Unterwegs in der russischen Provinz: Die Magie des Fremden
Die ehrliche, ungeschönte Direktheit, den lakonischen Zynismus gegenüber dem Leben, die Härte und die Wärme – unsere Autorin liebt Russland.
Wenn ich auf das Foto schaue, fällt mir auf, dass wir unsicher aussehen. Zusammengewürfelt, eine dieser flüchtigen Reisebegegnungen zuerst, zusammengeprallt für einen Wimpernschlag. Ich stehe auf einer bescheuerten Attrappe eines hölzernen Wikingerbootes in der russischen Kleinstadt Kungur im Westen des Urals. Nina steht neben mir, sie schaut ernst, ja, neben mich gewürfelt. Ich lächele ein bemühtes Fotolächeln. Die beiden Schwestern Nina und Mascha sprachen nur Russisch, ich konnte damals so gut wie keines. Es hätte eine Begegnung werden sollen wie so viele auf Reisen, Magie für ein paar Tage, zufällig, eine Erzählung für eine Kolumne, nicht fürs Leben. Es wurde etwas anderes. Und ich verliebte mich in ein Land.
Empfohlener externer Inhalt
Kungur, eine Kleinstadt, laut Wikipedia etwa 60.000 EinwohnerInnen, war kein besonderer Ort. Orthodoxe Kirchen, ein Bahnhof, Provinzruhe, der obligatorische Fluss, der träge hindurchfloss. Eine berühmte Eishöhle. Es war ein Sommer vor bald zehn Jahren, das Wetter kühl und verhangen. Ich hatte gerade mein Auslandssemester in Russland begonnen; ich fuhr mit der Transsibirischen Eisenbahn von West nach Ost durchs Land. „Vor dem Baikalsee musst du nicht aussteigen“, hatte mein Unibetreuer trocken kommentiert. „Außer dem gibt es nichts zu sehen.“ Er war Georgier.
Er lag falsch. Ich ging durch gottverlassene Dörfer mit Holzhütten, einer Straße, dem Nichts. Ich schlief im Bahnhofsgebäude. Viele Birken an der Strecke, Moor, endloser Wald, Provinz. Ta-tum, ta-tum, wiegt die russische Eisenbahn in den Schlaf. Es ist ein unendlich beruhigendes Geräusch. Einmal stieg ich in Kungur aus.
Es gibt Länder und Kontinente, die machen es einem leicht. Südamerika ist so einer. Jeder dahergelaufene Backpacker liebt Südamerika. Die Strände und die Regenwälder, die Lebensfreude und die Bars und den Tanz, die spanische Sprache und die schönen Männer und Frauen. Jeder findet es cool, weil es jeder cool zu finden hat. Es ist leicht. Instagrammable.
Wir haben unsere Autor*innen gebeten, die Reise, die sie besonders beeindruckt und ihre Weltlust geschürt hat, aufzuschreiben. Die sechste Folge unserer Serie beschreibt die Begeisterung für Russland. Die Illustrationen von Eléonore Roedel setzen die Reisen unserer Autor*innen vielfältig, fantasievoll und eigensinnig ins Bild.
Fette Suppen und Teigtaschen
Russland ist schwerer zu lieben. Es ist kalt, man braucht ein Visum, es gibt keine Hostels mit Hängematten oder junge TouristInnen in Pluderhosen. Stattdessen reihen sich in den Außenbezirken heruntergekommene Hochhäuser und Minimärkte aneinander, die bestuckten Gebäude im Zentrum wirken auf WesteuropäerInnen immer eine Nummer zu viel, zu protzig. Das Essen besteht im Wesentlichen aus fettigen Suppen und Variationen von Teigtaschen, und jenseits der Großstädte gibt es Wald, Wald, Wald und schlichte, wenig pittoreske Dörfer. Unter den ausländischen StudentInnen lachten wir über die Schokolade mit dem grusligen Kind drauf, über die 24-Stunden-Blumenläden und die sinnlosen Jobs der Rolltreppenkontrolleurinnen. Überheblich und ratlos. Es war wie ein Land, das ganz in sich selbst existierte, in einer eigenen Zeitrechnung.
Die meisten StudentInnen fuhren nie aus der Großstadt raus und konnten bis zuletzt nicht mehr sagen als spasibo, danke, und saschigalka, Feuerzeug. Die Insel, die wahre Insel, waren wir. Ich weiß nicht, warum ich diese Insel verließ. Wenn ich nett zu mir sein will, würde ich sagen, weil ich das selbstverliebte Desinteresse hasste. Es lohnte sich, zu verstehen. Ich habe selten irgendwo großzügigere und interessiertere Menschen kennengelernt als in Russland.
Was sie fragten, wollten die meisten wirklich wissen, und die Bitte, in Kontakt zu bleiben, war nie Floskel. Sie pflegten oft völlig andere Ansichten, aber nicht dogmatisch. Viele waren umsorgend, spontan und witzig, das deutsche Klischee vom distanzierten, kühlen Russen ist übrigens völlig idiotisch. Ungeschönte Direktheit, lakonischer Zynismus gegenüber dem Leben, handwerkliches Selbermachen, die Härte und die Wärme blieben hängen. Nie wurde ich so oft von Fremden eingeladen wie auf den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Tragik der Diktatur, Misstrauen, Armut, Güte und Schönheit im Kleinen waren so nahe beieinander.
