Verbale Gewalt, Brandanschläge und Häme: Anständig war nur der Salatkopf
Verbalgewalt gegen Long-Covid-Betroffene und Autor*innen, ein Brandanschlag, das ist deprimierend. Angebracht dagegen: Häme gegen unfähige Politiker.
E s grüßt Sie zum Wochenende Ihr „Moralapostel“, Ihr „Erziehungsbeauftragter“, Ihr „Anstandsonkel“ – Bezeichnungen, die mir nach meiner letzten Kolumne von anonymen Leser*innen zugeschrieben wurden. Herzlichen Dank! Moral, Erziehung, Anstand – oder nennen wir es: Werte und Haltung, das passt gut! Besonders bei der Rückschau auf diese Woche.
Kim de l’Horizon hat den Deutschen Buchpreis bekommen, für den Roman „Blutbuch“, in dem eine namenlose Figur, die weder Mann noch Frau ist, ihre Familiengeschichte aufarbeitet. Auch Kim de l'Horizon bezeichnet sich als „nonbinär“, möchte die Pronomen er*sie für sich verwendet wissen, gibt sein*ihr Geburtsdatum mit 2666 an und rasierte sich bei der Preisverleihung aus Solidarität mit den Frauen in Iran die Haare ab.
Das darf man fortschrittlich und löblich finden oder auch affektiert und eine Zumutung. Darf man. Wirklich. So wie man auch Autoren wie, sagen wir: Uwe Tellkamp oder Richard David Precht für total toll oder total bescheuert halten darf. Man kann de l’Horizons Buch fantastisch finden oder belanglos. Man darf sogar den*die Verfasser*in kritisieren, ohne den Roman gelesen zu haben. Dafür darf man dann zurückkritisiert werden. Debatten, auch scharf geführte, sollten innerhalb zivilisierter Grenzen stattfinden. Aber Kim de l’Horizon erhält Drohungen und muss teils beschützt werden. Was genau haben diese Leute nicht kapiert?
Auch die Kolumnistin Margarete Stokowski ist verbaler Gewalt ausgesetzt, seit sie vergangenen Freitag mit Gesundheitsminister Lauterbach zur Vorstellung einer neuen Impfkampagne aufgetreten ist. Sie ist von Long Covid betroffen. Ihr die Frage zu stellen, wie sie sich ihre Erkrankung als dreimal Geimpfte erkläre und warum sie sich trotzdem fürs Impfen einsetze, liegt nahe. Eine ZDF-Journalistin tat genau das. Und man kann ihren Auftritt für eine schlechte Idee halten, wie das Blog Übermedien es tat, oder für einen PR-Coup, für den es das Gesundheitsministerium offenbar hält. Aber Stokowski bekommt seither Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Geht’s noch?
Oder Mecklenburg-Vorpommern. Im Ort Groß Strömkendorf brannte am Mittwoch eine Unterkunft nieder, in der Menschen aus der Ukraine lebten. Feuerwehr und Polizei gehen von Brandstiftung aus. Auch hier: Natürlich darf man in einer freien, demokratischen Gesellschaft Kritik an Flüchtlingspolitik äußern. Man darf sagen, dass man sich überfordert fühlt. Aber ein Haus anzünden? Den Tod von Menschen in Kauf nehmen? Wie verroht kann man sein?
Häme und Spott sind nicht immer falsch
Manche halten mein Eintreten für Anstand und Moral für den Versuch, Kritik – und auch Witze, Häme, Spott – zu unterbinden. Falsch! Gewalt, auch verbale, ist inakzeptabel. Witze, Häme und Spott hingegen sind bisweilen sogar dringend geboten. Wie im Fall der britischen Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss. Das Krawallblatt Daily Star fragte vor ihrem Rücktritt am Donnerstag, ob Truss, von Fehler zu Fehler stolpernd, länger im Amt bleiben werde als ein Salat haltbar sei. Am Ende gewann, auf Youtube verfolgbar, ein mit Augen beklebter Salatkopf. Böse. Aber lustig.
Spott – mehr noch: einen Gerichtsprozess – verdient auch Sebastian Kurz, Österreichs jüngster Altkanzler aller Zeiten. Diese Woche hat sein ehemaliger politischer Weggefährte Thomas Schmid zu Korruption der von Kurz geführten Ex-Regierung ausgesagt. Stimmt das, was Schmid ausgepackt hat, auch nur halbwegs, hat Kurz Maßstäbe in Sachen Bestechung gesetzt. Gekaufte Umfragen. Verschonung von Millionären vor dem Fiskus. Und noch viel mehr.
In Iran dauern derweil die Proteste gegen die Mullah-Diktatur an. Viel zu lange haben westliche Staaten dort auf „Wandel durch Handel“ gesetzt. Wir sollten im Umgang mit dem Regime eher den Weg „Wandel durch Tritt in den Hintern“ wählen. Apropos Umgang mit autoritären Staaten: Dass Kanzler Scholz allen Ernstes will, dass China Anteile am Hamburger Hafen erhält, ist alles Mögliche, aber sicher nicht intelligent. Muss man auch mal sagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja