Berliner Gericht zu Schmerzgriffen: Schmerzhaft für die Polizei
Das Berliner Verwaltungsgericht hat es der Polizei nun erstmals bescheinigt: Schmerzgriffe gegen einen Aktivisten der Letzten Generation waren rechtswidrig.
Zwar blieb eine grundsätzliche Klärung aus, ob das umstrittene Mittel, das Kritiker:innen als Folter bezeichnen, überhaupt zulässig ist. Dennoch könnte das Verwaltungsgerichtsurteil über den Einzelfall hinaus Wirkung entfalten. Das ist zumindest die Hoffnung des betroffenen Klägers und Aktivisten Lars Ritter und seines Anwalts Patrick Heinemann sowie von Bürgerrechtsorganisationen wie der Gesellschaft für Freiheitsrechte, die die Klage unterstützte. Heinemann sagte der taz, das Urteil habe eine grundsätzliche Bedeutung und werde, so seine Hoffnung „die Praxis der Polizei ändern“. Es gebe viele vergleichbare Fälle.
Bei Schmerzgriffen handelt es sich um Nervendruck- oder Hebeltechniken. Sie werden eingesetzt, um Betroffene polizeilicher Maßnahmen zu Handlungen, etwa der Aufgabe von Blockaden, zu zwingen – zumindest mittelbar. Im englischen werden sie als „pain compliance“ bezeichnet – es geht also darum, durch Schmerzen Gehorsam durchzusetzen. Die Techniken, oftmals dem Kampfsport entlehnt, sind in den Polizeigesetzen der Länder nicht geregelt, aber in den vergangenen Jahren immer üblicher geworden – vor allem auch bei der Berliner Polizei, so Heinemann. Grundsätzliche Urteile zur Rechtmäßigkeit gibt es bislang keine.
Der damals 20-jährige Lars Ritter hatte sich am Morgen des 20. April 2023 an einem Protestmarsch von etwa 35 Aktivist:innen der Letzten Generation auf der Straße des 17. Juni beteiligt, der dann in einer Sitzblockade mündete. Er gehörte zu den letzten noch nicht geräumten Blockierern. Videos des Vorfalls zeigen, wie ein Polizist Ritter nach Auflösung der Versammlung auffordert, die Fahrbahn zu verlassen und dabei droht, wenn er nicht freiwillig aufstehe, würde er tagelang nicht kauen und schlucken können.
Mildere Mittel hätten zur Verfügung gestanden
Schließlich wurde bei Ritter zunächst ein Griff am Kiefer angewendet, dann der rechte Arm nach hinten verdreht, ehe er letztlich mithilfe eines dritten Polizisten von der Straße getragen wurde. Ritter schrie vor Schmerzen; im Nachhinein klagte er über Muskelverspannungen in der Schulter.
Die entscheidende Frage, die der Richter verhandelte, war jene, ob der Polizei ein alternatives, milderes Mittel zur Verfügung gestanden habe. Aufgrund der gut dokumentierten Situation war dies recht deutlich: Die bereits Geräumten standen friedlich am Straßenrand, die Fahrbahn war durch mehrere Polizeifahrzeuge abgesperrt, in unmittelbarer Nähe der Räumung von Ritter standen drei augenscheinlich unbeschäftigte Polizisten. Auch habe sich Ritter nicht gewehrt, sondern die Maßnahmen passiv ertragen, wie der Richter feststellte. Ein Verfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte wurde nicht gegen ihn eingeleitet.
Die Vertreter der Polizei argumentierten vor Gericht, die in der Nähe postierten Polizist:innen hätten andere Aufgaben zu erfüllen gehabt. Das Wegtragen sei mit der Gefahr schwerer Verletzungen für die Polizisten verbunden. Den Richter überzeugte das nicht. Letzteres wäre nur dann der Fall, wenn der Blockierer ein „besonders hohes Körpergewicht“ hätte, was nicht der Fall sei. „Die Polizei hätte den unmittelbaren Zwang auf andere Weise vollziehen können“, so der Richter.
Zwar äußerte Peters in seinem Urteilsspruch „im Grundsatz keinen Zweifel“, dass Schmerzgriffe generell zulässig sein können, aber das wurde in diesem Prozess nicht grundsätzlich geklärt. Die Gesellschaft für Freiheitsrechts hatte im Vorfeld mitgeteilt: „Der Einsatz von körperlicher Gewalt und Schmerzen gehört zu den massivsten denkbaren Grundrechtseingriffen, die nur in absoluten Ausnahmesituationen zulässig sein können – nicht im Rahmen von friedlichem Protest.“ Schmerzgriffe könnten als „erniedrigende und unmenschliche Behandlung auch das menschenrechtliche Folterverbot verletzen“.
Womöglich wird sich schon bald ein Gericht mit dieser Grundsatzfrage beschäftigen. Laut Anwälten des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins gibt es vergleichbare Fälle, in denen die Unverhältnismäßigkeit weniger offensichtlich sei. Ein Gericht müsse dann also klären, ob Schmerzgriffe generell zulässig seien oder nicht.
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