In Kungur fragte ich mit den drei Worten, die ich konnte, PassantInnen nach „Hotel, nicht teuer“. Die beiden, die ich ansprach, waren Mascha und Nina. Und als sie nichts wussten, was sie überzeugte, nahmen sie mich mit nach Hause. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in diesem Leben begegnet wären, war gleich null. Sie waren keine wohlhabenden oder weltgewandten Leute. Weder die beiden Schwestern, etwa in meinem Alter, noch ihre Eltern waren je im Ausland gewesen. Aus finanziellen Gründen vor allem, und auch weil es für die beiden jenseits der Vorstellung und organisatorischen Wissens lag. Heute bemerkt Nina mit dem ihr eigenen milden Sarkasmus, dass ich mehr von Russland gesehen habe als sie. Sie war nicht mal in Sankt Petersburg.
Neue Freunde
Es ist schwer, das Fremde, das andere Milieu nicht zu verkitschen. Aber natürlich lag in diesem völligen Fremden auch eine Magie. Es gab Wurst mit saurer Sahne zum Frühstück, ich wurde in die russische banya, Sauna, in ihrem Garten geschickt, in der ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte, sie lachten. Der Vater spielte für uns Gitarre bei diesem ersten Besuch, die zurückhaltende Mutter war schon damals krank. Sie starb kurze Zeit später an Krebs. Mascha war die Stille und Sanfte, Nina die Abenteuerlustige mit scharfer Beobachtungsgabe. Und aus einer Frage „Hotel, nicht teuer?“ wurde eine Freundschaft auf Zeit.
Mit Mascha fuhr ich in ein Kloster, wo sie Namen von Menschen auf einen Zettel setzte und zahlte, damit ein Mönch für sie betete. Und zur Baustelle des Hauses, das sie mit ihrem Mann von migrantischen Bauarbeitern bauen ließ und das auch zehn Jahre später nicht fertig wurde. Nina, die Extrovertiertere und Pragmatische, arbeitete als Krankenschwester, hörte Rammstein und hatte immer vage davon geträumt, nach Deutschland zu reisen. Dass sie nun wirklich eine Deutsche traf, war eine dieser seltsamen Wendungen im Leben.
Bei späteren Besuchen war sie es, die die politische Lage und Kultur in Russland kritisierte, aber nach den impliziten Regeln, denen ich oft begegnete: Kritisieren tun wir selbst, nicht ihr von außen. Sie konnte auch unbequeme Bemerkungen über Europa machen. „Für die Schwarzen in den USA geht ihr auf die Straße“, schrieb sie mir einmal, „aber dass wir in Russland bis ins 19. Jahrhundert Leibeigenschaft hatten, das interessiert euch nicht, weil wir weiß sind. Meine Vorfahren waren wahrscheinlich Sklaven.“
Sie hatte natürlich recht, das interessierte in Deutschland niemanden. Erst Wikipedia sagte mir, dass Kungur einst eine Siedlung für flüchtige Leibeigene war. Neben ihrer Wut auf die Umstände, „dass wir hier wie Kühe gemolken werden“, fiel mir aber auch immer wieder die Resignation auf. Ein völliger Unglaube daran, dass sich je etwas ändern würde. Als Anfang 2021 Tausende für Alexei Nawalny auf die Straßen gingen, ging Nina nicht. „Ich glaube, dass das nichts bringt“, schrieb sie. „Ja, das Land leidet unter dem Staat und der Regierung, aber wenn ich ehrlich bin, sehe ich keinen Ausweg. Wir haben gelitten und werden immer leiden, unter jeder Regierung. Die Reichen fordert niemand heraus und sie werden an der Macht bleiben, und wir werden ihr Stück Fleisch bleiben.“
Neues Verständnis
Es sind Konstanten, die im deutschen Mainstream wenig verstanden werden. Ein anderes Mal schreibt sie: „Ich möchte gern an eine bessere Zukunft glauben. Aber einen Machtwechsel gibt es nur mit Blutvergießen, und das will niemand. Die Erfahrung der Nachbarländer macht mir Angst.“ So bleibt alles, wie es ist.
Nach Hause eingeladen zu werden, ist ein Geschenk auf Reisen. Und eines, das vor allem dann passiert, wenn man allein reist und dahin geht, wo vorgeblich nichts zu sehen ist: in einem Hochhaus in Usbekistan bei der liebevollen aserbaidschanischen Familie, wo ich mit den Männern ein Kartenspiel spielte, das ich nie kapierte; bei einem Hirten in Kirgisistan, der mit seiner kleinen Tochter tanzte und mir ein Spielzeug aus Schafknochen schenkte; bei Bauarbeitern in Kasachstan, wo wir zu einem Salzsee fuhren und sie mir Flamingos zeigten; in Tunesien, als ich mit einer Freundin mit den Jungs vom Hotel zu ihrer Wohnung am Stadtrand fuhr, wo wir ein Huhn schlachten ließen und erfuhren, wie arm selbst Hotelangestellte lebten; die Familie in Brasilien, die mich während der WM spontan zum Mittagessen einlud; ein Abend im Camp französischer Gelbwesten und die Begegnung mit einem tunesischen Gelegenheitsarbeiter, die in einer Freundschaft und Jahre später einem Besuch bei seiner Familie mündete.
