Ex-Ermittler zu Colonia Dignidad: „Die Verbrechen waren ein Tabu“
Luis Henríquez Seguel leitete einst die Ermittlungen gegen die deutsche Sekte Colonia Dignidad in Chile und überführte die Täter. Nun kommt er nach Berlin.
taz: Herr Henríquez, Sie haben ab 1996 die Ermittlungen gegen die deutsche Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile geleitet und entscheidenden Anteil daran, dass Paul Schäfers Regime von sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit gestoppt wurde. Wie sah zuvor Ihre Arbeit bei der chilenischen Kriminalpolizei aus?
Luis Henríquez Seguel: Nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 arbeitete ich bei der Policía de Investigaciones (PDI) in Santiago in einer Abteilung für Innere Angelegenheiten. Unsere Aufgabe war es, gegen Korruption in der eigenen Institution vorzugehen und belastete Personen zu entfernen. Die PDI war unabhängig von den Carabineros, die Teil der Militärjunta waren. Wir haben auch Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur untersucht. Wir hatten wenig Mittel, waren aber ein engagiertes Team, haben Militärs und Zivilisten identifiziert, die für die Repressionsorgane gearbeitet hatten, und konnten einige verhaften.
1947 in Melilpilla geboren, war Vizedirektor der chilenischen Kriminalpolizei PDI und Leiter der Einheit zur Aufklärung von Diktaturverbrechen. Ab 1996 war er leitender Polizist bei den Ermittlungen gegen die Colonia Dignidad. In den 1990ern und 2000ern Einsätze für die UNO bei Polizeischulungen. Seit 2003 pensioniert.
Warum begannen die Ermittlungen gegen die Colonia Dignidad, von der schon früh Straftaten bekannt waren, erst so spät?
Nach meinem Eindruck wollte die Regierung, dass wir ermitteln – aber bitte nicht zu schnell, denn Pinochet hatte die Macht gerade erst übergeben, die politische Situation war sehr labil. Die Verbrechen der Colonia Dignidad waren ein Tabu. Es war uns bis 1996 nicht gelungen, dieses Thema anzufassen. Die Siedlung hatte die besten Anwälte und genossen Unterstützung von einem Netzwerk vieler wichtiger Personen. Es gab Untersuchungen wegen Berichten von Folter und Verschwindenlassen in der Colonia Dignidad. Doch es war unmöglich, das Privatgelände zu betreten. Wir konnten am Eingangstor Fragen stellen und wurden oft wieder abgewiesen, auch mit der Begründung, die Bewohner würden kein Spanisch verstehen.
Daher rührt auch der Ausspruch „La Colonia siempre gana“ – „Die Kolonie gewinnt immer“. Wie kam es, dass Sie ab 1996 doch effizienter gegen die Colonia Dignidad vorgehen konnten?
Im Juni 1996 kam Jacqueline Pacheco zu uns, die Mutter eines 12-jährigen Jungen, der von Sektenchef Paul Schäfer in der Siedlung sexuell missbraucht worden war. Ursprünglich war sie der Villa Baviera – so hieß die Siedlung damals offiziell – gegenüber positiv eingestellt. Ihr Sohn lebte mehrere Monate dort, um ein sogenanntes Intensivinternat zu besuchen. Er konnte die streng abgeriegelte Siedlung nicht verlassen. Es gelang ihm aber, eine Nachricht an seine Familie herauszuschleusen, dass Schäfer ihn vergewaltigte.
Aber warum erstattete Pacheco Anzeige bei Ihnen?
Sie befürchtete Repressalien, wenn in der Colonia Dignidad bekannt würde, dass sie Anzeige erstattet hatte. Sie vertraute den Behörden aus den umliegenden Orten nicht. Denn sie wusste, dass auch Politiker und Militärs, Polizisten und Richter zu Feierlichkeiten in die Colonia Dignidad eingeladen wurden und Geschenke bekamen. Die chilenische Menschenrechtskommission hat Pacheco zu uns geschickt, wohl weil wir als unbestechlich galten. Wir haben den Richter Jorge Norambuena in Parral, der nächstgrößeren Stadt zur Colonia Dignidad, persönlich informiert und er hat die Akte unter Verschluss gehalten. So haben wir zwei, drei Monate Zeit für die Ermittlungen gewonnen und konnten diese auch mit anderen Fällen von Folter und Verschwindenlassen in der Colonia Dignidad verbinden.
Wie hat Ihr Team diese Ermittlungen geleistet?
Wir hatten sehr wenige Mittel, aber viel Engagement. Ich habe ein kleines Team zusammengestellt mit meist jungen Menschen, die Erfahrungen in der Arbeit zu sexueller Gewalt hatten und gut mit den traumatisierten Kindern und deren Familien umgehen konnten. Zusammen mit Jacqueline Pacheco und dem Anwalt Hernán Fernández haben wir weitere chilenische Familien ausfindig gemacht, deren Kinder in der Villa Baviera missbraucht wurden.
Monate später kam es zu Durchsuchungen in der Siedlung. Warum konnten Sie Schäfer nicht verhaften?
Wir waren mit bis zu 100 Personen vor Ort, auch mit Einheiten der Carabineros. Das war auch nötig, denn wir wussten, dass viele in dieser angeblich wohltätigen Vereinigung Schusswaffen hatten. Allein auf den Namen des Sektenarztes Hartmut Hopp waren drei Pistolen angemeldet. Schäfer wurde die Information vorab zugespielt, wir konnten ihn nicht finden. Wie sich später herausstellte, hatte er sich in einem Bunker versteckt. Um Schäfer zu verhaften, mussten wir das Gelände kennenlernen und in Erfahrung bringen, wo Gefangene gefoltert oder ermordet wurden. Das wurde uns erschwert: Die Bewohner veränderten Wege und Häuser, sogar den Teich haben sie verlegt.
1997 floh Schäfer mit einigen Unterstützer:innen nach Argentinien, lebte in der Nähe von Buenos Aires. Er wurde erst 2005 entdeckt, verhaftet und zu 20 Jahren Haft verurteilt. 2010 starb er im Gefängnis in Santiago. Deutschland und Chile schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu den Verbrechen in der Siedlung zu.
Was in den Jahrzehnten der Colonia Dignidad geschehen ist, war schrecklich, auch für die vielen deutschen Opfer, die in der Siedlung gelitten haben. Natürlich ist Chile verantwortlich, weil diese Dinge auf chilenischem Boden geschehen sind. Aber auch die deutsche Botschaft in Chile kannte die Berichte derjenigen, die aus der Siedlung fliehen konnten wie Wolfgang Kneese 1966. Deutsche Behörden sagten immer, Chile sei zuständig. Chilenische Behörden meinten, sie seien nicht zuständig, weil es um deutsche Staatsangehörige ging.
Die Colonia Dignidad: Der deutsche Laienprediger Paul Schäfer und 300 Anhänger:innen gründeten 1961 die Sektensiedlung in Chile. In der streng abgeriegelten Siedlung herrschten jahrzehntelang Zwangsarbeit und sexualisierte Gewalt. Während der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) kooperierte die Sektenführung mit dem Geheimdienst Dina. Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert und ermordet. Auch 50 Jahre nach dem Putsch ist das Schicksal der dort verschwundenen Personen noch nicht aufgeklärt. Inzwischen heißt die Siedlung Villa Baviera, betreibt Landwirtschaft und ein Hotelrestaurant im bayerischen Stil. Eine Gedenkstätte gibt es auf dem Gelände bis heute nicht.
Die Veranstaltung: Luis Henríquez Seguel wird am Dienstag, 18.30 Uhr, in der Pablo Neruda Bibliothek in Berlin über seine Ermittlungen berichten. (taz)
In den 1990er und 2000er Jahren waren Sie als stellvertretender Direktor der PDI und im Auftrag der Vereinten Nationen als Ausbilder für menschenrechtliche Standards bei der Polizei auch in anderen Ländern im Einsatz. Wie sind Sie eigentlich ursprünglich zur Polizei gekommen?
Ich wollte immer Polizist werden. Mit 18 Jahren habe ich einen Ausbildungskurs bei der Polizei angefangen. Ich habe damals bei der Polizei auch Regelverstöße und Machtmissbrauch gesehen und konnte nichts dagegen tun. Eine Zeit lang habe ich überlegt, den Beruf zu wechseln. Während eines Krankenhausaufenthalts habe ich einem Priester davon erzählt und er antwortete mir: „Junger Mann, Sie irren sich. Wenn Sie etwas verändern wollen, müssen Sie in der Institution bleiben und irgendwann einen wichtigen Posten erreichen, auf dem Sie Entscheidungen treffen können.“ Der Priester hatte recht!
Sie waren Anhänger des Sozialisten Salvador Allende, der 1970 als Anführer des Linksbündnisses Unidad Popular zum Präsidenten gewählt wurde.
Als Allende gewählt wurde, habe ich gefeiert. Aber für mich alleine. Ich konnte das nicht offen mit meinen Kollegen tun. Die meisten waren für einen anderen Kandidaten. Anders als die Rechte in unserem Land es darstellten, war Allende ein überzeugter Demokrat, der über Wahlen und auf demokratischem Weg zum Sozialismus kommen wollte.
Eine ihrer Aufgaben war damals auch die Observation der rechtsextremen paramilitärischen Organisation Patria y Libertad, Vaterland und Freiheit.
Meine erste Aufgabe war es, den Anwalt Pablo Rodríguez Grez zu beschatten. Er war das öffentliche Gesicht von Patria y Libertad. Während unserer Observationen stellten wir fest, dass die Organisation mehrere Trainingslager betrieb, eines in der Colonia Dignidad. Dabei wurde der Umgang mit Waffen geübt, wurden Anschläge und Straßenblockaden trainiert und der Tanquetazo vorbereitet, der erste Putschversuch von Militärs und Patria y Libertad, der am 29. Juni 1973 scheiterte. Danach löste sich Patria y Libertad auf. Die Angehörigen der Organisation gliederten sich in den Geheimdienst Dina oder andere Repressionsorgane ein.
Den dann erfolgreichen Putsch am 11. September 1973 haben Sie selbst im Regierungspalast La Moneda erlebt, später berichteten Sie in einem Buch darüber.
Ich gehörte damals zu der Polizeiwache von Präsident Allende. Wir waren 17 Kriminalbeamte der PDI. Am 11. September 1973 waren wir alle in der Moneda und haben die Angriffe mit Artilleriebeschuss und die Bombardierungen aus der Luft erlebt. Als klar wurde, dass wir keine Chance mehr hatten, hat der Präsident jedem Einzelnen von uns die Hand gegeben und sich bei uns mit „gracias, compañero“ bedankt. Dann hat er sich im Saal Toesa erschossen.
Sie wurden verhaftet. Wie und warum haben Sie überlebt?
55 Personen wurden noch am Nachmittag verhaftet – Minister, politische Berater, Ärzte, Mitglieder der politischen Wacheinheit Allendes aus der Sozialistischen Partei und unsere Einheit. Wir lagen mit verbundenen Händen auf der Straße und wurden dann in das Artillerieregiment Tacna gebracht, dort verhört und misshandelt. Die meisten wurden erschossen, von vielen wussten wir über Monate nicht, was mit ihnen geschehen war. Aber wir von der PDI wurden, nach 28 Stunden ohne Nahrung und Wasser, unter Auflagen freigelassen, weil wir zuvor keine politische Funktion hatten. Unser Vorgesetzter ging ins Exil, wir anderen wurden auf andere PDI-Einheiten verteilt und standen unter Beobachtung. Ich glaube auch, dass wir überleben sollten, weil wir Zeugen von Allendes Selbstmord waren und darüber berichten sollten.
Was hat diese Erfahrung mit Ihnen gemacht?
Als ich am Abend des 12. September nach Hause kam, konnte ich kaum glauben, dass ich überlebt hatte. Seitdem hat sich meine Lebensphilosophie verändert. Ich lebe mein Leben und jeden Tag intensiver.
Was haben Sie in den 17 Jahren der Diktatur bis 1990 gemacht? Waren Sie in die politische Repression der Diktatur verwickelt?
Einige meiner Kollegen wurden zu den Repressionsorganen Dina oder CNI geschickt. Ich habe so etwas nie getan. Zum einen weil ich in der Polizei als Linker bekannt war und niemand mir vertraute. Zum anderen hatte ich meine Haltung, dass ich die Dinge korrekt mache – und das wussten alle. Oft habe ich an den Priester gedacht, der mir sagte, dass ich bei der Polizei bleiben und eines Tages Entscheidungen treffen sollte. Tatsächlich denke ich, dass ich meinen bescheidenen Anteil beigetragen habe. Ich habe meine Pflicht getan und das, was ich konnte für etwas mehr Gerechtigkeit.
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