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Verfolgung in der SowjetunionDer große Volksfeind

Als Stalin vor 60 Jahren starb, endete auch ein bis heute beispielloser Terror. Wieso stoppte die sowjetische Gewaltmaschine?

Schließlich hat auch Er-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf Großartiges getan – Schreckliches ja, aber Großartiges Bild: dpa

Am Morgen des 5. März 1953 sieht Swetlana Allilujewa zu, wie ihr Vater, Stalin, stirbt.

„In den letzten zwei Stunden erstickte er einfach. Die Agonie war entsetzlich, sie erwürgte ihn vor aller Augen. Er öffnete plötzlich die Augen und ließ seinen Blick über alle Umstehenden schweifen. Es war ein furchtbarer Blick, halb wahnsinnig, halb zornig, voll Entsetzen vor dem Tode und den unbekannten Gesichtern der Ärzte, die sich über ihn beugten. Da hob er plötzlich die linke Hand und wies mit ihr nach oben, drohte uns allen. Die Geste war unverständlich, aber drohend. Im nächsten Augenblick riss sich die Seele nach einer letzten Anstrengung vom Körper los.“

Es ist eine Szene wie aus dem spätexpressionistischen Eisenstein-Film „Iwan der Schreckliche“ – in schwarz-weiß, mit Schlagschatten und einer Großaufnahme der Hand am Ende.

Die Nachricht von diesem Tod weckte 10.000 Kilometer weiter östlich am Polarkreis bange, wilde Hoffnung. Die Schriftstellerin Jewgenija Ginsburg, die in dem Lager Kolyma als Zwangsarbeiterin schuftete, beschrieb, wie die Nachricht von Stalins Tod im Gulag wirkte. „Es gab weder Tatsachen noch nüchterne Analysen der Ereignisse, auf die wir uns stützen konnten. Und dennoch plötzlich spannten sich alle Muskeln des Körpers und alle Kräfte der Seele. Ich spürte eine unglaubliche Energie in mir, als sei ich zwanzig“.

Die neuen Machthaber in Moskau, Chruschtschow, Malenkow, Molotow und Berija, waren funktionierende Teile des stalinistischen Terrorsystems gewesen. Sie hatten Todeslisten und Deporationsbefehle unterschrieben. NKWD-Chef Berija war einer der effektivsten Massenmörder des Systems.

Angst vor dem bösen König

Und doch geschah nach dem 5. März Erstaunliches. Das Gewaltsystem, in dem seit 1930 Millionen massakriert, erschlagen, durch Hunger vernichtet und erschossen worden waren, kam fast zum Stillstand. Kinder, Kleinkriminelle, Behinderte, Leute, die willkürlich auf der Straße verhaftet wurden, Generäle, Bolschewisten, Bauern und auch Henker und deren Auftraggeber selbst waren diesem System zum Opfer gefallen. Noch nie hatte ein Regime die eigene Gesellschaft mit einem solchen entfesselten, unkalkulierbaren Terror überzogen. Dieses System ging am 5. März 1953 unter.

Stalin hatte vor seinem Tod mit der „Ärzteverschwörung“, die sich gegen Juden richtete, die Gewaltmaschine wieder in Schwung gebracht. Es hatte Erschießungen gegeben, Schauprozesse gegen jüdische Sowjetbürger wurden vorbereitet. Chruschtschow & Co stellten die Maschine innerhalb von Tagen fast lautlos ab. Die Anklagen verschwanden, ermordete Opfer wurden rehabilitiert. Im inneren Machtzirkel verabschiedete man sich vom Mord als dem normalen Modus des politischen Geschäftes.

Nur Berija, dem Chruschtschow zutraute, Stalin als böser König zu beerben, wurde im Juni verhaftet und samt Helfern erschossen: Es war eine Art antistalinistischer Akt mit stalinistischen Mitteln.

Im März 1953 begann die stille Rückkehr in halbwegs zivile Verhältnisse. 1,2 Millionen Gefangene, darunter Jewgenija Ginsburg, wurden im Frühjahr 1953 aus dem Gulag entlassen. Der Historiker Jörg Baberowski hält es für Chruschtschows kaum überschätzbares Verdienst, den Albtraum beendet zu haben. „Chruschtschows Entstalinisierung war eine Kulturrevolution, die das Leben von Millionen veränderte. Die Tore der Lager wurden geöffnet, obwohl es keinen Plan gab, was mit Hunderttausenden Kriminellen, Traumatisierten, Entwurzelten geschehen sollte.“

Geheimdienst schlug Revolte nieder

Allerdings blieben Millionen, und alle, die willkürlich als Politische verurteilt worden waren, noch in den Lagern eingesperrt. Im Sommer 1953 revoltierten Tausende in sibirischen Gulag-Lagern in Norilsk, Workuta und später im kasachischen Karaganda. Rote Armee und KGB schlugen die Befreiungsaktionen blutig nieder, was in Vergessenheit geraten ist, wenn es je bekannt war. Die zögerliche Auflösung des Gulag nach 1953 war auch der Erkenntnis geschuldet, dass das Lagersystem korrupt, ineffektiv und mit 2,7 Millionen Gefangenen überfüllt war.

Es blieb eine halbe Entstalinisierung. Die allermeisten Täter kamen ungeschoren davon, manche Opfer wurden rehabilitiert, viele nicht. Die Geschäftsgrundlage des Poststalinismus lautete: Schweigen von unten gegen eingehegte Gewalt von oben. Das hallt in Russland bis heute nach – in dem zwiespältigen Bild Stalins als Tyrann und Sieger über Hitler.

Es geht noch eine Irritation von dem 5. März aus und dem, was danach geschah. War der Terror, wie Baberowski in „Verbrannte Erde“ nahelegt, allein von Stalin nach Gutdünken dirigiert und letztlich Ausfluss seines pathologischen Misstrauens? Wirkt die Vorstellung, dass die psychischen Störungen eines Diktators mehr als 200 Millionen Menschen tyrannisieren konnten, nicht wie die schrille Übertreibung der eigentlich überwundenen Vorstellung, dass große Männer Geschichte machen?

Der Motor des Terrors war Paranoia – aber die war mehr als Ausdruck von Stalins Irrsinn. Der Feind, der immer wieder neu erfunden wurde, war vor allem eine Erklärung. Der Feind war der Saboteur, der verantwortlich war für die unübersehbare Kluft zwischen der Fantasiewelt der Propaganda und dem armseligen Chaos des sowjetischen Alltags.

Der sowjetische Teufel

Im Stalinismus verwandelte sich das ökonomische System selbst in eine Fantasie, in der Stahl, der nie produziert worden war, in Brücken verbaut wurde, die es nicht gab. Schuld an der Misere hatte der fiktive Feind, der Linksabweichler oder Rechtsabweichler oder beides zusammen war, der Pole, Bauer, Jude oder Apparatschik sein konnte. Dieser Feind war, was Teufel oder Hexen in vormodernen Gesellschaften gewesen sein mögen: Chiffre des Bösen, die Erklärung, warum es ist, wie es ist.

Der Massenterror gegen „den Feind“, der jeder sein konnte, war beides: Ausdruck von Stalins Paranoia und rationale Machtbegründung. Der „Volksfeind“ war die universale Erklärung für den Defekt des Staatssozialismus. Erst in den 80er Jahren unter Gorbatschow, im Augenblick des Verschwindens, war die Gesellschaft zu einer realitätstauglichen Selbstbetrachtung in der Lage.

Der Gulag ist nicht Teil des universellen Gedächtnisses geworden, so wie das NS-System. Es gibt keinen mit Spielbergs „Schindlers Liste“ vergleichbaren Film über den niedergeschlagenen Aufstand in Workuta im Sommer 1953. Es gibt keinen mit Claude Lanzmanns „Shoa“ vergleichbaren Versuch, das Sichtbare und das Unsichtbare des Verbrechens zu zeigen. Es gibt kein dem Tagebuch der Anne Frank vergleichbares Zeugnis, das zum Erinnerungsrepertoire des 20. Jahrhundert gehört.

Die Verbrechen des Stalinismus sind weitgehend gesichts- und namenlos geblieben, ohne Reliefabdruck im kollektiven Gedächtnis, ohne Identifikationsfiguren, ohne ästhetische Debatten, wie das Unaussprechliche zu formulieren ist.

Man mag diese narrative Leere als letzten Erfolg des stalinistischen Versuchs sehen, die Opfer auszuradieren.

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48 Kommentare

 / 
  • B
    Benz

    @HerrVassil

    Die Zahl der 700'000 ist belegt. Sie ist das Ergebnis historischer Recherchen und umfassend. Ich wiederhole, dass sogar die dezidiert antistalinistische US-NGO ''Memorial'' diese Zahl verbreitet.

     

    Worauf stützt sich die von Ihnen angeführten Ziffern von ''mehreren Millionen'' und ''20 Millionen''? Sie haben doch nicht etwa schlicht alle in RU Verstorbenen zwischen 1924 und 1953 addiert? In DE z.B. sterben jedes Jahr etwa 1.5 Mio. Bürger. Merkel ist nun seit 8 Jahren an der Macht- da könnte einer ja kommen und von 8 * 1.5 = 12 Mio. Opfern des Merkelismus sprechen...

  • H
    HerrVassil

    @Mathis Oberhof:

     

    >>Dieser Blog dient dem ehrenden Gedenken an die deutschen in der UDSSR verfolgten, inhaftierten, ermordeten und umgekommenen Antifaschistinnen und Antifaschisten. Ging man noch vor kurzem davon aus, dass es sich um mehrere Hundert Todesopfer aus dem deutschsprachigen Raum handelt, so weiß die neuere Forschung von bis zu 3000 Namen. Und noch lange nicht sind alle Archive wieder geöffnet.

  • H
    HerrVassil

    @Benz

     

    Ihre Verharmlosungen sind schockierend.

     

    Verharmlosungen, die bestenfalls von extremen historischen Kenntnismangel und im schlechtesten Fall von Verblendung herrühren, und in beiden Fällen nicht zu akzeptieren sind.

     

    Die von ihnen genannten "700 000 Repressionsopfer" beziehen sich auf die Anzahl der in offiziellen Protokollen der Sovietbehörden vermerkten Exekutionsopfer in der Stalin Zeit, die wiederum nur einen kleinen Teil der stalinistischen Gesamtopfer ausmachen. Nicht inbegriffen in dieser Zahl der Menschen, die in den Gulag-Lagern -mehrere Millionen- oder während gewaltsamer Umsiedlungen -mehrere Millionen- umkamen. Und selbst diese Zahl der amtlich vermerkten Todesopfer haben sie nach unten korrigiert. Sie beträgt genau 799 455.

     

    Laut der am meisten häufigsten zitierten Kalkulationen des Historikers Robert Conquest, der Stalin-Opfer beträgt die Zahl der Opfer der Stalinismus rund 20 Millionen. Und selbst dieser Wert wird von anderen Historikern als zu niedrig gewertet.

     

    Hätten sie die Verbrechen des NS-Regimes im selben Umfang ebenso erniedrigt oder relativiert, würde man ihnen – zurecht– Holocaust-Leugnung und/oder Nationalsozialismus vorwerfen

  • H
    HerrVassil

    @Mathis Oberhof:

     

    >>Dieser Blog dient dem ehrenden Gedenken an die deutschen in der UDSSR verfolgten, inhaftierten, ermordeten und umgekommenen Antifaschistinnen und Antifaschisten. Ging man noch vor kurzem davon aus, dass es sich um mehrere Hundert Todesopfer aus dem deutschsprachigen Raum handelt, so weiß die neuere Forschung von bis zu 3000 Namen. Und noch lange nicht sind alle Archive wieder geöffnet.

  • B
    Benz

    @Tommy

    Da gehe ich mit Ihnen einig, Cromwell war natürlich nicht der einzige englische Gewaltherrscher, und er hat seine Gewaltherrschaft nicht nur in England, sondern auch in den Nachbarstaaten (Irland) ausgeübt.

     

    Die Verbrechen des Kolonialismus und andere Leichen im Keller europäischer Staaten entschuldigen Stalins Verfehlungen nicht, das stimmt. Aber sie zeigen, dass diese Verfehlungen Stalins nichts aussergewöhnliches waren, sie vor dem Hintergrund der Politik anderer Staaten gar geradezu bescheiden ausfallen.

     

    Zum Verhältnis der Völker- die UdSSR hat sich offiziell als Vielvölkerstaat gesehen und war stolz auf ihre ethnische Vielfalt. Diese wurde von Stalin explizit gefördert. Das war damals, als in der übrigen Welt der Rassenwahn herrschte, einmalig, die Sowjetunion war in diesem Punkt der Welt um Jahrzehnte voraus. Ein Pakistaner z.B. hätte es in England nie zum Premierminister gebracht. Dass der sowjetische Staatschef Georgier war, war dagegen für niemanden in der UdSSR ein Problem. Dass ethnische Minderheiten während des 2. Weltkriegs der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt wurden, war weit verbreitet. In den USA z.B. wurden gleich zu Beginn des Kriegs gegen Japan hunderttausende US-Bürger japanischer Abstammung kurzerhand in Konzentrationslagern interniert.

  • S
    Sascha

    Für einen Artikel in der taz nicht schlecht - da hätte ich schlimmeres erwartet als eine Reduktion des kommunistischen Terrors auf 1930-53.