Eine Freundschaft mit einem Paar in Sankt Petersburg, dem der Bildungsaufstieg gelang. Einladungen sind immer auch eine Gratwanderung, denn oft sind die Leute arm, und manchmal hoffen die Männer auf nicht unbedingt einvernehmlichen Sex, oder auf Flucht durch Heirat, und nicht immer gerät man an nette oder ehrliche Leute. Manchmal geht es sehr schief. Ich fand es das Risiko trotzdem immer wert. Aber es ist eine soziale Gratwanderung – wo manche TouristInnen in irgendein Dorf fahren in der Hoffnung, eingeladen zu werden, ein vermeintlich authentisches Erlebnis. Selbst die Gastfreundschaft ist dann ein Event, eine Ware. Etwas zum Angeben.
Kontakt halten
Und oft folgt danach: nichts. Man ist auf anderen Reisen, oder wieder in Deutschland, mit anderen Dingen im Sinn. Kontakt wollen die halten, die zurückgeblieben sind. Es ist Zeichen eines sehr ungleichen Machtverhältnisses: die Reisenden und die Prekären. Die, die täglich fremde Menschen treffen und für die jede Jurte bloß eine Anekdote in der westeuropäischen Traveller-Runde ist, und die, deren Horizont sich plötzlich massiv veränderte, die nach dem Fenster zur Welt greifen, das sich vor den Augen wieder schließt. Auch Nina und ich schrieben uns immer mal wieder. Ich war noch mal zu Besuch, ich bekam am Rande mit, wie sie nach Jekaterinburg heiratete und zwei Söhne bekam, aber ihre ständigen Einladungen empfand ich damals als mühsam. Es gab so viele andere Länder zu sehen. Warum wiederkommen? Man kommt nicht wieder.
Erst später verstand ich, wie idiotisch das war. Mir war auch nicht bewusst, was Länder auch mit Reisenden machen. Dieses Land gerade. Dass ich lächelte, wenn ich 24-Stunden-Blumenläden und Gruselkindschokolade sah, nicht mehr, weil ich es lächerlich fand. Ein Land, das nicht darum bat, geliebt zu werden, und sich nicht sofort erklärte, sondern Geduld verlangte. So eigen wie eine Insel, schön und manchmal schrecklich und großzügig.
Mit meinem Freund war ich einmal drüben am Baikalsee, ein paar Tage nur, meinen irrenden Unikoordinator im Ohr, dass der Baikalsee das einzig Passable hier sei. Ich sagte Markus sinngemäß, es werde ihm wahrscheinlich nicht gefallen, es sei nichts Besonderes, Russland – oder vielleicht habe ich das auch nur im Stillen gedacht. Kurze Zeit später sagte er, „weißt du, von allen Ländern, wo wir waren, mochte ich Russland am liebsten“. Und ich war glücklich. Ich hatte wohl lange darauf gehofft. Ich hatte es mir nur nie eingestanden.
Der Gegenbesuch
So besuchten wir Nina und Mascha und die Kinder wieder, gemeinsam. Ich war unsicher, dass wir vielleicht nicht wissen, worüber wir reden sollen, oder nicht harmonieren, jetzt, wo ich die Sprache verstehe. Nina erzählte später, dass sie ähnliche Sorgen gehabt hatte. Nur Mascha, die Sanfte, schien unbesorgt. Sie bemerkte verträumt: „Deutsche Sprache klingt wie Musik.“ Und es gab einen Wunsch, den wir endlich ernsthaft erfüllen wollten: Nina und ihre Familie für einen Urlaub nach Deutschland zu holen, die Reise, die sie sich erträumt hatte, seit sie 15 war.
Sie sparten für Flugtickets, wir würden alles andere übernehmen. Sie bestellten zum ersten Mal im Leben Reisepässe, und wir machten große Pläne. Sie waren sehr nervös, ich auch. Wir waren jetzt die, die einluden, und zum ersten Mal begriff ich, was es bedeutete, Wartende zu sein, verletzlich in der Hoffnung. Ich würde, schwor ich mir, niemandem mehr vage Besuchsversprechen machen.
Dann kam die Pandemie. Ja, wirklich. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir ausgerechnet 2020 für den Besuch ausgewählt hatten. Bis zuletzt hoffte ich darauf, sie nicht. „Wenn uns etwas Gutes passieren soll, klappt es nie“, schrieb Nina mit einem traurigen Gesicht und einem Smiley. Es war eine sehr typische Antwort für sie, vielleicht auch eine sehr russische Antwort auf Unheil. Manchmal ist es gut, nicht allzu viel vom Leben zu erhoffen. Aber wenn ich eines hoffe, dann dass wir dafür eine zweite Chance bekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag