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Unruhen in Frankreich nach PolizeigewaltIn Frankreich heulen die Sirenen

Nach 6 Krawallnächten scheint sich die Lage in Frankreich zu beruhigen. Kommunalpolitiker suchen nach Lösungen, um die Spirale der Gewalt zu beenden.

Der Bürgermeister der Pariser Vorstadt L'Haÿ-les-Roses, Vincent Jeanbrun (r.) Foto: Yves Herman/reuters

Paris taz | Vor den Rathäusern der mehr als 30.000 Kommunen Frankreichs haben sich am Montagmittag Bür­ge­r*in­nen zu einer Kundgebung mit ihren Maires und Kommunalräten eingefunden. Sie folgten damit einem Appell der Vereinigung der Bürgermeister Frankreichs (AMF) an die Bevölkerung, hinter und zusammen mit den von ihnen örtlichen Volks­ver­tre­te­r*in­nen dem Chaos zu begegnen, das sich in einer Welle von gewaltsamen Unruhen im Land auszubreiten begann. Der Zentralstaat hat ihnen derzeit außer Polizeikräften wenig anzubieten.

In zahlreichen Orten heulten um 12 Uhr die für Katastrophenfälle oder militärische Luftangriffe existierenden Warnsirenen als Zeichen dieser zivilen Alarmbereitschaft, wie dies der Vorsitzende von AMF, David Lisnard, der Maire von Cannes, vorgeschlagen hatte.

„Seit einer Woche sind die Kommunen überall in Frankreich Schauplatz schwerer Unruhen, bei denen mit extremer Gewalt Symbole der Republik wie Rathäuser, Schulen, Bibliotheken oder die kommunale Polizei angegriffen werden“, sagte Lisnard. Hunderte von Kommunen sind seit Tagen in der Tat Schauplatz einer ungezügelten und ziellosen Gewalt, die in Brandstiftungen und Plünderungen kumulierte. Viele der Bür­ger­meis­te­r*in­nen waren in den letzten Tagen und Nächten in einem Katastropheneinsatz.

Die Nacht zum Montag hat immerhin bestätigt, dass sich eine gewisse Beruhigung abzeichnet. Es wurden signifikant weniger gewaltsamen Zwischenfälle und weniger Festnahmen von mutmaßlichen Randalierenden registriert. Die bisherige Schadenbilanz des Innenministeriums landesweit: 5.000 verbrannte Fahrzeuge und 1.000 in Brand gesteckten oder verwüsteten Gebäuden, 250 attackierte Polizeikommissariate oder Gendarmerieposten und 700 verletzte Beamte. Nicht aufgelistet sind die geplünderten Geschäfte.

Das Privathaus eines Bürgermeisters wurde angegriffen

Der Zentralstaat hat ihnen derzeit außer Polizeikräften wenig anzubieten

Ein dramatischer Höhepunkt der Krawallen war in der Nacht auf den Sonntag ein Angriff, der im Pariser Vorort L’Haÿ-les-Roses, einem für gewöhnlich ruhigen südlichen Vorort von Paris, dem Bürgermeister Vincent Jeanbrun galt. Unbekannte rammten mit einem Fahrzeug sein Haus, das sie anschließend mit Feuerwerkkörper beschossen. Jeanbruns Frau und eines seiner Kinder wurden dabei verletzt. Da diese persönliche Attacke zuvor mit drohenden Wandaufschriften wie „Wir wissen, wo du wohnst, du wirst verbrennen“ angekündigt worden war, hat die Staatsanwaltschaft eine Ermittlung wegen vorsätzlicher Brandstiftung und Mordversuchs eingeleitet.

Während die politische Prominenz fast ausnahmslos in der Bevölkerung wenig Vertrauen genießt, sind die Maires populär. Zugleich erwarten die Bür­ge­r*in­nen für ihre lokalen Probleme auch konkrete Lösungen. Sie haben das Gefühl, dass der Zentralstaat nur in einheitlichen nationalen Dimensionen denkt und agiert, und ihnen offenbar nichts anbieten kann. Auch nach einer erneuten Krisensitzung von Präsident Emmanuel Macron und Premierministerin Elisabeth Borne mit dem Innen- und dem Justizminister am Sonntagabend wartete man vergeblich auf eine bedeutsame Ankündigung.

Macron wirkte hilflos und distanziert und versprach „alles für die Wiederherstellung und Rückkehr zur Ruhe“ zu tun. „Weder einen X-ten Plan für die Banlieue (Vorstädte)“, wie die Linken sich erhoffen, „noch eine Kürzung der sozialen Unterstützungsgelder“ für Familien der Vorstadtsiedlungen, wie die extremen Rechten als Strafe fordern, hat er vor.

Aber der Präsident hat indes die Innenpolitik zu seiner Priorität erklärt. Die Außenpolitik kann warten, wie sein verschobener Staatsbesuch in Deutschland gezeigt hat.

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9 Kommentare

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  • Nu, einen offiziell abgefeierten Staatsbesuch eines franzöischen Präsidenten im Nachbarland Bundesrepublik, mit Ehrengarde und Bundespräsi, das können wir ruhig unter Folklore verbuchen, bestimmt nicht unter 'Außenpolitik'. Mensch hat sich x-fach getroffen in den letzten Monaten, trotz anfänglicher Nicht-so-Sympathie zwischen Macron und Scholz, und da gab und gibt es zudem fortlaufend Treffen im Rahmen von EU, NATO, ... Und all das hat vielleicht auch Koopreation oder Kontroverse über die gemeinsame Außenpolitik zum Thema, als solches is sowas aber lang lang schon schlicht innenpolitischer Alltag (in) der EU.

  • Wieso wird denn bei der Taz in keinem Artikel den ich gefunden habe, im Gegensatz zu anderen Zeitungen wie Zeit, Tagesspiegel, Spiegel oder der Faz, mit keinem Wort der im Zusammenhang der Unruhen ums Leben gekommene Feuerwehrmann erwähnt?

  • Die einzige langfristige Lösung wäre ein Präsident aus den Banlieus, der es nach oben geschafft hat. Jemand, der endlich Lösungen bieten kann und damit allseits akzeptiert wird. Das bislang elitäre System würde damit auf den Kopf gestellt, aber ohne soziale Durchlässigkeit gibt es keinen Frieden.

    Leider ist so eine Person nicht in Sichtweite. Stattdessen bahnt sich im bislang größten Land Westeuropas der nächste Rechtsruck an.

    • 6G
      665119 (Profil gelöscht)
      @Zugpferd:

      Die Idee hat Houllebeqc in "Soumission" schon durchgespielt...

  • Wer spricht denn von Rechtfertigung der Zustände?!

    Dass in diesem Zusammenhang auch soziale Ungleichheit, strukturelle Rassismus und Chancenungleichheit thematisiert wird, darf meiner Meinung nicht mit Rechtfertigung von Gewalt und Zerstörungswut gleichgestellt werden.

  • Das Problem ist bekannt, es kommt gefühlt alle Jahre wieder.

    Die Jugendlichen in den Vorstädten werden durch das französische Bildungs-, Ausbildungssystem und das Berufssystem derart systematisch margnialisiert, dass viele dort einfach aufgeben oder / und ein wenig semikriminell unterwegs sind, aber selbst die, die immer legal sind, fühlen sich an den Rand gedrängt.

    Um in Frankreich eine normale, gute, faire Arbeitsstelle zu bekommen, müssen junge Menschen bestimmte Schulen, bestimmte Merkmale mitbringen.

    Meist bringen die Menschen aus den Vorstädten gar keine dieser Elemente mit. Sie sind angewiesen auf ungelernte, nicht-qualifizierte Arbeitsstellen und schwarze oder graue Strukturen. Oft landen sie auf dem grauen oder schwarzen Arbeitsmarkt und das bedeutet, sie sind außerhalb, sie kommen nicht rein.

    Sie leben am Rande der Metropolen und sie arbeiten am Rande der Gesellschaft. Interessant an diesem Aufstand ist allenfalls, dass er so planmäßig gekommen ist, dabei kommt es immer wieder zu den Zusammenstößen zwischen Polizei und jungen Menschen. Warum also gerade jetzt? Gute Frage.

    Die nächsten Programme und ein paar Euro werden da bald verteilt, evtl. wird man eine Vorstadt neu anpinseln, aber es wird alles beim alten bleiben, geht auch gar nicht anders, sonst müssten andere Franzosen absteigen, die, die viel tun für ihre Karriere. Das wird keine Regierung so mitmachen. Und bei derart fehlgesteuerten Steuer- und Ausgabenzielen kann es eigentlich nur daneben gehen. Es kann unter solchen Bedingungen sich gar nicht verbessern, allenfalls Sozialarbeiter und Projektmitarbeiter profitieren am Ende. Wer das denn durchhält und hinbekommt.

  • ..."Schadenbilanz des Innenministeriums landesweit: 5.000 verbrannte Fahrzeuge und 1.000 in Brand gesteckten oder verwüsteten Gebäuden, 250 attackierte Polizeikommissariate oder Gendarmerieposten und 700 verletzte Beamte." Was fehlt: der Mord an Nahel.

  • Diese Zustände sind mit Nichts zu rechtfertigen!



    Ein Mensch ist gestorben, das ist schlimm und gilt es rechtsstaatlich zu untersuchen.



    Deshalb die Gesamtbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und der Zerstörungswut freien Lauf zu lassen , ist keine Lösung, sondern Lust auf Chaos.



    Es ist nicht verwunderlich, dass die Regierung hier kein Allheilmittel präsentiert, denn dazu müsste es ein lösbares Problem geben.



    Gerne wird Frankreich als demokratisch und revolutionär beschrieben.



    Das ist nur Gewalt, ohne Sinn und Verstand.



    (Bürger)kriege gibt es genug.



    Diese Gewaltbereitschaft ist erschreckend und offenbar wurde nur ein Anlass gesucht, sie auszuleben.



    Ich wünsche unseren Nachbarn, dass Sie hoffentlich bald wieder ohne Angst leben können.

    • @Philippo1000:

      Wer spricht denn von Rechtfertigung der Zustände?!

      Dass in diesem Zusammenhang auch soziale Ungleichheit, strukturelle Rassismus und Chancenungleichheit thematisiert wird, darf meiner Meinung nicht mit Rechtfertigung von Gewalt und Zerstörungswut gleichgestellt werden.