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Verfall und Ignoranz in BerlinWo ist Jesus, wenn man ihn braucht?

Unser Kolumnist lebt auf der schlechten Seite eines Berliner Viertels. Weder Nachbarn noch Senat scheinen sich für eine Verbesserung zu interessieren.

Ein Bett unterm Baugerüst in Berlin und niemand kümmert sich, nicht mal Jesus Foto: Müller-Stauffenberg/imago

K ürzlich, in der Deutschlandfunk-„Morgenandacht“, hat Jesus zu mir gesprochen: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“ Was immer das heißt – ich jedenfalls bin in einem 50er-Jahre-Wohnblock aufgewachsen, am Rand der Gründerzeitstadt, mit Blick auf einen Kanal und eine Stadtautobahn. Auf der anderen Seite dieser Schneise lag ein architektonisch amorphes Arbeiterviertel. Es kursierten Geschichten über Gangs, die ihre Opfer an Tramschienen fesselten, aber außer dass ich dort drüben in die Kirche ging, habe ich nichts Gefährliches erlebt.

Heute, ging meine Assoziationskette weiter, hat der Vater im Himmel mir in Berlin eine frappierend ähnliche Übergangszone als Wohngegend zugewiesen, der Kanal ist etwas breiter, die Schnellstraße lauter. In meiner Heimatstadt hat man längst einen Park über sie gesetzt, aber dass der Gassenhauer „Berlin bleibt doch Berlin“ sehr ernst zu nehmen ist, habe ich nicht erst kapiert, seit die jetzige Stadtregierung das Gaspedal durchdrückt.

Im Unterschied zu meiner Kindheit lebe ich heute allerdings auf der schlechten Seite der Schneise; schlecht nicht im moralisch bewertenden Sinne, sondern im ganz praktischen: Wenn ich Kanal und Straße überwunden habe, betrete ich einen sanierten, auf Tempo 30 runterregulierten Altbaukiez mit Ökobäckereien, wenig Müll und einem grünen Stadtteilbüro.

Auf meiner Seite sind die Straßen nächtliche Rennpisten und Aufheul-Areas, unsere Wohnung ist eine Art Boxenstopp. Wenn ich abends noch zum Späti gehe, stinkt es nach Urin, die Ratten huschen über die Straße, aus den Nischen kommen alle paar Meter arme Menschen, die nach einer Spende fragen.

Das Elend der in den letzten Jahren stark angewachsenen Menge der Drogenkranken mit ihren offenen Geschwüren, ihrer in jeder Hinsicht auf das Gerippe reduzierten Existenz kann ich auch tagsüber nicht ignorieren, am zentralen Platz des Kiezes stehen Zelte, auch hier sind viele der Obdachlosen körperlich völlig heruntergekommen und psychisch krank, der letzte Supermarkt hat gerade geschlossen, die Drogerie ist schon lange zu.

Den alten Berliner Senat hat das nicht gekümmert, und vom neuen ist nichts anderes zu erwarten als eine abstoßende PR-Aktion des autoritären Großreinemachens, die ich nicht befördern will. In Wirklichkeit erwarte ich gar nichts, wie alle, die hier wohnen; und muss sagen, dass die Polizei die einzige staatliche Institution ist, die sich in unserem Slum überhaupt noch eingreifend und Ekelgrenzen überwindend blicken lässt.

Und doch bin ich hier zu Hause. Und staune über den Gleichmut meiner Nachbarn, eine Toleranz, die vollkommene Gleichgültigkeit gegen Lärm, Dreck und Leid einschließt. Niemand beschwert sich, niemand hilft, und fast niemand wählt AfD.

Wären wir ein Haus, wir wären keine nette Hausgemeinschaft. Vielleicht ist es ja das, was Jesus sagen wollte.

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Ambros Waibel
taz2-Redakteur
Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.
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10 Kommentare

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  • Danke für einen Artikel von großer Relevanz für die Stadtgesellschaft! Nur: In der Regel gehen Medienmitarbeitende und Menschen aus der Politik weder zu Fuß noch fahren sie Öffentliche! Maximal Fahrrad - da sieht man so wenig wie aus dem Auto! Der Autor hat sicher ein recht krasses Beispiel gewählt, aber wer offenen Auges durch die Bezirke geht, weiß solches schon lange. Der Begriff der Toleranz ist beschönigend, es ist Unwissenheit und Gleichgültigkeit - bestenfalls Hilflosigkeit! Eine traurige, an Hybris leidende Stadt..., aber Hauptsache Party und Tourismus!

