Umzug durch Berlin am Samstag: Ein Karneval der Flüchtlinge
10.000 Flüchtlinge wollen am Samstag mit dem Slogan „Wir haben keine Wahl, aber eine Stimme“ auch für den Familiennachzug demonstrieren.
Lange wurde das Thema im Wahlkampf umschifft, gegen Ende spielt es eine immer wichtigere Rolle: die Flüchtlingspolitik. Mit einer großen Parade wollen Dutzende antirassistischer Gruppen am Samstag in Berlin daran erinnern, wie sehr das Asylrecht in der letzten Legislaturperiode bereits eingeschränkt wurde – und wie viel gesellschaftliche Solidarität es gleichzeitig für Flüchtlinge gibt.
„Wir wollen die Angst verschwinden lassen“, sagt Samee Ullah aus Pakistan. Er ist der Anmelder der „We’ll Come United“-Parade, zu der die Veranstalter 10.000 Menschen erwarten. Es sei vor allem die Angst vor Abschiebung, die viele Flüchtlinge in Deutschland in diesen Monaten beschäftige. Viele hätte sich hier ein Leben aufgebaut, dürften „aber nicht Teil dieser Gesellschaft sein.“ Selbst anerkannte Flüchtlinge dürften oft nicht wählen, teils jahrzehntelang, klagt Ullah. „Aber die Gesetze betreffen uns alle. Deswegen nehmen wir uns die Straße.“
Eine der wichtigsten Forderungen der Parade sei, dass Menschen, die seit Jahren hier leben, endlich ihre Familie nachholen dürfen, sagt Ullah. Genau das hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) kürzlich ebenso abgelehnt wie der mögliche Koalitionspartner FDP. „Wir haben keine Wahl, aber eine Stimme“, sagt Ullah, das sei das Motto für die Parade.
Mit genau demselben Slogan – „We have no vote, but a voice“ – waren Flüchtlinge schon vor der Bundestagswahl 1998 durch 60 Städte gezogen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Diese erste größere Aktion der Flüchtlingsbewegung blieb damals freilich völlig unbeachtet von der Öffentlichkeit. Das soll diesmal anders werden. 19 große Motiv-Lkws aus ganz Deutschland sind angekündigt, allein 3.000 Tickets für Bus- und Zugfahrten nach Berlin seien verkauft. Es wird ein Karneval der Flüchtlinge.
Die Veranstalter der Parade wiesen darauf hin, dass es keine Verbindungen zum „Refugee Club Impulse“ gibt. Diese Gruppe hatte sich im April 2016 an der Organisation eines Flüchtlingskarnevals beteiligt und war wegen antisemitischer Positionen kritisiert worden. Diese Gruppe sei in diesem Jahr „überhaupt nicht beteiligt“, hieß es von den Veranstaltern. „Wir stehen auch gegen Antisemitismus“, sagt Ullah.
Die Parade der Flüchtlinge beginnt am Mittag vor dem Bundesinnenministerium in Moabit.
Im Laufe des Nachmittags ziehen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch das Regierungsviertel und weiter bis zum Oranienplatz in Kreuzberg.
Erwartet werden bis zu 10.000 Menschen.
Im vergangenen Jahr im März waren ebenfalls Tausende zu einem „Karneval der Geflüchteten“ gegen eine „ausgrenzende Flüchtlingspolitik“ auf die Straße gegangen. Aufgerufen dazu hatte ein breites Bündnis unter anderem von Kulturschaffenden unter dem Motto „My right is your right!“ (taz)
Nach dem Sommer der Migration wurden fast ein Dutzend Gesetze und Bestimmungen des Asyl- und Migrationsrechts geändert. „Es geht nur noch um Abschottung und Abschreckung, wir wollen jetzt ein starkes Zeichen dagegen setzen“, sagt Nevroz Duman von der Gruppe „Welcome2Europe“ aus Hanau. Der Zeitpunkt ist aber nicht allein der Wahl geschuldet. Vor zwei Jahren marschierten Tausende Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich und reisten weiter in andere europäische Länder, vor allem nach Deutschland. Das Dublin-System brach zusammen. „Wir wollen an diese Zeit, in der die Grenzen überwunden wurden, erinnern“, sagt Duman.
Mittelfristig möchte die Flüchtlingsbewegung das Datum als politischen Gedenktag etablieren. Schließlich habe es in jener Zeit auch „Millionen Menschen gegeben, die sich mit Geflüchteten solidarisiert haben, und davon ist was geblieben“, sagt Duman. In vielen Städten in Deutschland seien Solidaritätsinitiativen entstanden, die nun mit den Folgen der Asylrechtsverschärfungen zu kämpfen hätten. Gleichzeitig werde heute immer offensiver gegen Flüchtlinge vorgegangen, an den europäischen Außengrenzen und jenseits davon. „Wir werden uns nicht daran gewöhnen, was vor unseren Augen passiert und zur Normalität erklärt wird“, sagt Duman.
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