  • RS
    Rudolf Stein

    Dieser Artikel ist überflüssig. Denn Solschenizyn hat mit seinem Archipel GULAG bereits alle Fragen beantwortet. Wer dieses umfangreiche Werk mit seinen vielen Anmerkungen und Fußnoten sorgfältig gelesen hat, findet auch die Antwort auf die Frage: wie konnte das geschehen und warum gibt es keine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung des kommunistischen Terrors? Denn es war nicht allein Stalins Terror und er begann auch nicht erst 1930. Er begann mit der Erstürmung des Winterpalais 1917 und Lenin, den heute die Linken so gern aus der Schusslinie nehmen, hat ihn theoretisch begründet, in Gang gesetzt und alle, die nach ihm kamen, auch Stalin, haben sich auf ihn berufen. Dieser Terror hätte nie so allumfassend werden können, wenn nicht jeder jeden verdächtigt hätte und nicht jeder seinen Kopf retten wollte auf Kosten anderer Köpfe, mit dem Ergebnis, dass selbst die brutalsten Halsabschneider noch selbst daran glauben mussten. Ein Verbrechen, das wie ein Krebsgeschwür ein ganzes Volk metastasierte, kann nicht „aufgearbeitet“ werden. Hier hilft nur, zu warten, bis die Täter und Opfer in Personalunion verstorben sind und eine neue unbelastete Generation herangewachsen ist. Erfahrungsgemäß hat die aber ihre eigenen Probleme und wenig Interesse an diesen „ollen Kamellen“. Es sei denn, die Aufarbeitung wird generationenübergreifend von oben verordnet.

  • T
    tommy

    @hans

     

    Wie wärs mit folgender Definition: Deutsche = Bürger des dt. Reichs in den Grenzen von 1937? Da fallen zwar die verschiedenen volksdeutschen Minderheiten in Osteuropa raus, aber mein Kommentar dürfte hinreichend klar geworden sein.

    Im Übrigen verstehe ich nicht, warum Sie sich aufregen, mein Kommentar war lediglich eine Tatsachenfeststellung ohne Wertung. Er spricht eher gegen eine Verharmlosung der NS-Versprechen, besagt er doch, dass die Deutschen nicht demselben Terror ausgesetzt waren wie die Menschen in vielen von den Deutschen besetzten Ländern.

  • H
    hans

    Albern ist, nicht auf die Fragen zu antworten. Der Versuch es durch vermeintliche Albernheit meinen Kommentar herunterzuspielen, das finde ich etwas anmaßend.

     

    Also wie sieht es aus? Wer sind im Falle des 3. Reiches Deutsche? und wer ist es nicht? Wie bestimmt man die Volkszugehörigkeit bei einem Besetzungskrieg?

     

    Auch wenn du dich von der Verharmlosung freisprichst, bleiben die Fragen akkut.

  • T
    tommy

    @Hans

     

    Tut mir leid, aber Ihr Versuch einer Sprachkritik an meinem Kommentar ist einfach nur albern. Ich wollte lediglich aussagen, dass die große Mehrheit der Opfer der Nationalsozialisten nicht aus Deutschland stammte (während hingegen ein Großteil der Opfer des Stalinismus Bürger der Sowjetunion waren). Nicht mehr und nicht weniger.

  • T
    tommy

    @Benz

     

    Nochmal: "Glorious Revolution" bezieht sich auf Vorgänge dreißig Jahre nach Cromwells Tod. Und Cromwell war in seinen letzten Jahren eher eine Art Militärdiktator - der Weg zum späteren Parlamentarismus ist hier ein sehr gebrochener (Cromwell hat sich schließlich in seinen letzten Jahren so verhasst gemacht, dass man nach seinem Tod wieder die Stuarts als Könige holte und sein republikanisches System abwickelte). Zum Thema Kriegsverbrechen, "ethnische Säuberungen": Das bezieht sich m.W. vorwiegend auf Cromwells Wirken in Irland (für das er noch heute in Irland gehasst wird). Jedenfalls wird er, entgegen ihrer Darstellung, in Großbritannien keineswegs uneingeschränkt positiv beurteilt.

    Und die Vebrechen des Kolonialismus bezweifle ich nicht - nur machen sie die Verbrechen der Sowjetunion (die auch ein Imperium war) nicht weniger abscheulich. Und für manche Minderheiten - etwa Polen, die im großen Terror zu Tausenden liquidiert wurden; oder Tschetschenen, die als Gruppe, ohne jede Rücksicht auf individuelles Verhalten, deportiert wurden - kann von "Gleichberechtigung" wohl kaum eine Rede sein.

  • H
    Hans

    "Nicht-Deutsche, also Bürger anderer Staaten als Opfer"

     

    Die Frage ist inwieweit eine solche Aussage eine Wertung beinhaltet. Denn der Nicht-Deutsche ist nehme ich an nicht deutsch? Was ist dann aber deutsch? Und was sind in einem Besetzungskrieg "andere Staaten"?

     

    Mir sieht das ganz verdächtig nach verharmlosung aus! Allein schon der nationalistische Tenor der angeschlagen wird, um über Probleme zu reden, die auch zu einem nicht geringen Teil aus dem Nationalismus entsprungen sind.

  • L
    Leumd

    "Noch nie hatte ein Regime die eigene Gesellschaft mit einem solchen entfesselten, unkalkulierbaren Terror überzogen."

     

    Aha, diese Information wurde bestimmt aus einem Programm zu einem neuen volksdeutschen Geschichtsunterricht entnommen. Danke für diese Form von Ignoranz - die deutsche Erinnerungskultur in ihrer Reinform.

  • B
    Benz

    @Tommy

    "Glorious Revolution- in der Tat wichtige Voraussetzungen für Pressefreiheit, Parlamentarismus etc''

    Sehen Sie, auch Sie kommen nicht darum herum auszusprechen, dass die Errungenschaften der Moderne auch auf den Greueln des engl. Bürgerkriegs beruhen. Für die Belege lesen Sie mal Mark Levene oder Alan Axelrod, die sprechen bezgl. Cromwells Kriegsverbrechen sogar von etnischen Säuberungen.

     

    Die im Zuge der frz. Revolution entvölkerte Vendée und Napoleons jahrzehntelange Kriege in ganz Europa werden Sie ja wohl kaum bezweifeln.

     

    Dass die Umstellung des Wirtschaftssystems in der UdSSR auch negative Seiten hatte, ist unbestritten. Jede wirtschaftliche Umwälzung kennt nebst Gewinnern auch Verlierer. Wenn man deswegen Stalin geisseln will, müsste man auch sämtliche europäischen Regenten des 19. Jhds an den selben Pranger stellen. Die Arbeitskräfte der Industrialisierung krepierten hierzulande wie die Fliegen.

     

    Dass sie auf die Verbrechen des Kolonialismus nicht eingehen wollen, ist ebenso schade wie aufschlussreich. Uebrigens- die UdSSR hatte keine Kolonien, Stalin war nicht mal Russe. Dass ein Vertreter einer ethn. Minderheit Staatschef wird, wäre in den europäischen Kolonialimperien undenkbar gewesen, dort galten Minderheiten und erst recht überseeische Völker als minderwertig.

  • T
    tommy

    @benz

     

    "Glorious Revolution" bezieht sich nicht auf Cromwell, sondern auf die Vorgänge von 1689 (Vertreibung der Stuarts, William of Orange als neuer König), die in der Tat wichtige Voraussetzungen für Pressefreiheit, Parlamentarismus etc. schufen. Cromwell wird in Großbritannien heute im Allgemeinen nicht als Nationalheld gefeiert, sofern man sich überhaupt an ihn erinnert, wird er kontrovers beurteilt. Ihre Behauptung, der englische Bürgerkrieg habe 20% der Bevölkerung getötet, haben Sie natürlich nicht belegt, mir erscheint Sie immer noch unglaubwürdig.

    Ihre sonstigen Ausführungen (die Hungersnöte 1932/33 als Folge von Dürren - dabei besteht in der Forschung weitgehend Konsens, dass die Hungersnöte zum weit überwiegenden Teil Folge der Kollektivierung waren) und Entlastungsversuche (Faschismus und Kolonialismus waren schlimm, keine Frage, aber das macht die Sowjetverbrechen nicht besser) sind so indiskutabel, dass ich mich dazu nicht näher äußere, dafür ist mir meine Zeit zu schade.

  • B
    Benz

    @DJ

    Cromwell s ‘‘Glorious Revolution‘‘ wird bis heute als Beginn der modernen englischen bürgerlichen Gesellschaft gefeiert. Genauso die frz. Revolution, und Napoleon ist bis heute das gefeierte militärische Genie und Symbol der frz. Nation. Ebenso werden Stalins Erfolge- Industrialisierung, Schaffung einer modernen städtischen Gesellschaft, Aufstieg zur Grossmacht und v.a. der Sieg über Nazideutschland zurecht gefeiert.

    Im Gegensatz dazu wird Hitler logischerweise nicht gefeiert, da er auf der ganzen Linie versagte, seine ‘‘Projekte‘‘ von Anfang an Unsinn waren.

     

    @Tommy

    An Naturkatastrophen wie der Dürre in Südrussland ist Stalin ja wohl kaum schuld. Bleiben wir doch bei den historischen Fakten.

    Cromwell überzog England mit einem jahrelangen Bürgerkrieg. Glauben Sie, dort wäre nur mit Ohrfeigen gekämpft worden? Systematische Ermordungen der Gegner und der Bewohner feindlicher Städte war damals in England (und nicht nur in England) üblich.

     

    Stuttgarter ist zuzustimmen, dass der Stalinismus eine Zeit gewaltiger gesellschaftlicher Entwicklung war. Industrialisierung, Urbanisierung, Bildung, medizinische Versorgung, Wissenschaft, Lebenserwartung- es gab kaum einen Bereich, in welchem nicht massive Fortschritte erzielt worden wären. Nicht zu vergessen natürlich, dass Stalins Sowjetunion die Menschheit von Hitler, Nazideutschland und den Nazis befreite.

    Man vergleiche dazu die Situation in anderen Ländern. In den westeuropäischen Staaten z.B. blühten zur selben Zeit Faschismus und Antisemitismus, in den europäischen Kolonien weltweit wurden hunderte Millionen als Arbeitssklaven gehalten und brutale Kolonialkriege geführt.

  • T
    tommy

    @Stuttgarter

     

    "Deshalb bin ich Stalin und der Sowjetunion heute noch dankbar das man Deutschland von diesem Irrsinn befreite."

     

    Komisch, wie passt die Zeit von August 1939 bis Juni 1941 in dieses Bild, in der 3.Reich und Sowjetunion kooperierten?

    Und es war nicht Ziel meines Beitrags, den NS als "fortschrittlich" in einem positiven Sinne zu bewerten, aber bei Ihnen ist das Nicht-Verstehen-Wollen wohl Absicht, deshalb spare ich mir weitere Ausführungen.

  • H
    Harald

    Ähnlich werden

     

    Es war ein englischer Historiker (Name leider vergessen) der sagte, die Ursache, weshalb die Nazibarbarei im kollektiven Weltgedächtnis geblieben ist, war die Internationalisierung des Massenmords.

     

    Während Stalin mit ca. 12 Millionen Toten und Mao mit ca. 22 Millionen Toten, die Historiker auf ihre direkten Befehle zurückführen, im eigenen Land mordeten.

     

    Gemeinsames Merkmal aller politischen Massenmörder ist, daß diese ihren ersten Mord weit vor ihrem 20. Lebensjahr begingen. Was übrigens für jede Form pathologischer Kriminalität zutrifft.

     

    Das Phänomen des politischen Massenmörders wird von Heinrich Mann in "Henri IV" auf den Punkt gebracht: "Du mußt mehr als zehn getötet haben, um später von den Massen verehrt zu werden."

     

    Persönlich scheinen mir als Erklärungsmuster die Ausführungen des Philosophen Christoph Türcke am begreiflichsten, der den Defekt der Kultur im Nervensystem des (frühen) Menschen sieht, daß den damaligen, ungeheuren äußeren Einwirkungen der Natur nicht gewachsen war.

     

    Türcke beschreibt den Menschen in Folge seines unzulänglichen Nervensystems als übernervöses, ängstliches und mordendes Hordenwesen. Dieses Hordenwesen sah für sich die einzige Möglichkeit, den übergroßen Angstdruck zu bewältigen darin, der Ursache der Angst "ähnlich" zu werden.

     

    Darin nahm der "ungeheuere Skandal" der Frühgeschichte seinen Anfang: nämlich im Menschenopfer. Durch das Menschenopfer versuchte die Horde, der imaginierten Macht ähnlich zu werden um sie dadurch zu beherrschen und das Nervensystem zu beruhigen.

     

    Die enorme Kulturleistung, diese barbarische Praxis zu überwinden, führte zum ersten Tattoo der Weltgeschichte: dem Kainsmal.

     

    Natürlich verlaufen diese anthropologischen Entwicklungen nicht irreversibel und linear. Die Heilsvorstellung, durch den Mord von Menschen das Böse zu besiegen und zu beherrschen, liegt so tief im Menschen verwurzelt, daß sie immer wieder in Einzelnen derart hervorbricht, sodaß dieser, gerade wegen des Blutgerichts, von den Massen bejubelt und geliebt wird.

  • S
    Stuttgarter

    "Die Massenverbrechen, die heute das Bild vom Nationalsozialismus prägen, begannen erst mit dem Kriegsbeginn 1939, dann in voller Gewalt ab 1941 und hatten vorwiegend Nicht-Deutsche, also Bürger anderer Staaten als Opfer."

     

    Na das ist ja beruhigend. Wer dem Faschismus der nicht nur die Errungenschaften der Arbeiterklasse liqudierte sondern auch noch die bürgerlichen Aufklärung im Sinne des Profits bekämpfte irgendetwas fortschrittliches erkennen kann, und sei es die Teilhabe des kleinen Mannes am Raubmord, Arisierung, dem ist nicht mehr zu helfen. Deshalb bin ich Stalin und der Sowjetunion heute noch dankbar das man Deutschland von diesem Irrsinn befreite.

  • G
    Gonzi

    Ich nehme mal ganz nüchtern an, niemand im Politbüro wollte nach Stalins Tod einen neuen "Stalin".

     

    So allein aus Eigennutz.

  • T
    tommy

    @reblek

     

    "Noch nie hatte ein Regime die eigene Gesellschaft mit einem solchen entfesselten, unkalkulierbaren Terror überzogen." - Da bin ich ja doch selbst bei Herrn Reinecke ein bisschen überrascht. Die Nazis hatten nicht mindestens dasselbe getan?"

     

    Betonung liegt wohl auf "eigene Gesellschaft". Die Verbrechen der Nazis in Deutschland selbst, vor dem Beginn des zweiten Weltkriegs waren ja verglichen mit dem stalinistischen Terror eher trivial und trafen vorwiegend bestimmte, begrenzte Gruppen (Juden, Linke, "Asoziale" etc.) - heute bezeichnet man den NS ja auch gerne als "Konsensdiktatur" (was m.E. überzogen, aber leider nicht gänzlich ohne Grundlage ist). Die Massenverbrechen, die heute das Bild vom Nationalsozialismus prägen, begannen erst mit dem Kriegsbeginn 1939, dann in voller Gewalt ab 1941 und hatten vorwiegend Nicht-Deutsche, also Bürger anderer Staaten als Opfer.

  • T
    tommy

    @Benz

     

    Die 700 000 von Ihnen genannten "Repressionsopfer" (Ermordete trifft es eher) beziehen sich m.W. allein auf den großen Terror von 1937/1938; andere Opfer von Stalins Herrschaft (etwa die Millionen Verhungerten 1932/1933) sind darin nicht enthalten. Eine Gleichsetzung der Verbrechen von Stalinismus und Nationalsozialismus ist zwar nicht angebracht, aber Ihre Verharmlosung der kommunistischen Verbrechen im sowjetischen Machtbereich ist unsäglich.

    Und Cromwell (das mit den 20% Toten während der englischen Revolution erscheint mir übrigens unglaubwürdig - Beleg dafür?) und Napoleon sind m.E. auch kritisch zu bewerten, von daher ist Ihr Entlastungsversuch nach dem Motto "Kein Omelett ohne zerbrochene Eier" auch in dieser Hinsicht abwegig.

  • D
    D.J.

    @Benz,

     

    "Und der engl. Revolutionsführer Cromwell und noch mehr der frz. Revolutionsführer Napoleon haben ihren Ehrenplatz in der Nationalgeschichte dieser Länder. Warum also sollte das bei Stalin und Russland anders sein?"

     

    Bei Cromwell bezweifle ich dies, bei Napoleon ist das bedauerlich. Und wenn Sie Stalin einen Ehrenplatz zugestehen wollen - Opfer sind ja nicht so wichtig, es geht um Modernisierung -. warum nicht dann auch Hitler?

    Aber Ihr Kommentar schockiert mich weit weniger als der von "Stuttgarter". Da mein Kommentar zu ihm nicht veröffentlicht wurde (O.K., konnte man als Beleidigung verstehen, ist aber weniger schlimm als die Verherrlichung eines Menschenschlächters), belasse ich es dabei.

    Auch hier gilt: DER SCHOSS IST FRUCHTBAR NOCH.

  • T
    tommy

    @Stuttgarter

     

    "Eine wahrlich aberwitzige Debatte. Für über 90 Prozent der Sowjetbürger war die Zeit Stalins ein Aufstieg in sozialer, kultureller und politischer Hinsicht. Die Umerziehung und der rote Terror war durch die Massen gewollt. Warum sollten sie den Gulag mit konterrevolutionären Einrichtungen wie den deutschen Kzs gleichsetzen?"

     

    Was ist denn das für eine bizarre Sicht der Dinge? Also für die kollektivierten Bauern oder die Angehörigen besonders vom Terror betroffener nationaler Minderheiten (und diese Gruppen waren insgesamt sicher mehr als 10% der Bevölkerung) bot das Sowjetsystem wohl eher nicht die Chance zu sozialem Aufstieg! Und den Nationalsozialismus einfach als "konterrevolutionär" zu bezeichnen ist zu kurz gedacht - im Rahmen der "Volksgemeinschaft" propagierten die Nazis ja durchaus eine meritokratische Ordnung, mit Aufstiegsmöglichkeiten auch für den kleinen "Volksgenossen" (der ja z.B. von "Arisierungen" profitieren konnte).

  • R
    reblek

    "Noch nie hatte ein Regime die eigene Gesellschaft mit einem solchen entfesselten, unkalkulierbaren Terror überzogen." - Da bin ich ja doch selbst bei Herrn Reinecke ein bisschen überrascht. Die Nazis hatten nicht mindestens dasselbe getan?

  • IN
    Ihr NameUwe Wiesner

    Der staatlich organisierte Mord begann nicht mit Stalin und nahm mit ihm auch kein Ende. Er ist unverzichtbar zur Umsetzung der marxistischen Theorie. Wer zur Diktatur des Proletariats aufbricht, kommt im Gulag an. Immer.

  • UM
    Ulli Müller

    Für mich ist die Erkenntnis von Hans Magnus Enzensberger, Vorwort in: in Boris Savinkow, tiefer und richtiger,

    Enzensberger zieht den Schluss, dass seit dem vorlezten Jahrhundert der (zaristische) Geheimdienst die Geschicke in der UdSSR/Rußland lenkt!

  • D
    Detlev

    Stalin hat sogar einen Beitrag zu sozialistischen Ideenwelt beigesteuert: Sozialismus in einem Staat. Dazu noch ein mechanisches Fortschrittsmodell, in dem die KPdSU als Avantgarde der Arbeiterklasse (Bauern addierte Stalin kurzerhand auch hinzu) praktisch die fehlenden Entwicklungsschritte zu industrialisierten, kapitalistischen Ländern schaffen und vollenden kann, um dann endlich zu einem Sozialismus und Kommunismus zu gelangen.

     

    Dass Stalins Idee in diesem Artikel nicht mal mehr vorkommt, ist durchaus vertretbar, zu einfach ist die Entstellung von Marx und Engels zu erkennen. Aber diese Idee von Stalin war die Blaupause für den Gulag, für die Auflösung von humanitären Standards in einer ohnehin geschundenen Gesellschaft.

     

    Nur durch diese Idee konnte Stalin sich legitimieren, wobei Hitler ihm mit dem Angriffskrieg sicherlich einen gewaltigen Schub an Macht verpasst hat. Der vaterländische große Krieg war dann die nächste Idee, die dem Stalinismus ein langes Leben bescherrte. Noch heute werden in Georgien freimütig Bilder von Josef Stalin aufgehängt und selbst in Moskau hat er noch Fans. Vielleicht wäre die Frage interessanter gewesen, ob 2013 wirklich das Ende des Zeitalters der Extreme, des Exzess und der Massenvernichtung von Menschen gekommen ist, oder ob der Kapitalismus neue Akteuere in Form von Ausbeuterkapitalisten (z.B. in China) schafft, die nicht nur die Menschen schinden und erledigen, sondern die Umwelt noch gleich mit dazu.

     

    Eins steht fest: Stalin war nicht begabt, nicht taktisch besonders intelligent und kein großer Redner oder Denker, er war anfangs nicht mal populär, aber er hat mit einer einzigen, nicht brillianten Idee und organisatorischem Geschick geschafft, Tausende brillianter Menschen nicht nur hinter sich zu lassen, sondern sie auch noch zu ermorden. Internationale Großkonzerne schaffen heute Vergleichbares, ohne dass es überhaupt auffällt.

     

    Alleine die Bodenverunreinigungen in Afrika durch chinesische Agrarinvestitionen sind auf einem ähnlichen Niveau, nur es will niemand wissen oder erforschen.

  • F
    flipper

    Schon schockierend,

    wie sich hier tatsächlich noch Leute in den Kommentaren entblöden, einen der beiden größten Massenmörder der Menscheitsgeschichte zu verteidigen.

     

    @ von Stuttgarter:

    "Für über 90 Prozent der Sowjetbürger war die Zeit Stalins ein Aufstieg in sozialer, kultureller und politischer Hinsicht."...

     

    Na klar, und beim Hitler war ja auch nicht alles schlecht, zum Beispiel hat er doch die Autobahn erfunden.

    Leuten wie Euch ist mit Argumenten nicht zu helfen, das dürfte daran liegen, dass - ähnlich wie beim Genossen Stalin - der ideologische Wahn religiöse Züge angenommen hat.

     

    Dank aber an Stefan Reinecke!

  • J
    Jupp

    Warum?

     

    Nach dem Zweiten Weltkrieg umfasste der Herrschaftsbereich der Sowjetunion nicht nur das eigene Staatsgebiet. Andererseits war erkennbar, dass nur noch die USA eine ernsthafte Bedrohung für den eigenen Machtbereich darstellen konnte.

     

    Also eine Menge, die man berücksichtigen kann – wäre aber interessant gewesen zu erleben, wenn der Westen sich nicht durch militärische Einmischungen nach Entstehen der Sowjetunion bemerkbar gemacht hätte.

  • B
    Benz

    Stalin zu dämonisieren bringt nichts. Sogar Memorial, eine US-finanzierte russ. NGO, die sich mit dem Stalinismus befasst und entschieden anti-stalinistisch ist, spricht von 700'000 Repressionsopfern. 700'000 sind natürlich immer noch sehr viel und 700'000 zuviel. Aber es gab noch nie eine grundlegende gesellschaftliche Umwälzung, die gewaltlos vonstatten ging. Die engl. Revolution kostete 20% der engl. Bevölkerung das Leben. In DE kam im Zuge des Uebergangs von der Monarchie zu einer bürgerlichen Gesellschaft Hitler an die Macht. Der Zusammenbruch der europäischen Kolonialimperien forderte bis weit ins 20 Jhd. hinein Millionen Tote- Portugal z.B. führte bis in die 80erjahre Kolonialkriege. Im Zuge der frz. Revolution wurden ganze Landstriche wie z.B. die Vendée entvölkert und Napoleon überzog Europa 20 Jahre lang mit Krieg.

     

    Und der engl. Revolutionsführer Cromwell und noch mehr der frz. Revolutionsführer Napoleon haben ihren Ehrenplatz in der Nationalgeschichte dieser Länder. Warum also sollte das bei Stalin und Russland anders sein?

  • MO
    Mathis Oberhof

    Im Blog http://memoreal37.wordpress.com werden genauso wie auf der Facebook-Seite http://www.facebook.com/memoreal37 Einzelschicksale von stalinistisch verfolgten und ermordeten Linken dargestellt.

     

    Dieser Blog dient dem ehrenden Gedenken an die deutschen in der UDSSR verfolgten, inhaftierten, ermordeten und umgekommenen Antifaschistinnen und Antifaschisten. Ging man noch vor kurzem davon aus, dass es sich um mehrere Hundert Todesopfer aus dem deutschsprachigen Raum handelt, so weiß die neuere Forschung von bis zu 3000 Namen. Und noch lange nicht sind alle Archive wieder geöffnet.

    “Haben Sie keine Angst, sowieso kommt die Zeit, in welcher die deutschen Arbeiter an Sie die Frage richten werden: Was habt Ihr mit unseren Genossen gemacht?”

    Josef Selbiger, geboren 13.5.1910, am 14.10.1941 in der UdSSR zum Tode verurteilt.

     

    Seit Jahren forderte ein Arbeitskreis, vor allem von Hinterbliebenen von in der UdSSR ermordeten deutschen AntifaschistInnen von der LINKEn, dass eine Gedenktafel am Karl-Liebknecht-Haus angebracht werden soll mit dem Text:

    „Ehrendes Gedenken an Tausende deutsche Kommunistinnen und Kommunisten, Antifaschistinnen und Antifaschisten, die in der Sowjetunion zwischen den 1930er und 1950er Jahren willkürlich verfolgt, entrechtet, in Straflager deportiert, auf Jahrzehnte verbannt und ermordet wurden.“

    Am Montag hat der geschäftsführende Parteivorstand diesen Antrag unterstützt. Es bleibt zu hoffen, das 75 Jahre nach dem Beginn des massenhaften Mordens auch von deutschen Linken, endlich das Erinnern beginnt.

  • R
    radical

    Ohne in den vielfältig geführten Diskurs einsteigen zu wollen, wag ich mal diese These zur fehlenden narrativen Umsetzung:

     

    Stalins Terrorsystem trägt, wie der Name schon nahelegt, erkennbar noch die Züge des präindustriellen, wie die Inquisition und ähnliche, ideologisch überhöhte Vernichtungsmanufakturen;

    mag auch die Zahl der Menschen an, mit und durch diecdiese Vernichtung erfolgte gigantische Ausmaße angenommen haben.

    War auch wie bei der Inquisition das handwerklich-manufaktorielle im Zentrum, so doch auch ein idelogisch positiv aufgeladenes Grundrauschen bei Tätern wie Opfern.

    Daher die Gespaltenheit.