  • Also, in Prenzlauer Berg gibt es mittlerweile auch genügend wilde Siedlungen bzw. Langzeit-Obdachlosenlager - zum Teil entlang der Ringbahn in Grünstreifen, zum Teil auch in Grünanlagen, etwa auf dem Helmholtzplatz. Und gut situiert ist P'berg allemal...

  • "In Wirklichkeit erwarte ich gar nichts", diesen Befund sollte der Autor nachgehen. Da erstaunlicherweise aus Protest kaum AFD gewählt wird, erwarten die Bewohner des Viertels noch etwas von der etablierten Politik. Was ist das, angesichts von Zuständen, die zum Himmel schreien?



    Und wie stehen die verantwortlichen Politiker zu dem Vorwurf, die Menschen hier schon lange abgehakt zu haben?



    Und was sagen die Menschen in dem vermutlich hauptsächlich grün wählenden besseren Teil der Viertels zu diesen Zuständen? Augen zu! Ich bin für diese Zustände in keiner Form verantwortlich?

    Berichte über verarmte und von der Politik aufgegebene Stadt-Viertel (auch auf dem Land) sind im deutschen Journalimus eine Seltenheit. Deshalb ist der Autor sehr für seine subjekte Bestandaufnahme zu loben. Mehr davon in der taz!

  • Ich komme ja aus einer der statistisch ärmsten Kommunen Deutschlands. Bei uns gibt es solche Zustände aber nicht. Mit Armut lässt es sich also nur bedingt erklären.



    Je diverser eine Gesellschaft umso weniger gesellschaftliches Engagement, gewerkschaftliche Organisation und allgemeine Solidarität ist dort anzutreffen. Unternehmen wie Amazon suchen bereits gezielt besonders diverse Standorte für ihre Niederlassungen aus, da dort nicht mit Gegenwehr zu rechnen ist. Es hat schon Gründe warum die Wirtschaft die aktuellen Zustände forciert wo sie nur kann.

    • @Šarru-kīnu:

      Erstens ist urbane Armut etwas anderes als die in Kleinstädten. Im letzten Kaff gibt es selten eine offene Heroinszene, schon, weil es dann doch nicht genügend Kundschaft gibt, um das Dealen profitabel zu machen.

      Zweitens wird das soziale Engagement in der Großstadt nicht durch die Diversität, sondern durch die typische Anonymität eingeschränkt.

      Drittens ist der Grad des sozialen Engagements, ablesbar an den Mitgliedszahlen von vereinen, Stiftungen, Kirchen, Parteien und Gewerkschaften, im vergleichsweise undiversen OStdeutschland messbar geringer als sonstwo.

  • Ich verstehe den Bezug zu Jesus nicht! Hat denn der Glaube, bzw. die Religon jemals ein Problem auf dieser Erde gelößt?

    • 6G
      652797 (Profil gelöscht)
      @Chris55:

      Da heutzutage viele nur noch ein hasserfülltes Religionsbild haben verstehe ich die Zweifel.



      Ja Religion hat auch Probleme gelöst, nicht immer weltweit aber Regional. Der Zusammenhalt in stark religiösen Gebieten ist wesentlich größer. Religiöse Einrichtungen waren massiv an wissenschaftlichen Fortschritt beteiligt (auch die vielen verhasste Katholische Kirche).

      • @652797 (Profil gelöscht):

        Das Religion Probleme gelößt hat, ist mir unbekannt! Für welchen wissenschaftliche Fortschritt? Da hätte ich gerne ein Beispiel!

        • 6G
          652797 (Profil gelöscht)
          @Chris55:

          Fangen wir mit dem Gregorianischen Kalender an, dann gibt es noch Gregor Mendel ein Mönch hat die Grundlagen der modernen Genetik geschaffen. Christoph Scheiner gilt als Pionier in der Augenmedizin. Athanasius Kircher war einer der Gründerväter für die moderne Vulkanologie. Zum Abschluss der Beispiel gibt es noch die Päpstliche Akademie der Wissenschaften (gegründet 1603) eines der angesehnsten Expertengremien der Welt.

  • Das klingt ja wirklich sehr desillusioniert und desillusionierend - und das traurigste ist, dass ein Senat, wie er linker nicht sein kann (der letzte also) hier attestiert bekommt, er habe sich dafür nicht interessiert oder jedenfalls "nicht gekümmert". Man könnte sogar ganz böse sein und auf "Hausgemeinschaften" verweisen (wo das Wort am Ende erwähnt wird), denen man ihre Häuser gekauft hat (ob da nur Arme wohnten?). Das waren die Prioritäten.