Unterwegs mit dem 9-Euro-Ticket: Reisen für alle ohne Angst
Über 13 Stunden fuhr unser Autor mit dem 9-Euro-Ticket durchs Land – für ihn eine Frage des Prinzips. Auch, weil er Jahre ohne Fahrschein war.
A lle reden über das 9-Euro-Ticket. Aber kennen Sie das 0-Euro-Ticket? Das gibt es schon länger. Wenn man von A nach B muss, aber nicht genug Geld hat, wählt man dieses Ticket nicht freiwillig, sondern weil man muss. Wenn es dann blöd läuft, kostet es auf einmal 60 Euro oder mehr. Und auch wenn es am Ende bei 0 Euro bleibt, hat es emotionale Kosten, über die sich Menschen, die regelmäßig mit 100-und-mehr-Euro-Tickets im schnellen, weißen Zug durch Deutschland reisen, nur wundern können.
Wer aus Gründen, die er nicht beeinflussen kann, das 0-Euro-Ticket gebucht hat, der lernt Tricks kennen, um Begegnungen mit Schaffnern zu vermeiden: Ausweichen in Doppeldeckerzügen, Verstecken in Klos, geschicktes Aus- und Wiedereinsteigen bei Zwischenhalten.
Anfang Juni kaufe ich mir wie bisher 16 Millionen andere Menschen das 9-Euro-Ticket. Weil ich das 0-Euro-Ticket-Fahren in Regionalzügen aus einem vergangenen Lebensabschnitt gut kenne, schickt mich das 9-Euro-Ticket nicht nur auf Deutschland-, sondern auch auf eine Zeitreise. Vorher und danach begegne ich immer wieder Menschen, denen das Ticket als Witzvorlage dient: „Ich fahre am Wochenende nach XY“, „Etwa mit dem 9-Euro-Ticket?“, „Haha, natürlich nicht, da wäre ich ja ewig unterwegs!“ Ich bin tatsächlich ewig unterwegs. Über 13 Stunden von Berlin nach Südbayern. Weil das 9-Euro-Ticket für mich eine Frage des Prinzips ist. Was wiederum mit 0-Euro-Ticket-Erfahrungen zu tun hat.
Was mir auf der Fahrt immer wieder durch den Kopf geht: Das 9-Euro-Ticket mag keine Antwort auf alle Probleme sein, aber es ist revolutionär insofern, als dass es dem 0-Euro-Ticket sehr nahe kommt, aber eben ohne Stress und Teuerungsrisiko. Der Regionalzug zwischen Leipzig und Nürnberg ist voll. Es gibt wenig Platz, aber viele Menschen witzeln darüber, kommen ins Gespräch über das 9-Euro-Ticket, reichen einander Taschen, versuchen, einander Platz zu machen.
Euphorischer Hinweg, ernüchternder Rückweg
Als der Zug im Bahnhof Jena Paradies einfährt, fühlt es sich an, als wäre ich Teil eines utopischen Experiments. In Bamberg frage ich mich, ob das ein Vorgeschmack auf die klassenlose Gesellschaft, zumindest auf egalitäre Mobilität ist: Reisen für alle, ohne Angst.
Aber auf den euphorischen Hinweg folgt ein paar Tage später ein ernüchternder Rückweg. Im Regionalzug von Salzburg nach München zieht die Polizei bei Grenzkontrollen ein paar junge Männer raus und demonstriert, wie weit entfernt jene Gesellschaft ist. Als der Zug weiterfährt, mit Menschen, die sich nicht über Polizeikontrollen, sondern Verspätungen ärgern, bekommt eine Frau in der Enge Atemnot und muss aussteigen. Bei anderen löst die Überlastung des Zugs Ellenbogenreflexe aus. Die Stimmung droht zu kippen. Ich halte bis München durch und steige dann in einen ICE, wo das 9-Euro-Ticket nicht gilt. Ohne Angst, weil ich Glück hatte und heute nicht mehr auf das 0-Euro-Ticket angewiesen bin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau