Venedig nach der Pandemie: Hoffen auf die digitalen Nomaden
Venedig ist heute fast so voll wie vor der Pandemie. Der Tourismus boomt, die Bevölkerung schrumpft und altert. Ein Ökonom will gegensteuern.
Vorbei die besucherarme Zeit der Pandemie, die den Effekt mit sich brachte, dass das Wasser in der Lagune plötzlich sauber war und den Venezianer:innen ihre Stadt lebenswert erschien. Die Besucher:innen aus Asien fehlen noch immer, aber auch so ist Venedig wieder rappelvoll.
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Eine Fülle, die nicht satt macht, sondern Übersättigung vorgaukelt. Venedig ist die Stadt des Tagestourismus, der Kurzzeitbesuche, der Investoren und Reichen, die sich dort einkaufen, wo die Einheimischen es sich nicht mehr leisten können. Das Problem ist bekannt, aber nicht gelöst. „Die Pandemie hat gezeigt, wie fragil die wirtschaftliche Situation der Stadt ist“, sagt der Ökonom Massimo Warglien von der Universität Ca’ Foscari in Venedig. „Sie ist viel zu einseitig auf Tourismus ausgerichtet.“
Während des ersten strengen Lockdowns in Italien saß auch er zu Hause im Homeoffice und unterrichtete virtuell. Damals kam er auf die Idee, Menschen zum Arbeiten nach Venedig zu locken. Menschen, die länger als drei Tage bleiben: drei, sechs oder sogar zwölf Monate.
Doppelt so viele Menschen über 50 wie unter 50
„Die Pandemie hat auch die Regeln der Arbeitswelt verändert“, sagt Warglien. Dauerhaft, hofft er. Deshalb hat er die Plattform Venywhere ins Leben gerufen, die keine Jobs am Lido, aber Unterkunft und Hilfsangebote vermitteln soll, um sich in der Stadt beruflich und privat einzurichten.
Derzeit befindet sich die Website in der Testphase, im September 2022 soll der endgültige Launch sein. Mehr als 2.600 Voranmeldungen sind eingegangen. Etwa die Hälfte der Interessierten seien Frauen und mehr als 70 Prozent insgesamt zwischen 26 und 35 Jahre alt, erzählt Warglien in seinem Garten nahe der Universität. „Genau die Altersgruppe, die uns in Venedig heute fehlt.“
Denn die Bevölkerung der Stadt schrumpfte allein im vergangenen Jahrzehnt um 10 Prozent auf heute etwa 50.000 Menschen, die noch im historischen Stadtkern leben und sich – vor der Pandemie – einer jährlichen Besucherschar von 20 Millionen gegenübersahen. Die jungen Leute gehen nach der Schule weg, um woanders zu studieren und Arbeit zu suchen. Im Stadtzentrum leben etwa doppelt so viele Menschen über 50 wie unter 50. Die Bevölkerung Venedigs schrumpft und altert drastisch.
Auf den ersten Blick, so Warglien, scheint Venedig nicht allzu geeignet für die neuen Formen digitaler Arbeit: weder gebe es eine besonders gute digitale Infrastruktur noch viele Co-Working-Spaces oder Bürogemeinschaften. „Deshalb gehen wir es anders an: Die Stadt wird zum Arbeitsplatz.“
Dass digitales Arbeiten an ein Büro oder das eigene Zuhause geknüpft sein müsse, hält er für den falschen Weg. Für ihn ist es eine der Lehren aus der Pandemie, dass zwar digitale Arbeit physisch nicht mehr fest an einen Ort gebunden ist, dass aber die Menschen durchaus nach Austausch und Gemeinschaft verlangen, jedenfalls punktuell – all dies fänden sie in Venedig.
Warglien schweben ausgefallene Orte in der Stadt vor, er malt eine virtuelle Karte aus, auf der die Standorte verzeichnet sind, an denen sich Menschen zum Arbeiten niederlassen und einbuchen könnten, zum Beispiel im Museum, in Galerien, Gärten, Werkstätten.
Acht solcher Arbeitsplätze hat sein Team bisher ausfindig gemacht: in einer historischen Bibliothek, im weitläufigen Gebäudekomplex der ehemaligen Schiffswerft Arsenale, in einer Kunststiftung, auf einer der Inseln der Lagune.
Für bestimmte Berufsgruppen käme Fernarbeit oder Remote Work eher infrage, sagt Warglien: Leute aus dem IT- oder Marketing-Bereich sind in der Ortswahl flexibler als beispielsweise Handwerker:innen oder Künstler:innen. Doch auch für sie will Venywhere Orte scouten.
Das Wohnungsproblem
Langfristig soll Venywhere wirtschaftlich selbstständig werden, doch in den ersten drei Jahren wird es ein Spin-off der Uni Venedig bleiben, privat finanziert durch Spenden und die Fondazione di Venezia, eine Stiftung, die sich für den Schutz des kulturellen Erbes in Venedig einsetzt. Staatliche oder kommunale Unterstützung hat das Start-up nicht beantragt.
Sechs Leute arbeiten in Wargliens Team, größtenteils ehemalige Studierende seiner Fakultät. Das noch von der alten Regierung im März beschlossene „Einjahresvisum für digitale Nomaden“ aus Nicht-EU-Ländern dürfte alles vereinfachen, hofft Warglien. Details der Regelung sind aber noch unklar: Sie richtet sich an „hoch qualifizierte Arbeitskräfte“, die nicht näher definiert sind.
Mit den großen Wohnungsagenturen der Stadt ist man im Gespräch, dass sie ihre Wohnungen auch über die Webseite von Venywhere anbieten. „Damit wäre viel gewonnen“, sagt Warglien. Denn wer über Airbnb buche, verweile in der Regel drei bis vier Tage in der Stadt, rechnet er vor.
Wer zum Arbeiten nach Venedig käme, bliebe aber mindestens sechs Monate. Die Frage mittel- und langfristiger Mietverträge und passender beziehungsweise bezahlbarer Wohnungen ist ein großes Problem – auch für Venywhere.
Foteini Kalopoulou ist für drei Monate zum Arbeiten nach Venedig gekommen, ihr Büro befindet sich eigentlich in Athen, wo die 27-Jährige als Sales-Account-Managerin für die US-amerikanische Firma Cisco arbeitet. Das Telekommunikationsunternehmen hatte sich bereit erklärt, den Piloten in einer ersten Erprobungsphase von Venywhere zu spielen, und Mitarbeiter:innen aus verschiedenen Standorten für einige Monate nach Venedig entsandt.
Die Firma zahlte das normale Gehalt und den Aufenthalt, die erste Phase des Projekts ist abgeschlossen, ob es weitergeht, ist zum Zeitpunkt des Gesprächs unklar. Sonstige digitale Nomad:innen kommen nicht in diesen Genuss: Wer arbeitet, zahlt seine Miete in der Regel vom Gehalt.
Kalopoulou erzählt nach Feierabend im Frühsommer enthusiastisch von ihren Erfahrungen, sie sieht sich als Teil der Community der digitalen Nomad:innen: „Für junge Leute ist es attraktiv, so zu arbeiten“, sagt sie. „Arbeit ist kein Ort, wo man hingeht, sondern etwas, was man macht.“ Es sind fast klischeehaft klingende Sätze, die der Begeisterung geschuldet sein mögen, Teil eines interessanten Experiments zu sein.
Overtourism eindämmen
Sie brauche keine Grünpflanzen im Büro, sondern gutes technisches Equipment – Kalopoulou empfiehlt dringend Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung. Zu Beginn hat die Griechin sich mit Eifer in einen Workshop zum Kennenlernen der Stadt gestürzt – Interviews mit Kioskbesitzer:innen, Taxifahrer:innen geführt. „Man muss sich zugehörig fühlen und deswegen auch etwas zur Gemeinschaft beitragen.“
Draußen keinen Müll hinterlassen, der dann in den Kanälen landet, das ist ihr wichtig. Kalopoulou hat einen Sprachkurs besucht und die internationale Zusammensetzung der Belegschaft genossen im Forschungsinstitut nahe des Arsenale, wo sich ihr temporärer Arbeitsplatz befindet. Venedig sei autofrei und sicher, alles zu Fuß gut machbar. Inzwischen hat Kalopoulou Venedig wieder verlassen, ihr Fazit fällt positiv aus.
Cisco ist ein global aufgestellter Konzern, der während der Pandemie viele Büros geschlossen oder die Arbeitsplätze umgestaltet hat: In Zukunft wird man sich in vielen Firmen den Arbeitstisch umschichtig teilen müssen. Doch die Frage, wie man die Arbeit ökonomisch, angenehm und produktiv zugleich gestaltet, stellen sich seit Beginn der Pandemie viele Unternehmen.
Massimo Warglien will Venywhere innerhalb von drei Jahren zum Laufen bringen. Beginnen will man mit etwa 50 ernsthaften Anwärter:innen. Wer sich nur auf der Webseite registrieren will, muss dafür nichts zahlen. Erst wenn man einen der Dienste in Anspruch nimmt – das Einsteigerpaket für die Vermittlung von Sprachkursen, medizinische Versorgung, Hilfe bei Schulfragen oder Kinderbetreuung oder die Vermittlung einer Wohnung – fallen Gebühren an.
„Man muss dem Übertourismus der Stadt etwas entgegensetzen“, sagt Warglien. „Natürlich wird es in Venedig immer Touristen geben, aber man muss die Dimensionen begrenzen.“ Dafür müsse die Stadt sich beleben, verjüngen, wachsen, lebenswert und lebenstauglich sein. Warglien weiß von vielen Venezianer:innen, die „gerne zurückkommen würden, um in ihrer Heimatstadt zu arbeiten“. Und sei es nur für eine Zeit.
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