Vera Politkowskaja über ihre Mutter: „Ihre Bücher waren prophetisch“
Die Tochter der kremlkritischen Journalistin Anna Politkowskaja hat ein Buch geschrieben. Ein Gespräch über Familie, Prophezeiungen und Kriege.
wochentaz: Frau Politkowskaja, wann haben Sie das letzte Mal an Ihre Mutter gedacht?
Jahrgang 1980, lebt im europäischen Ausland, sie ist ausgebildete Musikerin und arbeitet als Journalistin.
Vera Politkowskaja: Ich denke jeden Tag an sie.
Ihre Mutter steht auch im Mittelpunkt Ihres Buches „Sie hätte es Krieg genannt“, das an diesem Wochenende auf Deutsch erscheint. Warum dieses Buch?
Ich wollte den Leser*innen, den Menschen, die sich für das Leben und die Arbeit meiner Mutter interessieren, auch ihre andere Seite zeigen. Einblicke in ihr Privat- und Familienleben geben. Tatsächlich beschreibe ich in meinem Buch genau das. Ihre Persönlichkeit und ihren Charakter und wie sie sich im gewöhnlichen Alltag gezeigt haben. Es geht um die andere Seite ihrer Arbeit, wie das alles von innen betrachtet aussah.
Ihr Buch ist zuerst auf Italienisch herausgekommen. Welches Zielpublikum adressieren Sie?
Kein bestimmtes – einfach Menschen, die mehr über das Leben von Anna Politkowskaja wissen wollen.
Anna Politkowskaja
Vor allem mit ihren kritischen Reportagen über den zweiten Tschetschenien-Krieg (1999–2009) machte sich die Investigativjournalistin und Menschenrechtsaktivistin einen Namen, aber auch viele Feinde. Am 7. Oktober 2006 wurde die damals 48-Jährige, die bei der Zeitung Nowaja Gaseta arbeitete, in Moskau erschossen. Im Zusammenhang mit dem Mord wurden sechs Männer verurteilt, die Auftraggeber blieben im Dunkeln.
Nowaja Gaseta
Die Zeitung wurde 1993 gegründet und erlangte durch ihre Recherchen über Menschenrechtsverletzungen in Russland auch international Bekanntheit. Allein in den nuller Jahren wurden insgesamt sechs ihrer Mitarbeiter*innen getötet. 2022 musste die Nowaja Gaseta, wie viele andere kritische Medien auch, ihren Betrieb einstellen. Chefredakteur Dmitri Muratow, 2021 einer von drei Friedensnobelpreisträger*innen, wurde im September 2023 als „ausländischer Agent“ eingestuft.
In naher Zukunft auch russischsprachige Leser*innen?
Das Buch gibt es bislang nicht auf Russisch. Und ich denke, dass es in Russland auch nicht so schnell erscheinen wird.
Ihre Mutter Anna Politkowaskaja wurde am 7. Oktober 2006 ermordet. Einen nahen Menschen auf diese Weise zu verlieren, ist grausam. Wie ging es weiter, Ihr Leben danach?
Ich habe kurz danach ein Kind bekommen. Mutter zu sein, das hat mich ganz in Beschlag genommen. Das erste Lebensjahr mit meiner Tochter war nicht einfach. Ich habe parallel dazu ja auch noch gearbeitet.
Haben Sie schon damals daran gedacht, Russland zu verlassen?
Ja, unmittelbar nach dem Tod meiner Mutter gab es diesen Gedanken. Aber es war unmöglich, diesen Plan zu realisieren. Denn in diesem Mordfall galt und gelte ich als Geschädigte. Im russischen Strafrecht ist ein Geschädigter oder eine Geschädigte Partei des Strafverfahrens. Das heißt, es ist erforderlich, sich an bestimmten verfahrenstechnischen Schritten zu beteiligen. Aus der Ferne geht das nicht, das erfordert Präsenz. Für die strafrechtliche Untersuchung ging viel Zeit drauf, obwohl der Mord letztendlich nicht aufgeklärt wurde. Dennoch haben wir, mein Bruder Ilja und ich, aktiv an den Ermittlungen mitgewirkt.
Hatten Sie in den darauf folgenden Jahren die Hoffnung, in Russland könne sich auch etwas zum Besseren wenden?
Natürlich hatte ich diese Hoffnung. Uns verbietet ja niemand, auf bessere Zeiten zu hoffen. Aber alles, was in Russland dann passiert ist, das waren im Prinzip nur langsame und graduelle Schritte hin zu dem, was wir jetzt haben. Das heißt, es hat sich nichts verbessert, im Gegenteil. In all den Jahren wurde es immer schlimmer. Und eine Folge davon war schließlich der Beginn des Krieges gegen die Ukraine.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ihre Mutter hat viel über die Tschetschenien-Kriege geschrieben – eine Blaupause für Moskaus Krieg in Syrien, aber auch in der Ukraine. Haben westliche Politiker*innen Anna Politkowskaja nicht genau genug gelesen oder sie nicht ernst genommen? Waren sie zu naiv?
Ich habe keine klare Antwort darauf, obwohl alles, was nach ihrem Tod geschah, wie sich die Situation im Land insgesamt entwickelte, schon damals in ihren Büchern nachzulesen war. Mein Bruder oder andere Verwandte und ich haben bei Zusammenkünften immer wieder festgestellt, dass ihre Bücher in gewisser Weise prophetisch waren. Was die westlichen Politiker*innen angeht, da kann ich nur mutmaßen. Vielleicht haben sie sich mit den Analysen meiner Mutter nicht so intensiv beschäftigt wie beispielsweise Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen. Es ist wohl weniger Naivität, als eher der unterbliebene Versuch, das Wesen des Regimes verstehen zu wollen.
Was war Ihr erster Gedanke in der Nacht zum 24. Februar 2022, als Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann?
Einfach nur weg aus Russland.
Warum?
Wenn etwas nach und nach kommt, gewöhnt man sich daran und lernt, damit zu leben. Die Zeit dafür ist da. Aber als der Krieg dann begann, habe ich sofort verstanden, dass sich die Ereignisse absolut rasant entwickeln und alles noch schlimmer werden würde. Und mir wurde klar, dass ich bald keinen Job mehr haben würde. Die Schließungen vieler Medienunternehmen, die Inhaftierung von Journalist*innen, Oppositionellen und allen Menschen, die einen anderen Standpunkt als die Regierung vertreten, haben meine Befürchtungen bestätigt.
In Ihrem Buch erwähnen Sie in diesem Zusammenhang auch ihre Tochter Anna, die heute 16 Jahre alt ist …
Sie musste sich schon immer abfällige Kommentare anhören, welchen Nachnamen sie hat und aus welcher Familie sie stammt. Das setzte sich nach dem Beginn des Krieges fort. Aber sie ist eben auch ein Teenager und hat wohl anfangs gar nicht begriffen, was es heißt, an öffentlichen Orten, wie in der Schule, seine Meinung zu sagen. Das ist jetzt gar nicht mehr möglich. Aber sie hat sich trotzdem kritisch geäußert, was zu noch größeren Konflikten mit ihren Altersgenoss*innen führte.
Die Schwierigkeiten Ihrer Tochter sind nur ein Beispiel für die intimen Einblicke, die Sie den Leser*innen in Ihr Privatleben gewähren. Kostete diese Offenheit manchmal Überwindung oder war das eher eine Art Therapie, um mit der Situation umzugehen?
Um das zu beschreiben, musste ich alles noch einmal durchleben. Das war schwer, doch anders ging es nicht. In gewisser Weise war es auch eine Art Therapie. Oder besser gesagt: ein Versuch, alle Gegebenheiten und Fakten unseres Lebens in einer einheitlichen Linie anzuordnen. Das hat mir geholfen.
Welches Erbe hat Anna Politkowskaja hinterlassen?
Wie gesagt: Ihre Bücher waren prophetisch. Als sie geschrieben wurden, haben viele Menschen diese Veröffentlichungen als eine sehr starke Übertreibung dessen empfunden, was sich um sie herum abspielte. Dennoch hat die Zeit dieses Bild zurecht gerückt. Es hat sich gezeigt, dass meine Mutter Recht hatte. Ja, auch diese Botschaft ist von ihr geblieben: Dass man Menschen sehr genau zuhören sollte, die sagen, was die Mehrheit verschweigt oder nicht einmal wahrnimmt. Diese Menschen sollten sich nicht scheuen zu sagen, was sie denken, was sie sehen und sie sollten die Dinge beim Namen nennen.
Sie und Ihre Tochter leben im Ausland. Wie blicken Sie jetzt auf Russland, haben Sie manchmal Heimweh?
Klar habe ich Heimweh, aber da ist auch, ehrlich gesagt, eine tiefe Traurigkeit. Ich hatte mir schon vorher ausgemalt, wie sich die Situation nach Kriegsbeginn in Russland entwickeln könnte. Aber so, wie dann alles gekommen ist, das hat selbst meine pessimistischsten Annahmen übertroffen.
Was erwarten Sie?
Nichts Gutes, denn es gibt zur Zeit keine Anzeichen dafür. Meine Hoffnungen sind nicht gänzlich verflogen, aber das hat auch irgendwie mit meinen Emotionen zu tun. Die Fakten sprechen für sich. In naher Zukunft wird sich leider nichts zum Besseren ändern.
Wie ist Ihr Leben mit ihrer Tochter im Exil?
Ich bin viel ruhiger geworden, vor allem auch, was meine Tochter angeht. Sie ist eine der Prioritäten in meinem Leben. Hier sind die Menschen viel freier. Du kannst deine Meinung äußern und musst keine Angst haben, dafür verhaftet zu werden. Genau das passiert jetzt überall in Russland, jeden Tag. Zu emigrieren, das ist kein einfacher Weg. Das war er nie, für niemanden.
Was ist besonders aufreibend?
Ich meine die vielen Schwierigkeiten jedes Menschen aus der Russischen Föderation, der im Ausland lebt. Neue Gesetze und Verordnungen, die westliche Länder erlassen, um Russ*innen das Leben im Ausland schwer zu machen. Mittlerweile ist die Haltung gegenüber Russ*innen weltweit negativ. Aber ich weiß auch: Wenn ich jetzt in Russland leben würde, wäre alles noch viel komplizierter.
Arbeiten Sie?
Ich bin an verschiedenen journalistischen und schriftstellerischen Projekten beteiligt.
Was ist Ihr größter Wunsch?
Dass das Leben in Russland auf den Kopf gestellt und alles gut wird. Im Moment habe ich keine Vorstellung davon, wie das passieren und wie lange das noch dauern könnte. Ich wünsche mir, keine Angst davor haben zu müssen, mit meiner Tochter nach Russland zurückzukehren.
Vera Politkowskaja hat mit der Journalistin Sara Giudice das Buch „Meine Mutter hätte es Krieg genannt“ (Klett-Cotta, 2023, 192 Seiten), geschrieben.
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