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Umstrittenes britisches Brexit-GesetzWas steht im Gesetzentwurf?

Der Entwurf eines neuen britischen Binnenmarktgesetzes stößt auf Kritik, weil er dem Nordirland-Teil des Brexit-Abkommens widerspricht. Eine Analyse.

Protest gegen den Brexit am Grenzübergang zu Nordirland in Carrickcarnon am 30. März 2019 Foto: Clodagh Kilcoyne/reuters

Berlin taz | Die britische Regierung hat den Wortlaut ihres Entwurfs für ein neues Binnenmarktgesetz veröffentlicht, das seit zwei Tagen die Verhandlungen mit der EU über ein Handelsabkommen zu torpedieren droht. Seit Nordirlandminister Brandon Lewis am Dienstag im Parlament eingestand, dass das Gesetzesvorhaben internationales Recht bricht, herrscht große Aufregung in Brüssel, Dublin sowie in London selbst, dass Großbritannien gedenke, das bestehende Brexit-Abkommen mit der EU zukünftig zu ignorieren.

Die genaue Lektüre des Gesetzentwurfs macht deutlich, worum es geht. Ziel des Gesetzes ist die Regelung des freien Verkehrs von Waren und Dienstleistungen im gesamten Vereinigten Königreich – also Großbritannien und Nordirland – unter Berücksichtigung des Nordirland-Protokolls des Brexit-Abkommens, das bis zuletzt der größte Stolperstein der Brexit-Verhandlungen gewesen war.

Der Gesetzentwurf setzt einzelne Klauseln dieses Protokolls außer Kraft: in Bezug auf EU-Ausfuhrkontrollen auf Warenströme aus Nordirland nach Großbritannien sowie EU-Genehmigungen für britische Staatsbeihilfen mit Auswirkung auf Nordirland.

Das Nordirland-Protokoll, das im Oktober 2019 von Premierminister Boris Johnson neu verhandelt worden war, erklärt Nordirland zum Bestandteil des britischen Zollgebietes und nicht der EU-Zollunion. Die dadurch eventuell fälligen Zollkontrollen für Güterverkehr zwischen Nordirland und der zur EU gehörenden Republik Irland werden aber nicht an der inneririschen Grenze vorgenommen – die bleibt offen und unsichtbar –, sondern schon vorher: entweder in Nordirland selbst oder bevor britische Güter für die irische Insel Großbritannien verlassen.

Streitpunkt Warenverkehr Nordirland – Großbritannien

Waren, die von Großbritannien nach Nordirland unterwegs sind, müssen demnach nach EU-Regeln verzollt werden, sofern ein „Risiko“ besteht, dass sie in der Republik Irland und damit in der EU enden. Ob dieses Risiko besteht, entscheidet das Joint Committee aus Großbritannien und EU, das die Einhaltung des Brexit-Abkommens überwacht. Dies wird auch im neuen Gesetzentwurf nicht angetastet.

Verändert werden soll hingegen die Regelung für Warenverkehr in die umgekehrte Richtung, also aus Nordirland nach Großbritannien. Hier geht es vorrangig um Warenverkehr, der komplett außerhalb der EU stattfindet und zu dem die EU daher aus britischer Sicht nichts zu sagen hat. Doch falls darunter auch irische Exportgüter für den britischen Markt sind, findet laut Artikel 6 des Protokolls auch hier das EU-Zollregime Anwendung.

Der neue britischen Gesetzentwurf schafft dies nun im Namen des reibungslosen Funktionieren des britischen Binnenmarktes ab. Artikel 41 verbietet die Einführung bisher nicht existierender Kontrollen auf Waren, die aus Nordirland nach Großbritannien kommen, außer wenn dies nötig ist, um Verpflichtungen nach Artikel 6 des Nordirland-Protokolls einzuhalten. Wenn diese Verpflichtungen aber entfallen, sind auch diese neuen Kontrollen nicht mehr erlaubt – und laut Artikel 45 entfallen sie.

Artikel 45 führt das Funktionieren der Artikel 42 und 43 des Gesetzestextes aus. Diese behandeln Ausfuhrkontrollen aus Nordirland nach Großbritannien sowie staatliche Beihilfen in Nordirland. Laut Artikel 42 ist es die britische Regierung, die die Regeln über den Güterverkehr von Nordirland nach Großbritannien erlässt – und das „kann beinhalten, dass Rechte, Ermächtigungen, Einschränkungen, Verpflichtungen, Restriktionen, Lösungen und Prozeduren, die ansonsten als Ergebnis relevanter internationaler oder nationaler Gesetzgebung Anwendung fänden, nicht anerkannt, angewandt, ausgeführt, zugelassen oder eingehalten werden.“

Entmachtung der Gerichte

Eine gleichlautende Regelung wie Artikel 42 für den Warenverkehr aus Nordirland nach Großbritannien trifft Artikel 43 für britische Staatsbeihilfen mit Nordirland-Bezug. Hier gibt sich die Regierung das Recht auf alleinige Auslegung und Anwendung des Artikels 10 des Nordirland-Protokolls, wonach das EU-Beihilferecht für Nordirlands Landwirtschaft weiter gilt. Durch den neuen Gesetzestext muss die britische Regierung diese Bestimmung nicht mehr „im Einklang mit EU-Gesetzgebung“ auslegen und anwenden. Sie darf ebenso wie im Artikel 42 „relevante nationale und internationale Gesetzgebung“ ignorieren, kann also entscheiden, die EU außen vor zu lassen.

Artikel 45 präzisiert: Zur „relevanten internationalen oder nationalen Gesetzgebung“ gehören sämtliche Brexit-Abkommen und britische Brexit-Folgegesetze sowie „jede andere Gesetzgebung, Konvention oder Regelung internationalen oder nationalen Rechts, welches auch immer, einschließlich jede Anordnung, Urteil oder Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs oder jedes anderen Gerichts“.

Sollte das Gesetz werden, wären damit nicht nur der Europäische Gerichtshof, sondern auch das oberste Gericht Großbritanniens machtlos. Damit das auch jeder versteht, führt Artikel 45 unmissverständlich aus, dass Artikel 42 und 43 und alle darauf basierenden Bestimmungen „nicht aufgrund von Unvereinbarkeit oder Unstimmigkeit mit relevanter internationaler oder nationaler Gesetzgebung als ungesetzlich erachtet werden dürfen“.

Dieses auf zwei Bereiche beschränkte Aushebeln des Brexit-Deals hatte Nordirlandminister Lewis im Parlament am Dienstag als lediglich „spezifischen und begrenzten“ Rechtsbruch bezeichnet. Großbritanniens Regierung rechtfertigt ihr Vorhaben mit Artikel 6 des Nordirland-Protokolls: „Nichts in diesem Protokoll soll das Vereinigte Königreich daran hindern, ungehinderten Marktzugang für Güter zu gewährleisten, die aus Nordirland in andere Teilen des Binnenmarktes des Vereinigten Königreiches bewegt werden.“ Die möglichen Beschränkungen seitens der EU, die mit dem neuen Gesetzentwurf wegfallen sollen, seien im Lichte dieses Satzes selbst ein Bruch des Protokolls, lautet eine Argumentation in Verteidigung des neuen Entwurfs.

Großbritannien auf Konfrontationskurs

Gesprochen wird auch von der Notwendigkeit, den freien Warenverkehr zwischen Nordirland und Großbritannien und die volle britische Souveränität über Nordirland auch im Falle eines Scheiterns der laufenden Handelsgespräche mit der EU sicherzustellen. Da das Nordirland-Protokoll des Brexit-Abkommens der EU eine wichtige Rolle in Nordirlands Wirtschaft einräumt, wird gefürchtet, dass Brüssel dies als Druckmittel nutzen könnte. „Wir unternehmen begrenzte und vernünftige Schritte unter außergewöhnlichen Umständen“, heißt es aus 10 Downing Street.

Dennoch fragen sich Kritiker nicht zuletzt in Irland, warum Großbritannien mit einem Gesetzestext voller sehr weitreichender, juristisch leicht anfechtbarer Formulierungen auf maximalen Konfrontationskurs geht. Die Klausel, wonach Gerichtsentscheidungen zum Thema ignoriert werden dürfen, ist vermutlich selbst ungesetzlich und dürfte von britischen Gerichten niedergeschlagen werden, sollte sie je das Parlament passieren. „Man sieht, warum Jonathan Jones (der Chefjurist der Regierung) zurückgetreten ist“, kommentiert Peter Foster – der Journalist der Financial Times, dessen Exklusivgeschichte über das Gesetzesvorhaben am Montag seither die Debatte bestimmt – den Gesetzestext.

Juraprofessor Steven Peers, Spezialist für EU-Recht, wies bereits vor Monaten auf seinem Blog darauf hin, dass der Brexit-Deal umfassende Schlichtungsmechanismen für den Streitfall enthält und dass ein Vertrag nicht einfach außer Kraft gesetzt werden kann, auch nicht in einzelnen Teilen.

