, die einfach nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren.“
So erging es dem Kairoer Pförtner Hani Abdel Sattar. Die Familie des Pförtners lebt im Kairoer Viertel Nasr-City in einem kleinen Raum neben einem bürgerlichen Wohnhaus, auf das sie aufpassen.
Sie nahmen ihn gleich mit
Hanis Frau, Umm Muhammad, ihre drei Kinder und die Großmutter teilen sich ein kleines mit Matten ausgelegtes Zimmer, dessen einziger Einrichtungsgegenstand ein alter Fernseher ist, in dem gerade der Koran rezitiert wird. Neben dem Raum liegt ein mit Holzpfosten gestützter Verschlag, der als Küche dient.
„Mein Mann Hani hatte sich nebenbei noch Geld verdient, indem er in einem Büro geputzt hat“, beginnt Umm Muhammad ihren Bericht. Von dort kam er am 10. August nicht mehr nach Hause. „Ich habe dann angerufen, und sie sagten, mein Mann sei zusammen mit dem Bürochef Hischam Tayyeb von Sicherheitsleuten abgeholt worden“, erläutert sie.
Später habe sie ihren Bruder angerufen. Der kam aus dem Nildelta, und sie machten sich gemeinsam auf die Suche. Bei der Polizei habe man nichts vom Verbleib ihres Mannes gewusst. Sie hätten überall nachgefragt, in den Krankenhäusern, Gefängnissen, im Innenministerium und bei der Staatsanwaltschaft. Nirgends bekamen sie eine Auskunft, wo sich Hani aufhält.
Man sagte ihr, ihr Mann sei nicht da
Drei Wochen später erfuhr die Familie, dass Hischam Tayyeb, der Bürochef, der zusammen mit Hani verhaftet worden war, in einem Gefängnis in der Kairoer Innenstadt einsaß.
Umm Muhammad fuhr dort hin, in der Hoffnung, dort auch ihren Mann zu finden. Sie brachte für Hischam Kleidung und Essen mit, aber man sagte ihr, ihr Mann sei nicht da. „Wir haben dann versucht, Hischam im Gefängnis zu besuchen, aber das wurde uns nicht gestattet“, erinnert sie sich.
Es gab aber einige vergitterte Fenster zu Straße hin. Dort habe sie immer wieder nach Hischam Tayyeb gerufen, bis dieser tatsächlich antwortete. Er erzählte, Hani sei am dritten Tag nach seiner Festnahme gestorben. Weiteren Details ersticken unter Umm Muhammads Tränen.
Nie offiziell verhaftet
Ihr Bruder Muhammad Salah hat später von Mitgefangenen erfahren, was mit Hani geschehen ist: Sie seien zusammen mit Hani drei Tage lang misshandelt worden, wurden nackt ausgezogen, ihre Augen verbunden, ihre Körper mit Elektroschocks gefoltert. Dann hätten sie Hani tot in der Zelle gefunden, gibt Muhammad Salah die Berichte der Mitgefangenen wieder. „Wir wollen wenigstens seine Leiche, um ihn angemessen begraben zu können“, fordert er.
Bis heute gilt Hani als verschwunden. Er wurde nie offiziell verhaftet, und offiziell ist er auch nie gestorben. Es gibt keinen Totenschein. Hanis Schwager Muhammad tritt während des Gesprächs vor die Pförtnerhütte, damit die Kinder nicht die Einzelheiten über die Folter und den Tod ihres Vaters mitanhören.
Wir haben doch nichts mit Politik zu tun
Drinnen kämpft Umm Muhammad immer noch um ihre Fassung. Zwei ihrer kleinen Kinder, Muhammad und Mona, stimmen in ihr lautes Schluchzen ein. „Wo ist Hani?“, fragt sie immer wieder. „Er war 47 Jahre alt, munter und gesund. Was haben wir verbrochen, wir haben doch nichts mit Politik zu tun?“
Sie erzählt, wie sie noch im Sommer mit ihren Kindern auf dem Tahrirplatz stand, um die Eröffnung einer zweiten Trasse des Suezkanals zu feiern, das Prestigeprojekt von Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, den sie zusammen mit ihrem Land haben hochleben lassen.
Auf einem Handy gibt es noch Fotos von diesem 6. August, vier Tage, bevor Hani für immer verschwand. Die Kinder schwenken auf den Fotos eine ägyptische Fahne. Stolz lichten sie sich ab, vor einem martialisch aufgebauten Polizisten ganz in Schwarz. Die Kinder und Umm Muhammad lächeln in die Kamera. Das Gesicht des Polizisten ist nicht zu erkennen, es ist hinter einer schwarzen Maske verborgen.
Umm Mohammeds sitzt mit tränenverschmiertem Gesicht in ihrem Zimmer. „Was soll ich meinen Kindern sagen, soll ich ihnen sagen, sie sollen ihr Land hassen? Dieses Land hat ihren Vater umgebracht. Ist das unser Land?“, fragt sie verbittert und erwartet keine Antwort. Stattdessen fragt sie ein zweites Mal, eher an sich selbst gerichtet: „Was soll ich meinen Kindern sagen?“
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