    Und die Verankerung von Solschenizyns Gulag im Zarenreich als Folie.

     

    Die NS-Vernichtungsmaschinerie ist angesichts seiner positiv/negativ rassistisch konitierten Fassade wie Maschinerie erkennbar futuristisch-industriell angelegt, ohne nennenswertes positives Grundrauschen, schon gar nicht bei den Opfern.

     

    Indem sie dieses Neuland betritt und schafft, eröffnet sich für Akteure wie die Opfer eine Welt des Fiktionalen;

    der sich für alle nur in der Abspaltung innerlich Herr werden läßt.(Eichmann ins Banale wechselnd)

    Umgekehrt ermöglicht aber gerade die überlebensspendende Abspaltung, die mögliche narrative Umsetzung oder eine Fortführung der Verdrängung bei Tätern, aber auch bei Opfern.

    Nicht ohne lebensbedrohliches Risiko:

    Primo Levis Selbstmord ist die eine Antwort; Jorge Sempruns Schreiben oder Leben - eine mögliche andere.

     

    Führe ich mir vor dieser Folie die Elmauer-Rede von Slooterdijk zu

    ' Gemüte' , so wage ich mit Erwin Chargaff und seiner Verdammung der Spaltung der Kerne: - auch das könnte ein weiterer Schritt auf diesem obigen Pfad über industrielle Abspaltung sein.

    So denn:

    Bürger Empört und Erhebt euch!

  • P
    pesy

    der taz Artikel reiht sich in die Geschichtsschreibung ein, die Stalins Herrschaftszeit völlig loslöst von der geschichtlichen Entwicklung in der damaligen Sowjetunion sieht: von Bürgerkrieg und Hungerkatastrophen, von Bedrohung und "Unternehmen Barbarossa" und davon, dass das Land in einer historisch kurzen Periode von einem unterentwickelten und despotisch strukturierten Agrarland zur industriellen Weltmacht wurde. Auf diese Art wird Geschichtsschreibung zu persönlichen Legenden.

  • S
    Stuttgarter

    Eine wahrlich aberwitzige Debatte. Für über 90 Prozent der Sowjetbürger war die Zeit Stalins ein Aufstieg in sozialer, kultureller und politischer Hinsicht. Die Umerziehung und der rote Terror war durch die Massen gewollt. Warum sollten sie den Gulag mit konterrevolutionären Einrichtungen wie den deutschen Kzs gleichsetzen? Seltsame Vorstellung.

  • JN
    Jean-Gert Nesselbosch

    Und wieso stoppte die Gewaltmaschine denn nun ? Weil der Gulag ineffektiv war ? Die Antwort auf die Frage , warum der Tod Stalins ploetzlich die Verhaeltnisse aendert, wird nicht gegeben. Die zweite, unmittelbar damit zusammenhaengende Frage : wie kann ein einzelner Mensch ein ganzes Land ueber Jahrzehnte in eine solche Angststarre versetzen. Die dritte, naive Frage (stellt sich ja immer bei Potentaten): wieso findet sich so selten mal jemand , der einem Stalin, Hitler, wasauchimmer, rechtzeitig die Bratpfanne ueber den Schaedel zieht ?

  • R
    R.J

    Warum hier das Gewaltsystem erst seit 1930 zu massakrieren begonnen haben soll, nicht etwa der echte und vermeintliche Gegner, jene, die sich nicht vorschreiben lassen wollten, wie Räteherrschaft auszusehen habe, und die Bourgeoisie Adel und Kirche sowieso zu den ersten Opfern gezählt werden müssten?

     

    Die Erklärung dafür wird wohl darin liegen, dass

    Der Autor, auch wenn er das selbst direkt nicht sagt, hat durchschimmern lassen müssen, nun doch nicht selbst dabei gewesen zu sein.

     

    Und nur am Rande, das NS-System wird eher verschleiert, wenn man es weitgehend auf Judenverfolgung und Ermordung reduziert.

     

     

    Die Entfaltung jüdischer Kultur hingegen – nicht als Religion – erlebte lange Zeit auch unter Stalin eine kleine Blüte.

  • A
    autocrator

    "der gulag ist nicht teil des universellen gedächtnisses geworden" ...

    wie vieles andere auch nicht, weil er, wie vieles andere auch, von einem der "großen" seiner zeit verbrochen wurde, die die menschen nicht als mensch begreifen wollen.

     

    aber sehen wir sie uns doch an:

    stalin - paranoid

    hitler - schwerst medikamentenabhängig

    göring - drogensüchtig

    churchill - schwerstalkoholiker

    roosevelt - ein körperliches wrack

    chiang - schizoid

    mao - pervers

    hirohito - extrem wirklichkeitswahrnehmungsgestört

     

    und das ist nur die spitze des eisbergs.

    allesamt schuldig der ungeheuerlichsten kriegsverbrechen.

     

    und was danach kam:

    traumatisiert, xenophob, bigott, verlogen und wider besseren wissens dieselben fehler der vergangenheit wiederholend, nur im kleineren maßstab oder verdeckt als kalte krieger geheimdienstoperierend.

     

    wobei die begriffe austauschbar sind:

    statt lebensraum im osten wird jetzt halt die freiheit am ndukusch verteidigt,

    das um die ecke liegende Öl gleich mit,

    und wen interessiert schon, dass ein ganzer kontinent durch HIV entvölkert wird, solange die gewinne der pharmalobby stimmen, oder die weltressourcen verpulvert werden von den beiden bevölkerungsreichsten volkswirtschaften ohne sinn und verstand?

     

    nein, der gulag ist nicht teil des gedächtnisses, nicht teil des bewußtseins, wie all die anderen, heutigen verbrechen gegen die menschlichkeit es nicht sind, weil niemand sich traute und traut, das krankhafte an den/unseren sogenannten "führern" zu benennen.

  • H
    Ähem

    Es gibt keine Versuche, diese Verbrechen sichtbar zu machen? Witzig, vielleicht fällt ihnen auf, dass weder "Schindler's Liste", noch "Shoah" aus Deutschland kommen. Also warum sollten wir an das heutige Russland solche Ansprüche erheben dürfen?

     

    Wenn sie solche Symbole wünschen, könnte sich vielleicht mal ein amerikanischer Regisseur "erbarmen" und zum Beispiel Anatolij Rybakows "Die Kinder vom Arbat" und "Jahre des Terrors" verfilmen...

  • A
    anke

    Das, bei aller Freundschaft, ist eine ausgesprochen blöde Frage! Warum wohl "stoppte die sowjetische Gewaltmaschine" nach Stalins Tod?

     

    Es ist, nehme ich an, wie mit dem Vater werden, das leichter sein soll als des Vater sein. Anfangs ist es noch vergleichsweise einfach, Gewalt auszuüben. Auch für nur leicht Gestörte. Vor allem dann, wenn sich bei ihnen eine Menge Frust aufgestaut hat, der sich dringend Bahn brechen möchte. Nach den ersten Morden allerdings wird der Job des professionellen Gewalttäters genau so öde und anstrengend, wie andere Knochenjobs auch. Vor allem, wenn es jemanden gibt, der einen fürs Aufhören umgehend erschießen lassen würde. Braucht man keine Angst mehr zu haben, dafür eliminiert zu werden, lassen halbwegs normale Leute Gewalttaten schon deswegen wieder bleiben, weil sie sonst zu nichts anderem mehr käme. Gewalttäter sind nämlich nur selten wirklich beliebt. Sie müssen permanent damit rechnen, irgendwelchen Rache-Engeln zum Opfer zu fallen. Und welcher Mensch, der seine sieben Sinne noch halbwegs beisammen hat, findet die Aussicht auf einen eigenen Verfolgungswahn schon verlockend?

     

    Unter den ehemaligen Häftlingen des Anti-Hitler war womöglich der eine oder andere Mini-Stalin. Begreiflich wäre es. Stalin war zwar die "schrille Übertreibung" eines Prinzips, das Prinzip selbst aber manifestiert sich durchaus auch anderswo. Immer noch. Schon wieder. Vor allem da, wo es nicht mit einem korrigierenden Bewusstsein konfrontiert ist. Einzelne große Männer schreiben auch heute noch "Geschichte". Die vielen kleinen Irren allerdings machen diese Geschichte erst möglich. Sie sind verantwortlich, wenn der Wahn eines Einzelnen zur Realität Vieler wird. Echt schmerzhaft also. Wahnsinn, sozusagen

  • I
    iuris

    Bitte vergessen Sie nicht Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag". Reicht ein Nobelpreis für Literatur nicht aus als Zeichen der Erinnerung?

  • G
    Georg

    Schlimm ist, daß im Bundestag Parteien und Politiker sitzen, die diesem Verbrecher unwidersprochen huldigen.

  • P
    Peter

    Das Problem bei vielen solchen Diktatoren ist, daß sich so selten Personen oder Bewegungen finden, die dem Grauen schon vorher ein Ende bereiten. Gut, Chruschtschow hat dann sehr schnell, nahezu über nacht, den Terror beendet, aber jeder denkende Mensch konnte doch schon spätestens in den 1930er Jahren sehen, wie verderblich der Stalinsche Terror war. Und dennoch machten alle mit, bis der Tod des Tyrannen das Land erlöste. Andererseits - wenn sich jemand gefunden hätte, der Stalin einfach erschießt, dann hätte wahrscheinlich Berija den Staffelstab übernommen und den Terror weitergeführt, mit noch größerer Intensität und Paranoia.

  • F
    Fred

    "Den Verbrechen des Stalinismus Gesichter und Namen zu geben, einen Reliefabdruck im kollektiven Gedächtnis und Identifikationsfiguren zu schaffen, ästhetische Debatten zu führen wie das Unaussprechliche zu formulieren ist"- all das wäre Aufgabe des heutigen Russlands. Doch dort deuten die Zeichen in die vollkommen entgegengesetzte Richtung. Stalin firmiert in Schulbüchern als "effektiver Manager", die KP bestreitet regelmäßig ihre Wahlkämpfe mit Stalinkonterfeis, an seinem Grab legt KP-Chef Sjuganow Blumen nieder, und Wolgograd heißt wieder Stalingrad. Die Reflexion des Stalinismus wird in Russland frühestens dann zur nationalen Aufgabe, wenn der derzeitige Mini-Stalin Putin auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist, wo er hingehört.

  • H
    haematom

    Liebe taz,

    da hier wie auch in den Kommentaren anderer Medien häufig eine fehlende kritische Auseinadersetzung der Linken mit ihrer eigenen Vergangenheit behauptet wird: Publiziert doch heute Abend oder morgen mal die Zugriffe (&-zeiten) auf diese Seite und vergleicht sie mit anderen Artikeln (z.B. Was von Mao übrig blieb; Wie in Sibierien; Artikel über die NPD, BND, etc.).

  • N
    Neusprech

    Der sozialitische Terror stoppte vor 60 Jahren? Dann dauerte der 2te Weltkrieg bis 1998 Rot-Grün den Frieden brachte. Ihr solltet nach Pipi-Langstrumpf auch die Geschichtsbücher umschreiben.

    Auch Wiki. Da steht doch tatsächlich zu Gulags: "Die Neuorganisation des Lagersystems wurde durch die unmittelbar nach Stalins Tod 1953 erlassene Amnestie eingeleitet, die allerdings nur „unpolitische“ Häftlinge betraf. Die Freilassung politischer Häftlinge setzte ein Jahr später ein. Ende der 1950er Jahre wurde das letzte Lager aufgelöst. 1961 kam es unter Chruschtschow zu einer Neuorganisation des Lagerwesens, auch zur Zeit Chruschtschows und Breschnews kam es immer wieder zu politischen Verhaftungen, wenngleich bei weitem nicht mehr im Umfang wie zuvor. Beendet wurde diese Art politischer Verfolgungen erst unter Gorbatschow."

     

    Das wäre ja erst 1989 gewesen. So wie Bautzen, Weissensee etc. Sind ja schon irgendwie 60 Jahre. Taz-gefühlt zumindest. Da muß ein neues Neusprech-Wort her.

    Bis dahin gilt: Der sozialitische terror dauerte in Europa bis zum Zusammenbruch des Sozialismus. In China, Nord-Korea und Kuba dauert er an. In Europa hätten ihn einige gerne wieder auch wenn sie es nicht Terror sondern "notwendiges Übel" nennen.

  • P
    Paul

    Was sagt denn die sowjetische/russische/weißrussische/kasachische/... Literatur dazu? Was die anderen Künste und Wissenschaften? Sollte es tatsächlich keinen "Reliefabdruck im kollektiven Gedächtnis" geben? Scheint mir eine sehr gewagte Behauptung zu sein. Mir fielen spontan Tarkowskij, Schukschin, Wyssotzki ein. Und Solshenizy wurde mit Sicherheit gelesen, wenn auch nicht von allen.

     

    Übrigens äußere Feinde hatte die SU von Anfang an mehr als genug. Sollte man gerade auch als Deutscher nicht vergessen. Die Traumatisierungen der Menschen in der SU sind mit Sicherheit AUCH Folgen all dieser Kriege.

     

    Warum begann und warum endete dieser Terror gegen die eigene Bevölkerung? Gute Frage, nur wo sind die Antworten?

  • L
    Laudator

    Danke für den Artikel. Besonders positiv hervorzuheben ist auch sein Erscheinen in der taz. Die geschilderte Paranoia und ihre Folgen ist unweigerlich die tödliche Sackgasse in die ideologischer Wahnsinn und Aberglauben führen. Und es denke keiner, wir seien heute dagegen gefeit.