Zum neuen Gesetzestext mahnt Peers: „Der Entwurf wird erst Gesetz, wenn das Parlament ihn verabschiedet hat.“ Selbst für den Fall, das das Unterhaus ihn mit seiner großen konservativen Regierungsmehrheit passieren lässt, könnte das Oberhaus – in dem die Konservativen keine Mehrheit haben – ihn für bis zu einem Jahr aufhalten. Bis dahin dürfte sich die Brexit-Situation bereits grundlegend geändert haben, da Ende 2020 die geltende Übergangsfrist nach dem britischen EU-Austritt ausläuft und danach entweder ein Handelsabkommen zwischen London und Brüssel in Kraft ist oder die Regelungen der Welthandelsorganisation WTO gelten.

Das Gesetzesvorhaben dürfte aber bereits im Unterhaus für Zerwürfnisse sorgen. Schon am Dienstag hatte Expremierministerin Theresa May die Regierung gefragt, wie sie denn unter diesen Voraussetzungen Vertrauen mit internationalen Partnern herstellen wolle. Die Kritik bei der Opposition ist ohnehin einhellig, und auch in konservativen Reihen, gerade im auf den Respekt für bestehende Institutionen und Konventionen pochenden Establishment, ist sie seitdem eher größer geworden.

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5 Kommentare

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  • BoJos Gedanken: Ich führe mal eben die Poligamie und die Todesstrafe ein. Die EU ist dagegen, ergo, die EU ist schuld am Brexit.

  • Dank für einen Artikel, der nicht einfach meckert, sonder erläutert, was die britische Regierung genau plant.

  • Bojo will den No-Deal und es der EU in die Schuhe schieben. Deshalb ist es auch egal wie anfechtbar das Gesetz juristisch ist. Die europäischen Unterhändler sollen hinschmeißen, weil es sinnlos ist Verträge auszuhandeln, an die sich der Partner nicht gebunden fühlt.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    Ob die hardline Brexit Fraktion der britischen Regierung, nachdem Boris Johnson das Withdrawl agreement (WA) rechtskräftig unterzeichnet hat und Westminster, als auch das Europäische Parlament, den Vertrag abgesegnet haben, diesen oder Teile dieser Gesetzgebung brechen darf, der dann weder der britischen noch der europäischen Gesetzgebung unterstehen würde -- darf bezweifelt werden.

    Klar wird was die Brexiteers wollen: Sie wollen sich außerhalb der europäischen Gesetzgebung bewegen (das ist eh klar nach dem Austritt des Königreiches aus der EU) - aber Überraschung - Brexiteers möchten Ihre eigene persönliche Gesetzgebung auch NICHT den geltenden Gesetzen im Vereinigten Königreich unterstellen.

    Nach einem durchgesickerten Rechtsgutachten der EU haben die Brexiteers bereits gegen den rechtsgültigen Austrittsvertrag verstossen (siehe Artikel 5, Treu und Glauben-Verpflichtung) da die sogenannte ""internal market bill"" von Boris Johnson die Erreichung der Ziele des Austrittsabkommens gefährdet.

    Die EU Kommission hat den 27 EU-Hauptstädten bereits mitgeteilt, dass es daher Gründe gibt, dass die EU vor Ablauf der Übergangszeit (bis zum 31.12.2020) „Rechtsmittel“ beim Europäischen Gerichtshof einlegt, was zu erheblichen Geldbußen und/ oder zu Handelssanktionen gegen UK führen wird.

    Die Dramatik der Abläufe wurden im Zusammenhang mit der Reise eines Spitzenbeamten der Europäischen Kommission nach London bekannt, der zu einem Notgespräch Michael Gove in Großbritannien aufsucht.

    Klartext:

    Boris Johnson bereitet mit dem Eklat des Vertragsbruches den No - Deal vor. Die britische Regierung möchte anscheinend (danach sieht es zu 95% aus) keinen Handelsvertrag mit der EU. Das ist die Botschaft des ""internen britischen market bills", welcher auch in Schottland, in Nord-Irland und -- man höre und staune -- auch in Wales auf gewaltigen Widerstand stösst.

  • Verschwurbelte Texte gehören ja zur Justiz. Doch BoJo toppt alle. Selbst Gerichtsurteile sind jetzt ohne Weiteres auszuschalten, da sie „nicht aufgrund von Unvereinbarkeit oder Unstimmigkeit mit relevanter internationaler oder nationaler Gesetzgebung als ungesetzlich erachtet werden dürfen“. Man beachte das Wort "nicht"!