piwik no script img

Undercover in Behinderten-EinrichtungenZiemlich furchtbarste Betreuer

Die RTL-Sendung „Team Wallraff“ zeigt Misshandlungen von Behinderten durch ihre Betreuer. Die Einrichtungen entschuldigen sich.

Selbst der Screenshot verstört: Eine Betreuerin setzt sich auf den Schoß ihrer Schutzbefohlenen Foto: RTL

Berlin taz | Die Betreuerin ist doppelt so breit wie ihre zierliche Schutzbefohlene. Trotzdem setzt sie sich der mehrfach behinderten Frau auf den Schoß und drückt sie mit vollem Gewicht zurück in den Sessel. Ihr Opfer kann nicht sprechen und trommelt verzweifelt mit den Fäusten auf den Rücken derjenigen, die ihr eigentlich helfen sollte. Ein weiterer Betreuer steht daneben und schaut zu.

Die TV-Szene schockiert, obwohl die Aufnahmequalität nicht gut ist und alle Gesichter unkenntlich gemacht sind. Die RTL-Reporterin Caro Lobig hat sie heimlich gefilmt. Für die Sendung „Team Wallraff“ absolvierte Lobig undercover drei kurze Praktika bei Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Die Ergebnisse der Recherchen strahlte das RTL vor wenigen Tagen aus.

Der Verein Lebenshilfe betreibt zwei der drei Einrichtungen und gibt an, von den Problemen nichts gewusst zu haben. „Die Enthüllungen kamen für die Lebenshilfen überraschend“, versicherte Bundesgeschäftsführerin Jeanne Nicklas-Faust der taz. Erst als RTL sich im Januar meldete, habe sie von Problemen erfahren.

Die Bundesvereinigung und die beiden Einrichtungen selbst haben die Vorkommnisse öffentlich bedauert. „Wir entschuldigen uns, dass es dies bei uns gab: bei unseren behinderten Mitmenschen, bei ihren Eltern und Angehörigen“, so schreibt die Lebenshilfe Speyer-Schifferstadt.

Sie rufen die Beschäftigte, als wäre sie ein Hund

Sowohl betroffene Behinderte als auch Betreuer*innen sollen sich direkt ans Fernsehen gewandt haben, statt sich intern zu beschweren. „Mich erreichen regelmäßig Zuschriften mit teils drastischen Schilderungen von Missständen in Werkstätten und Wohnheimen“, leitet Günter Wallraff die Sendung ein. Die Schilderungen sind keineswegs übertrieben, das zeigt der Rest der Sendung.

In den Rurtalwerkstätten Düren müssen die Beschäftigten eintönige Industrieaufträge abarbeiten. Caro Lobig saß als Undercover-Praktikantin in der Abteilung, die die Arbeitsagentur finanziert, mit psychisch Kranken zusammen. Offiziell werden sie hier geschult. Tatsächlich müssen sie für eine Firma Bördel-Scheiben zusammenbauen. „Das bedeutet: Gummischeiben in Deckel drücken“, erklärt Lobig trocken.

Eine weitere Filmsequenz zeigt, wie in einer Lebenshilfe-Werkstatt in Leverkusen Mitarbeiter*innen eine Beschäftigte schikanieren. Sie setzen sich ihr nicht nur auf den Schoß, sondern verbinden ihr die Augen und rufen sie, als wäre sie ein Hund. Beim Frühstück hat die junge Frau Joghurt um den Mund. Wie Sperma sehe das aus, insinuiert eine Betreuerin. Die Konsistenz passe auch, meint ihr Kollege, ebenso die Farbe: „Es ist kein ganz durchgängiges Weiß, ne.“

Hätte das Team Wallraff früher handeln sollen?

In einem Speyrer Wohnheim, das ebenfalls der Verein Lebenshilfe betreibt, sitzen die Pfleger*innen beim Rauchen auf der Terrasse, während drinnen ein geistiger behinderter Mann minutenlang schreit, weil er dringend muss.

Lebenshilfe-Chefin Nicklas-Faust gab der taz gegenüber an, dass die Betreuer*innen freigestellt sind und arbeitsrechtliche Schritte erwarten. In Speyer arbeitet eine Prüfbehörde mit dem Verein zusammen, in Leverkusen ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Die ersten Aufnahmen, in denen Werkstatt-Betreuer*innen eine junge Frau schikanieren, hat Lobig vor über einem Jahr gemacht. Hätte das Team Wallraff früher die Lebenshilfe informieren oder Anzeige erstatten sollen? „Natürlich wünschen wir uns, dass bei solchen Vorfällen schnellstmöglich informiert wird, um für die Menschen mit Behinderung schnellstmöglich Abhilfe zu schaffen“, antwortet Nicklas-Faust.

