Unwort „Asylreform“: Die Deutung der anderen
Die Verschärfung des Asylrechts in der EU wird als "Reform" verkauft. Klingt gut, oder? Medien übernehmen den Spin der Politik kritiklos.
R eform ist ein schönes Wort. Es bedeutet Erneuerung, wörtlich eigentlich Wiederherstellung. 1957 war so ein Jahr, als das Wort seine semantische und auch klangliche Schönheit unter Beweis stellen konnte: Die damalige Rentenreform beendete oder linderte zumindest die extreme Armut unter Millionen Rentnern in der Bundesrepublik, weil sie die Rentenhöhe an die Lohnentwicklung koppelte, was vorher nicht der Fall war. So gewann Konrad Adenauer die nächste Bundestagswahl, aber das ist eine andere Geschichte. Reform – eine tolle Sache.
Seit einiger Zeit aber kleben Politiker, politische Spindoktoren und leider auch Medien das hübsche, Fortschritt suggerierende Wort gedankenlos an politische Entscheidungen, die für diejenigen, die es betrifft, eher eine schlechte Nachricht sind. Hartz IV war staatlich-offiziell gesehen eine „Sozialreform“, die aber bedauerlicherweise bedeutete, dass Arbeitslose nur 345 Euro bekamen und unter Sanktionsandrohung in meist sinnlose Maßnahmen gesteckt wurden.
Jetzt haben wir eine „Asylreform“ – Tagesschau, Spiegel, Zeit und auch hier und da die taz benutzen das Wort und übernehmen damit die Deutung – neudeutsch: „Framing“ – der politischen Entscheider. „Asylreform“ klingt nach Verbesserung, Entschlusskraft und Fortschritt.
Das mag der Fall sein für die Orbáns und Melonis der EU und hiesige Politiker, die Angst vor dem Höhenflug der AfD haben. Für sehr viele Asylsuchende bedeutet der Brüsseler Beschluss (schon klar, er muss noch durch das EU-Parlament) aber keinen Fortschritt – ihre Chance, ein faires Asylverfahren zu bekommen, dürfte damit künftig rapide sinken. Auch für Familien mit Kindern wird er einen Zwangsaufenthalt in abgeschotteten „Zentren“ bedeuten und eine mögliche Abschiebung in als sicher deklarierte Staaten wie die in Nordafrika.
Medien sollten sorgfältig mit Sprache umgehen, denn wer soll es sonst tun. Begriffe prägen die Sicht, mit der die Öffentlichkeit auf politische Entscheidungen blickt – es ist nicht der Job der Medien, die Spins der Politik kritiklos zu übernehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen