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Versagen der EU in der FlüchtlingspolitikErdoğan schmieren für die Realpolitik

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Europa will sich neben Corona nicht auch noch mehr Flüchtlinge leisten. Und so bieten Merkel und Macron dem Autokraten aus Ankara doch wieder Geld.

Erdogan bei einer Telekonferenz mit Merkel, Macron und Johnson Foto: Türkisches Präsdientenamt via ap

A m Mittwochmorgen versuchten erneut Hunderte jüngerer Männer in einer konzertierten Aktion die griechische Grenze von der Türkei aus zu überwinden. Es gab ein Handgemenge zwischen Polizisten und Flüchtlingen, griechische und türkische Polizei beschoss sich wechselseitig mit Tränengas.

Auch wenn angesichts der Coronakrise die meisten Europäer die Situation an der griechischen Grenze schon wieder verdrängt haben, ist das Problem dort nicht gelöst. Im Gegenteil, die EU-Staaten können sich noch nicht einmal darauf einigen, ein paar Hundert bedrohte Flücht­lings­kinder aus den unmenschlichen Lagern auf den griechischen Inseln auf andere Länder umzuverteilen.

Angesichts dieser Situation und in der Gewissheit, dass sich Europa neben Corona keine weitere Großkrise mehr leisten kann, schalteten Merkel und Macron am Dienstag gegenüber dem türkischen Präsidenten auf Realpolitik à la EU. Da es ohne Erdoğan offenbar nicht geht, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit, boten sie zur Befriedung des Autokraten aus Ankara mehr Geld. Geld dafür, dass Erdoğan die zahlreichen Flüchtlinge in der Türkei wieder gewaltsam davon abhält, die griechische Grenze zu stürmen, statt sie, wie im Moment, geradezu zu ermuntern, es zu versuchen. Man kann noch so sehr über Erpressung und schamlose Politik auf dem Rücken der Schwächsten klagen: Merkel und Macron wissen, dass die EU in Zeiten von Corona keine neuerliche große Flüchtlingskrise mehr überstehen würde. Also musste Erdoğan geschmiert werden.

Einmal abgesehen davon, dass diese ganze Politik gegenüber Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten mit humanem Verhalten schon lange nichts mehr zu tun hat, gibt Erdoğan nur den Druck weiter, den Putin und Assad durch ihren Terror in Syrien auf ihn ausüben. Eine neue Flüchtlingswelle aus Idlib würde auch Erdoğan politisch wohl nicht überleben. Allein mit Geld lässt sich die Krise deshalb nicht lösen. Die EU muss auch bereit sein, in Syrien Verantwortung zu übernehmen, damit die 3 Millionen Flüchtlinge in Idlib im Land bleiben können.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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8 Kommentare

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  • Erdogan will Flüchtlinge in Nord-Syrien ansiedeln, die freiwillig zurückkehren. Eine finanzielle Prämie soll sie dazu ermuntern. Wenn er dafür Geld erhält ist das wohl auch im Sinne der EU, die in Syrien nicht den geringsten politischen Einfluß hat. Erdogan automatisch zu verteufeln geht an der Realität vorbei.

  • "Einmal abgesehen davon [...] gibt Erdoğan nur den Druck weiter, den Putin und Assad durch ihren Terror in Syrien auf ihn ausüben."

    Niemand, wirklich NIEMAND flieht vor Erdogan, dem großen Befreier!

  • Wo versagt eigentlich die EU?

    Erdogan kümmert sich um die Flüchtlinge und bekommt dafür viel Geld.

    Das Deutsche Rote Kreuz erhält auch eine ganze Menge öffentliche Zuwendungen. Heißt das, die Landesregierungen schmieren auch das DRK?

    Nun war der liebe Recep mal etwas verkniffen, weil nicht ganz so viel Geld floß, wie ihm zugesagt worden war, und das Geld auch noch oft direkt an NGOs und Projekte ging.

    Außerdem war er gerade außenpolitisch etwas "auf`s Maul geflogen".

    Deshalb versuchte er, den Griechen etwas an Bein zu pinkeln.

    Die EU hat bewiesen, dass sie nicht erpressbar ist, und nun läuft der Laden wieder.

    Wenn ich nicht gerade der Meinung bin, dass Deutschland der einzig zumutbare Ort zum Leben für Afghanen, Iraner, Türken und Syrer ist, gelingt es mir nicht, ein Versagen zu erkennen.

    • @rero:

      Die EU versagt, wenn sie Flüchtende an der Grenze abweist.



      Sie versagt schon lange darin sich solidarisch untereinander zu zeigen.



      Sie versagt zunehmends darin, eine gemeinsame, positive Vision von Europa aufrecht zu erhalten.

      Nach der Spaltung in der Finanzkrise, schein sich nun jeder selbst der Nächste... wir brauchen dringend wieder eine gemeinsame positive Vision!



      Legalize! Grundeinkommen! Worldwide! :)

  • Apropos Flüchtlinge und EU-Geld:



    Die EU-Verhandler haben nicht das Mandat, die Interessen der Flüchtlinge zu vertreten, sondern sie vertreten die Interessen und Wünsche ihrer Bürger und Wähler. Das Ziel kann für sie nur sein, die Flüchtlinge möglichst in der Türkei zu lassen. Deutschland ist eine Demokratie - und die Regierung hat schon das Recht, in Sachen Flüchtlinge dem Wunsch der Mehrheit der Bürger nachzukommen.

    Das mag nicht der Wunsch von mir oder Jürgen Gottschlich sein, aber so geht das in einer Demokratie: Die Mehrheit setzt sich durch. Wir beiden, Gottschlich und ich, sollten also unsere Kritik primär an die Bürger, die Wähler adressieren.

    Bisher ist die EU billig davongekommen. 4,7 Mrd. Euro in vier oder fünf Jahren, das macht wohl ca. 300 Euro pro Flüchtling und Jahr in der Türkei. Jetzt wird man ein paar Milliarden drauflegen - und das wird immer noch extrem "günstig" für die EU sein. Nicht für die Flüchtlinge, natürlich. Auch nicht unbedingt für Erdogan. Der müsste nun allmählich die Flüchtlinge loswerden, irgendwie, nach Süden (Syrien) oder nach Westen und Nordwesten (Europa). Aber beides scheint nicht zu klappen. Erdogan hat die schlechteren Karten.

  • Ob Erdogan die Idlib-Krise überlebt oder nicht, ist nicht meine Sorge.

    Der Krieg in Syrien sollte möglichst rasch ein Ende finden, und ich sehe dafür nur eine Möglichkeit: Damaskus (=Assad) erreicht wieder die Herrschaft über ganz Syrien, einschließlich der von der Türkei besetzten Gebiete.

    Könnten EU, NATO und die Türkei nicht ihr Gewicht in der Sache nutzen, mit Putin und Assad eine große Schutzzone für Flüchtlinge auszuhandeln - im Rahmen der syrischen Souveränität, der Zuständigkeit auch der Regierung Syriens, aber überwacht von Russland, Iran und der EU?

    Was Gottschlich vorschlägt (und mit ihm auch die EU), verlängert den Krieg und öffnet der aggressiven Türkei Möglichkeiten des Landraubs und der ethnischen Säuberung der kurdischen Gebiete in Nordsyrien. Diesen Aspekt sollte der Kommentator zumindest einbeziehen in seine Analyse.

    Im übrigen hab ich was dagegen, dass wir eine Schutzzone für Dschihadisten fördern.

  • Früher wurden Tanzbären noch vom Dompteur am Nasenring durch die Manege geführt.



    Heute schaut Dompteur Erdogan grinsend zu, wie die Tanzbären Macron und Merkel das für ihn selbst erledigen.



    Was für eine Schande.

    • @Trabantus:

      Die EU-Truppe verhandelt hart und aus der besseren Position heraus. Nicht Erdogan ist der Dompteur. Die EU versucht ihn zu zähmen. Und wild geworden ist er, weil er grässlich leidet. (Was er sich zum Teil auch selber zuzuschreiben hat.)

      Mich wundert, wie viele Bürger eine so falsche Sicht der Verhältnisse bekommen können. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie nicht gelernt haben: Politik ist zum großen Teil Diplomatie.

      Merkel macht das gut. Immer kompetent, ruhig, zivil, flexibel ...

      Wollen wir auch eine politische Führung, die hauptsächlich durch Getöse auffällt?