Die Recherchen hätten nicht weitergehen können, wenn man aufgeflogen wäre, begründet Günter Wallraff sein Vorgehen in der Sendung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

17 Kommentare

 / 
  • Das die gezeigten "Mitarbeiter" nicht umgehend auf die Straße gesetzt wurden, sagt eigentlich schon alles. Aber der Betriebsleitung ist es offenbar egal, wie die anvertrauten Menschen betreut werden. Hauptsache, die Kasse stimmt.

     

    So ist es nun mal, wenn soziale Aufgaben an die private Wirtschaft "outsourced" werden.

  • Ich habe jetzt keine Lust, mir irgendein RTL-Filmchen anzusehen, aber ich finde eines schon wieder sehr bezeichnend.

     

    Jeder weiß offenbar, was für einen Menschen mit geistiger Behinderung das Richtige ist. Jeder weiß, dass das ja die armen, armen Behinderten sind, die völlig wehrlos sind und dringend der Fürsprache derer bedürfen, die niemals von ihnen gebeten worden sind, für sie einzutreten.

     

    Ohne die Situation zu kennen, kann es btw sehr viele Gründe geben, sich so zu verhalten wie es die Betreuer dort im Film taten. Ich habe auch schon auf Bewohnern liegen müssen, wenn die versuchten andere anzugreifen (besonders gerne, wenn Fremde da sind, die mit der Situation nicht umgehen können).So eine Form der kurzfristigen räumlichen Begrenzung kann wesentlich sinnvoller sein wie die Leute langfristig forensisch wegzusperren oder eben andere verletzen zu lassen. Es kann auch sein, dass die uns furchtbar erscheinenden Reaktionen bewusst so gehalten worden, weil bestimmtes stereotypisches Verhalten paradoxe Reaktionen erfordert. Da ich jetzt hier nicht ein heilpädagogisches Studium kurz vermitteln kann, sollte uns zumindest klar werden, dass gerade in der Zusammenarbeit mit Menschen mit schwierigem Verhalten eine vorschnelle Beurteilung nicht zusteht.

    Bei solchen doch auch in die körperliche Unversehrtheit gehenden Methoden wäre aber angebracht, zu untersuchen, ob ein Teamgespräch unter fachlicher Leitung stattfand, das dieses Verhalten legitimiert.

     

    Aber vielleicht hat die Betreuerin auch gar keine Lust gehabt, die Bewohnerin wie ein Objekt aus dem Lehrbuch zu betrachten und einfach nur (evtl. unangemessenen) rumgealbert mit der Bewohnerin. Und hat sie daher wie einen Freund, einen Menschen behandelt und nicht wie ein wehrloses Objekt, das von morgens bis abends behütet werden muss.

     

    Ich schreibe das nur, weil hier in den Kommentaren auch Sachen wie Schlagen in Altenheimen u,ä, als vergleichbare Beispiele genannt werden. Und das hat hier nicht stattgefunden.

    • @Age Krüger:

      Als jemand der selbst schon oft genug auf "Bewohnern" gelegen hat, finde ich viele der hier gezeigten Aktionen einfach falsch und absolut respektlos. Auch wenn ich zustimmen muss, dass viele Situationen für Außenstehende befremdlich wirken und auch manche Klienten bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen um eine bestimmte Konsequenz zu erzwingen. Trotz allem gibt es immer wieder einzelne Mitarbeiter die ihre Machtposition gegenüber den Bewohnern ausnutzen. Wenn das dann ein Gruppenleiter ist, wird es wirklich schwierig...

  • Solche Vorfälle haben wir auch immer wieder in der Altenpflege. In beiden Fällen haben wir es mit Menschen zu tun, die geistig nicht in der Lage sind sich an anderer Stelle zu beschweren.

     

    Ja, der Einzelne darf für seine Taten nicht aus der Verantwortung genommen werden. Ich meinte mit der Überforderung aber in erster Linie die negative Auslese. Wer mit den zu hohen nummerischen Anforderungen nicht klarkommt brennt aus und wechselt den Job. Es bleiben mehr Leute übrig, die sich an den Betreuten abreagieren.

