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Unterricht in der CoronakriseSchule als Feldversuch

Ralf Pauli
Kommentar von Ralf Pauli

Noch vor den Ferien den Vollunterricht erproben? An die Lehrer:innen über 60 denkt dabei niemand.

Klassenzimmer in NRW: Bald sollen die Stühle hier wieder besetzt sein Foto: Jonas Güttler/dpa

W elche Corona-Ansteckungsgefahr von Kindern ausgeht, darüber streiten derzeit Virolog:innen. Dennoch haben die Bundesländer erstaunlich wenig Bedenken, auch ohne wissenschaftliche Gewissheit die Schulen für ein großes Experiment zu öffnen: Führt die Rückkehr zum normalen Unterricht dazu, dass sich das Corona-Virus wieder stärker ausbreitet? Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein haben sich schon bereit erklärt, diese Wette einzugehen. Auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) forderte am Wochenende, nach den Sommerferien zum „vollen Unterricht“ zurückzukehren.

Man kann Verständnis für diesen Schritt aufbringen, schließlich ist der Leidensdruck in den Familien und bei den Schüler:innen hoch. Und die Infektionszahlen, da sind sich die Virolog:innen einig, geben das Wagnis auch her. Der Kieler Infektionsmediziner Helmut Fickenscher plädiert sogar für eine schnelle „Erprobungsphase“ noch vor den Ferien. Und legitimiert damit die Ankündigung der Schleswig-Holsteiner Regierung, die Grundschulen schon ab kommender Woche komplett zu öffnen. „Das ist besser, als nach den Ferien ohne eine solche Erprobungsphase ins neue Schuljahr zu starten“, sagte Fickenscher der dpa.

Klingt plausibel. Doch leider wird in dem großen Feldversuch eine Gruppe gar nicht berücksichtigt: die der Lehrer:innen. Wie wenig ernst die Politik deren Sorgen nimmt, hat man zuletzt in Nordrhein-Westfalen gesehen. Dort verpflichtete FDP-Schulministerin Gebauer auch Lehrer:innen über 60, mündliche Abiturprüfungen abzunehmen. Das sorgt für Irritation – und führt unter Umständen dazu, dass sich Lehrkräfte aus Selbstschutz krankmelden.

In Zeiten überalteter Kollegien keine rosige Aussicht. Statt ihr Personal zu verprellen, könnten sich die Ministerien ja um zeitweisen Ersatz bemühen. Etwa bei gesunden Lehramtsstudierenden, die statt im digitalen Frust-Semester ihre Zeit lieber an einer Schule verbringen würden. Man müsste sie halt anständig bezahlen. Aber am Geld kann es in Zeiten von Corona-Staatshilfen in Milliardenhöhe ja nicht liegen.

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Ralf Pauli
Redakteur Bildung/taz1
Seit 2013 für die taz tätig, derzeit als Bildungsredakteur sowie Redakteur im Ressort taz.eins. Andere Themen: Lateinamerika, Integration, Populismus.
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3 Kommentare

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  • In Niedersachsen sind an einigen Schulen 50% der Kollegen zuhause, weil die Altersverteilung das so hergab und die Regierung erst mal gesagt hat: "Bleibt halt zuhause". War egal, die Schüler waren ja auch zuhause.



    Jetzt sagt sie: "Oops, das geht jetzt nicht mehr - kommt alle wieder."



    Aber immerhin sollen die Lehrer Mundschutz tragen. Die Schüler dürfen, müssen aber nicht.

  • Was ich vor allem nicht verstehe, ist, dass es in Klassenräumen keine Mundschutzpflicht geben soll. Wir lernen doch gerade, dass Aerosole auch eine große Rolle bei der Corona-Übertragung spielen; und die sind gerade in geschlossenen Räumen gefährlich, weil sie da nicht vom Wind davongeweht werden.

    Auch 1,5 Meter Mindestabstand helfen da wenig, und mehr wird in Klassenräumen sicherlich nicht zu realisieren sein. Selbst wenn man gründlich auf Symptome achtet – gerade bei Kindern und Jugendlichen wird es viele asymptomatische Verläufe geben, die trotzdem ihre Lehrer*innen gefährden.

    Und was die mündlichen Abiturprüfungen angeht: Kann man die nicht auch per Videokonferenz abhalten? Gut, die Prüflinge müssten in der Schule erscheinen, und mindestens ein*e Beisitzer*in müsste vor Ort sein um sicherzustellen, dass sie nicht spicken. Aber Prüfer*innen könnte man doch ohne Weiteres über Computer zuschalten.

    Persönlich finde ich ja, dass jede*r außerhalb der eigenen vier Wände Mundschutz tragen sollte. Zumindest sollte er aber in allen geschlossenen Räumen verpflichtend sein, und das gilt auch für Schulen. Ob das mit Kita-Kindern gut zu realisieren geht, kann ich nicht sagen. Aber Sechsjährige sind alt genug, um ihre eigene Verantwortung für die Gesundheit ihrer Mitmenschen zumindest ansatzweise zu verstehen.

    • @Smaragd:

      Ich finde Ihre Vorschläge absolut nachvollziehbar. Was v.a. jetzt getan werden sollte, ist, mehr Personal zu rekrutieren. In Normalzeiten ist die Unterrichtsversorgung nicht gewährleisestet und die Lehrer schieben riesige Bugwellen an Überstunden vor sich her. Wenn wir mehr Personal hätten und die Klassen deutlich kleiner wären, hätten wir heute nicht so viele Probleme.



      Das gleiche gilt für Krankenhäuser. Mit höheren Gehältern und geringerer Arbeitsbelastung könnte man natürlich auch mehr Pflegepersonal gewinnen...