Vater über Festnahme von 15-Jährigem: „Er ist Opfer von Polizeigewalt“
In der vergangenen Woche nahmen acht Beamt*innen den Schüler Kadir H. brutal fest. Vater Baki H. fragt sich, wie die Situation so eskalieren konnte.
taz: Wann haben Sie von dem Einsatz gegen Ihren Sohn erfahren?
Baki H.: Sehr schnell. Ich wartete auf meinen Jungen, der von der Schule gleich nach Hause kommen wollte. Als er nicht kam, rief ich ihn gegen 13.30 zweimal an. Er ging nicht an sein Handy. Da wurde mir schon das Video gesendet. Ich war geschockt, man sieht, wie entsetzlich mein Sohn in der Situation überfordert war. Acht Polizist*innen reden und schreien und wirken gewaltsam auf ihn ein. Die Polizei hat ihn am Hals gepackt und ihm ins Gesicht gegriffen, dabei wurden sein Mund und seine Nase zugedrückt. Außerdem wurde sein Kopf stark nach hinten gegen die Wand gedrückt. So begann die eigentliche Eskalation, er schubste sich frei. Er war sehr ängstlich und wurde panisch, er ist Asthmatiker. Bald danach kam dann ein Anruf von der Polizei.
Sie sind dann zur Wache?
Ja, mit einer Freundin, da ich für solche Situationen nicht ganz so gut Deutsch spreche, und einer Frau vom Jugendamt, da ich nicht wusste, wo ich sonst schnell Hilfe bekommen könnte. Ein Polizist erklärte mir gleich, dass mein Junge ein fetter Sack sei, nicht mal trainiert. Da er so schwitzig sei, sei er kaum zu bändigen gewesen. Eine Polizistin sagte mir dann, dass er eine Ordnungswidrigkeit begangen hätte und seine Personalien nicht ermitteln lassen wollte.
Die Polizei sagt, dass Ihr Sohn nicht für deeskalierende Vorschläge zugänglich war und letztlich handgreiflich wurde. Was hat er Ihnen gesagt?
Er berichtete mir, dass er gerade von der Straße mit dem Roller auf dem Gehweg in Höhe des mittlerweile übermaltem Graffitos „I can’t breathe“ gefahren sei, weil die Straße da gerade nicht befahrbar gewesen sei. Da habe ihn ein Polizist gestoppt und gesagt, er hätte eine Ordnungswidrigkeit begangen. Kadir hat das wohl nicht wirklich verstanden. Auch nicht, dass seine Personalien nun unbedingt festgestellt werden müssten. Der Polizist behauptete, dass Kadir schon mehrmals ermahnt worden sei. Kadir sagte mir jedoch, er habe dem Polizisten mehrfach gesagt, dass er ihn verwechsle. Im Video ist das nicht zu sehen.
Und dann?
Er stellte den Roller ab, und da waren dann schon weitere Polizist*innen da und gingen ihn an. Er wehrte sich. Das ist auf dem Video auch zu sehen. Er steht dann mit dem Rücken an der Wand vor vier Polizist*innen, die auf ihn einreden. Einer zieht einen Schlagstock, weitere vier Polizist*innen kommen. Er wird angeschrien, er solle sich auf den Boden legen. Ob er da schon das Pfefferspray abbekommen hat, weiß er nicht mehr. Kadir sagte, er habe keine Luft bekommen, was auch im Video mehrfach zu hören ist. Wie viele ihn auf die Straße drücken, als er sein T-Shirt auszieht, um damit das Pfefferspray abzuwischen, kann er nicht sagen.
Wie ging es Ihnen, als sie das Video sahen?
Was soll ich da sagen? Das ist mein Kind, mein Sohn, gegen den Gewalt ausgeübt wird. Von acht Polizist*innen. Um 16 sind wir zum Arzt wegen des Pfeffersprays. Augen, Hals, Arme und weitere Körperstellen schmerzten.
War Ihr Sohn vorher schon mal mit der Polizei aneinandergeraten?
Nein, er hatte vorher sogar überlegt, ob er selbst Polizist werden wollte. Er hatte sich mehrere Boxvereine angesehen – ihm gefiel auch der Polizei-Boxsportverein.
In den Medien wurde er als „Boxer“ bezeichnet.
Das ist falsch. Er wollte mit dem Boxtraining anfangen, das heißt, er hat sich das angeschaut. Wegen Corona gab es kein Training. Die Idee mit dem Boxen kam vom Jugendamt, wegen einer Auflage, damit er aktiver und körperlich fitter wird. Weil er introvertiert ist und so ein Austausch mit anderen Jugendlichen hilfreich wäre.
58, ist Fahrer und alleinerziehender Vater zweier Söhne. Er wohnt seit 22 Jahren in der Hamburger Neustadt.
Sie haben den Kontakt zum Jugendamt angedeutet. Was ist der Hintergrund?
Eine dumme Geschichte, die ich als Vater leider nicht so ernst genommen habe. Im Oktober letzten Jahres hatten Schulkolleg*innen meines Jungen Streit mit Schüler*innen einer anderen Schule. Sie gingen zu der Schule, um „das zu klären“. Kadir war unbeteiligt an dem Streit. Ein Lehrer und der Hausmeister trennten die Gruppen. Alle Schüler*innen liefen weg. Nur Kadir nicht, da er nicht beteiligt war. Ein Lehrer hielt ihn fest. Hinzukommende Schüler zogen ihn weg. Dabei verletzte sich der Lehrer an einem Finger. Er zeigte Kadir an. Das Gericht ordnete ein Anti-Aggressionstraining an, um das wir uns eben bemühen mussten.
Im Video ist zu sehen und zu hören, dass Anwohner*innen entsetzt sind, sie rufen auch das Alter Ihres Sohnes.
Die Menschen hier kennen meinen Jungen, sie haben ihn aufwachsen sehen. Er ist kein „Boxer“ wie die Bild getitelt hat, und er ist auch kein Schläger. Er ist ein Opfer von Polizeigewalt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
HTS als Terrorvereinigung
Verhaftung von Abu Mohammad al-Jolani?