     

    Das ist ein strukturelles Problem. Hat man weniger Menschen pro Betreuer ist die Wahrscheinlichkeit einfach höher, dass es auch Leute tun, die dafür geeignet sind und auch dauerhaft geeignet bleiben.

     

    Sicher wir es solche Probleme trotzdem immer geben. Allerdings ist die momentane Situation so außerhalb von Gut und Böse, dass Menschen teilweise Suizid begehen, nur um nicht ins Heim zu müssen.

     

    Da können sich die Firmen noch so oft selbst entschuldigen. Sie werden es nicht kontrollieren können, weil gut und günstig eben nur in der Werbung funktioniert. Insofern werden da nur eine Begrenzung der Anzahl pro Mitarbeiter und eine vernünftige Entlohnung helfen.

     

    Anderes Beispiel in der negativen Auslese: Wenn ich einem Verkäufer von Verträgen/Versicherungen zu hohe monatliche Verkaufszahlen abverlange, steigt der Anteil der Betrüger.

    • @Reinhold:

      stimme ich zu

  • Sehr deprimierend und frustrierend sich solche Bilder anzuschauen. Dennoch finde ich die Thematisierung sehr wichtig. In der Behindertenhilfe krankt es an vielen Ecken und Enden.

    Teilweise wird einfach kein vernünftiges Personal gefunden und irgendwann wird halt eingestellt was da ist. Oft haben die MA unpassende Qualifikationen. Um Einsparungen zu machen, werden FSJ-ler und Praktikanten als volle Arbeitskräfte eingesetzt. Hier wird die Überforderung besonders schnell in Frustration umgemünzt.

     

    Ein weiteres großes Problem ist eine in vielen Einrichtungen nicht vorhandene Pausenregelung. Das klassische Rauchen im Garten und dabei möglichst Ruhe von der Arbeit finden ist einfach Gift für die Beziehung zwischen Betreuer und Betreuten. Jeden Tag wird zwangsweise die Pause abgezogen ohne, dass diese wirklich stattfindet. So entstehen Situationen in der MA nur auf stand-by-Modus sind. Die Mitarbeiter bekommen dadurch möglicherweise das Gefühl verfolgt zu werden. Ein unguter Zustand für beide Seiten.

    Desweiteren herrscht ein gewisser Grad an systemischer Gewalt, da zum Beispiel ein Betreuer zu Stoßzeiten (auch bei gutem Betreuungsschlüssel) sich nicht um alle gleichzeitig kümmern kann.

     

    u.s.w., kurz:

     

    - einige Dinge müssten dringend von der Führungsebene angeganen werden

    - Arbeitsplätze müssten atraktiver sein, damit man nicht jede Pfeife einstellen muss

    - manche Menschen sind für die Arbeit mit anderen Menschen nicht geeignet und das sollte auch offen Thematisiert werden

    - ...

  • Ich glaube, dass solche Situationen, wie die hier gezeigten, wesentlich häufiger passieren, als uns lieb ist. Sei es in Krankenhäusern, Heimen, oder sonstigen Einrichtungen in denen Menschen mit diversen Behinderungsformen leben, arbeiten oder auch nur temporär untergebracht sind.

     

    Gerade Einrichtungen sind häufig "geschlossene Systeme", in denen es kaum Zeugen gibt, Anverwandte teilweise auch regelrecht bedroht werden (mehrfach geschildert bekommen) und Kontrollen selten ohne Anmeldung passieren.

     

    So lange ein Klima des Desinteresses von Aussen und eines der Angst von innen ("Wenn ich was sage, wird es meiner/-m Mutter, Vater etc. schlechter gehen", "Wenn ich etwas sage, wird er nur noch mehr zuschlagen, wenn er sich unbeobachtet weiss") vorherrschen kann, wird sich das auch nicht ändern. Warum auch?

  • Wie war das doch gleich mal mit dem Grungesetz Artikel 1 ?

     

    Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

     

    man gewinnt immer mehr den Eindruck das in dem Land hier, fast alles mit Füßen getreten wird.

    • 3G
      33523 (Profil gelöscht)
      @Tor:

      "man gewinnt immer mehr den Eindruck das in dem Land hier, fast alles mit Füßen getreten wird."

       

      Nicht immer aufs Kollektiv ausweichen!

       

      Das sind einfach schlechte Menschen und die gibt es überall. Das nun ein paar Menschen als solche enttarnt wurden die in sozialen Berufen arbeiten mag unüblich sein aber das liegt sicher nicht daran das es dort weniger schlechte Menschen gibt als anderso, sondern daran das die Menschen lieber ihre Klischets über Bankster und Co. bestätigt sehen wollen.

  • Man kann sich nicht selbst entschuldigen. Höchstens kann man um Entschuldigung bitten. Bitte die Überschrift korrigieren: "Die Einrichtungen meinen sich selbst entschuldigen zu können".

     

    Ansonsten ist es eine Aufgabe für den Gesetzgeber. Man muss das Verhältnis zwischen der Anzahl der Betreuer und der Betrueten verbindlich festschreiben. Gilt auch für die Alteneinrichtungen. Ansonsten ergeben sich solche Missstände allein schon aus der Überforderung heraus.

    • @Reinhold:

      Bei Ihrem ersten Abschnitt: meine volle Zustimmung.

       

      Beim zweiten: Auch wenn es Missstände in der Pflege gibt, was auch auf die Anzahl der Betreuer zurückzuführen ist, erscheint mir Ihr Kommentar zynisch: Zunächst ist es die Aufgabe der Pfleger, dass zu leisten, was möglich ist. Keiner der im Artikel geschilderten Vorfälle erscheint mir auf Überforderung zurückzuführen zu sein, sondern auf bloße Gemeinheit. Weder das sitzen auf einer Person, noch der Kommentar über den Joghurt, noch das Rauchen, während eine Person Hilfe braucht, erscheint mir notwendig gewesen. Die ersten beiden Fälle zeigen eher, dass zu viel Zeit da ist, wenn für solche Gemeinheiten Zeit bleibt.

      • @Strolch:

        Zumindest das Rauchen auf dem Balkon hat was damit zu tun.

        Sie können ihre halbstündige Pause auch auf dem Balkon machen während einer 10h-Schicht. Wenn Sie nicht anwesend sind und ihre Pause draußen machen, kann der Mensch auch nicht auf Toilette.

         

        Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass man mit der vorgeschriebenen Arbeitszeit nicht mehr wie satt, sicher, sauber erreicht. Empathie bleibt dann auf der Strecke.

      • @Strolch:

        Eine Überforderung muss nicht mit dem Arbeitspensum zu tun haben, es reicht eine emotionale Überforderung. Ich sehe hier eindeutige Empathiedefizite und offensichtlich wollen oder können die Mitarbeiter*innen ihrem Arbeitsauftrag nicht nachkommen.

  • Ob das Team Wallraff früher hätte informieren sollen, ist vermutlich eine nicht beantwortbare Frage.

     

    Früher informieren bedeutet, über ganz wenige Einzelfälle zu informieren. Die Reaktion darauf wird erwartungsgemäß sein "es sind nur bedauerliche Einzelfälle, und wir haben sofort für Abhilfe gesorgt".

     

    Zunächst abwarten und weiter recherchieren ist schlimm für die einzelnen Betroffenen. Jedoch dürfte dies die einzige Möglichkeit sein, Fälle aufzudecken und nachzuweisen, die keineswegs Einzelfälle sind.

     

    Ein gleiches Dilemma zeigt sich in vielen "normalen" Pflegeeinrichtungen: Skandale ohne Ende, aber "immer nur bedauerliche Einzelfälle".

     

    Das wirkliche Problem liegt an anderer Stelle und hat mit dem Arbeitsmarkt zu tun. Wo arbeitgeberseitig der Grundsatz "so billig wie möglich, Charakter egal" gilt, und arbeitnehmerseitig "Hauptsache ein Job, Frust abladen beliebig", da ist das gesamte System marode.

  • 9G
    970 (Profil gelöscht)

    Noch ein Beweis, dass diese Einrichtungen nur eins gehören: abgeschafft. Es gibt so viel bessere Modelle für ein selbstbestimmtes Leben.

    • @970 (Profil gelöscht):

      Es gibt sicher viele (auch bessere) Modelle...aber grundsätzlich eine Einrichtungsform abzuschaffen hilft erstmal niemanden!

      • @ratzeputz:

        Kleinere Wohneinheiten, wäre schon ein weiterer wichtiger Schritt. Ganz ohne Einrichtungen wird es meiner Meinung nach nie gehn. Aber einiges könnte eingeäschert werden...