Verbrechen der Colonia Dignidad: Ein Gedenkort fehlt bis heute
In der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile wurden schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen. Wie steht es um die Aufarbeitung?
Inhaltsverzeichnis
„Von den sechziger bis in die achtziger Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan“, sagte Steinmeier am 26. April 2016 im Weltsaal des Auswärtigen Amtes. Damit räumte er eine moralische Mitverantwortung der Bundesregierung dafür ein, dass in der Colonia Dignidad jahrzehntelang schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen werden konnten.
In der 1961 in Chile gegründeten deutschen Sektensiedlung waren die meisten Bewohner*innen bis Mitte der 2000er Jahre ihrer Freiheit beraubt und unbezahlter Zwangsarbeit unterworfen. Deutsche Bewohner*innen wie auch chilenische Kinder aus oftmals armen Familien aus der Umgebung waren der sexualisierten Gewalt des Sektenchefs Paul Schäfer ausgesetzt und wurden teils unter Zwang adoptiert. Obwohl der Bundesregierung diese Verhältnisse bekannt waren, schritt sie nicht dagegen ein.
Die Sektenführung um Paul Schäfer war in Waffenhandel und -produktion involviert und kooperierte ab 1973 eng mit der Pinochet-Diktatur. Deren Geheimdienst DINA errichtete ein Folterlager auf dem Gelände der Siedlung und misshandelte – mit Unterstützung von Sektenangehörigen – Hunderte Oppositionelle. Dutzende wurden ermordet, ihre Leichen sind bis heute nicht gefunden.
Bundespräsident wollte Aufklärung
Ab 1976 veröffentlichten die UNO und Amnesty International Berichte von Überlebenden dieser Folter. Doch die deutsche Botschaft in Chile stellte sich schützend vor die Colonia Dignidad und beschrieb sie als „ordentlich und sauber – bis zu den Schweineställen“.
Auswärtiges Amt und Botschaft hätten „die Orientierung verloren“ beim Abwägen des Interesses an „guten Beziehungen zum Gastland“ Chile und an der Wahrung von Menschenrechten, sagte Steinmeier 2016 und tat mit seiner Rede jedenfalls verbal einen großer Schritt. Initiativen von Abgeordneten folgten und gut ein Jahr später forderte der Deutsche Bundestag einstimmig die Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad.
Angehörige der Verschwundenen fordern Aufklärung und einen Gedenkort. Auch frühere Bewohner*innen der Colonia Dignidad, wie Doris Gert, die heute außerhalb der Siedlung lebt, drängen darauf, dass Deutschland und Chile sich endlich „überwinden“ sollten, eine Gedenkstätte zu erstellen.
Ein vierköpfiges deutsch-chilenischen Expert*innen-Team hat im Auftrag einer Gemischten Kommission mit Vertreter*innen beider Regierungen ein Konzept zur Errichtung einer Gedenkstätte entwickelt. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes erklärte, aktuell stünden Beratungen mit der chilenischen Seite darüber an. Diesem Entwurf zufolge soll auf dem Gelände der Villa Baviera – wie sich die Siedlung seit 1988 offiziell nennt – die Geschichte der verschiedenen Opfergruppen an jeweils spezifischen Orten aufgezeigt werden.
Bundestag beschließt finanzielle Entschädigung
Am 19. April stellten die Leiterin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Elke Gryglewski, und der Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, dieses Konzept vor einer Gemeinsamen Kommission von Bundestag und Regierung vor.
Friedrich Straetmanns, rechtspolitischer Sprecher der Linken im Bundestag, steht dem Konzept positiv gegenüber und sagt, er erlebe eine „große Einigkeit über Fraktionsgrenzen hinweg (…), dass eine solche Gedenkstätte auf dem Gelände der Colonia Dignidad entstehen soll“.
„Das richtige Signal an die Opfer wäre, wenn noch in diesem Herbst der Spatenstich für die Gedenkstätte erfolgt“, erklärt Straetmanns, der „das Thema in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen“ möchte. Dazu solle die deutsche Regierung auch durch Auftreten des Ministers gegenüber der chilenischen Seite auf die Bedeutung des Themas hinweisen.
Die Grünen-Abgeordnete Renate Künast betont, die Regierungen und Parlamente beider Staaten müssten signalisieren, dass sie diesen Weg gehen wollen: „Diese Willensbekundung braucht es.“ Außerdem fordert sie, die Gemeinsame Kommission aus Abgeordneten und Regierungsvertreter*innen in der kommenden Legislaturperiode sofort wieder einzusetzen. „So wir denn Koalitionsverhandlungen führen,“, sagt sie, „gehört das auch da rein.“ Denn vieles sei noch lange nicht aufgearbeitet und sie ergänzt mit Blick auf das Auswärtige Amt: „Ohne Druck geht da gar nichts“.
„Ohne Druck geht da gar nichts“, so Künast
In Chile drängt die Suche nach den verschwundenen, mutmaßlich in der Colonia Dignidad ermordeten Oppositionellen. Die zuständige Ermittlungsrichterin Paola Plaza vernahm ab 21. bis 23. April zwölf Personen in diesem Zusammenhang.
In Deutschland blieb die juristische Aufarbeitung ohne jedes Ergebnis: keine Anklage, kein Urteil. Im prominenten Fall des in Chile rechtskräftig verurteilten Ex-Sektenarztes Hartmut Hopp waren die Ermittlungen wegen Beihilfe zu Mord und zu sexuellem Missbrauch sowie wegen medizinisch nicht angezeigter Vergabe von Psychopharmaka bereits 2019 eingestellt worden. Anfang April lehnte das Oberlandesgericht Düsseldorf einen Antrag auf Klageerzwingung ab.
Opferanwältin Petra Schlagenhauf kritisiert, die Ermittlungen seien „nie mit der notwendigen Tiefe und Energie geführt worden, dass sie überhaupt eine Entscheidung ermöglichen, ob am Schluss eine Anklage gerechtfertigt ist“. Das Menschenrechtszentrum ECCHR reichte im Januar Aufsichtsbeschwerde beim nordrhein-westfälischen Justizministerium ein und fordert, dieses solle erneute Ermittlungen anordnen. Eine Antwort des Justizministers steht noch aus.
Auf Antrag der Grünen-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag berichtete das Justizministerium am 21. April im Rechtsausschuss über die Ermittlungen gegen Hartmut Hopp. Da die Diskussion im nichtöffentlichen Teil geführt wurde, sind weitere Informationen dazu nicht bekannt.
Finanzielle Hilfen stehen teilweise noch aus
Im Rahmen eines Hilfskonzepts leistet die Bundesregierung seit 2020 individuelle Hilfszahlungen an Opfer der Colonia Dignidad. Konkret geht es um Summen von 7.000 bis zu 10.000 Euro, die nach Angaben von Betroffenen bisher an gut 90 Personen gezahlt wurden beziehungsweise noch ausstehen.
Nach Angaben einer Sprecherin des Auswärtigen Amtes finanziert die Bundesregierung auch „psychosoziale Maßnahmen und Fachpersonal der Alten- und Pflegestation“ in der Villa Baviera. Ein beschlossener Fonds „Pflege und Alter“ zur Unterstützung der Personen, die heute außerhalb der Siedlung leben, ist bisher allerdings nicht umgesetzt. Viele derjenigen, die jahrzehntelang weder Lohn noch Sozialabsicherung erhielten, sorgen sich um ihr Auskommen im Alter. Sie fordern die Untersuchung der Besitzverteilung in der Villa Baviera, denn alle Vermögenswerte der Siedlung konzentrierten sich bei der heutigen Führungsgruppe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau